«One World is not enough»
Thomas Oberender im Gespräch mit Carl Hegemann über Botho Strauß
Der Band erschien als Begleitpublikation zur Inszenierung des Stücks «Groß und klein» von Botho Strauß durch Frank Castorf, die am 5.3. 2005 Premiere hatte in der Volksbühne Berlin.
Er enthält den Aufsatz «Once Upon a Time in the West» von Botho Strauß, ein Gespräch zwischen Thomas Oberender und Carl Hegemann über Strauß sowie einen Text von Carl Hegemann über den Dichter.
«Groß und klein» ist einer der letzten modernen Klassiker, der sich tief in das Alltagsleben der Bundesrepublik in einer Zeit versenkt, als diese, herausgefordert durch die RAF, ihre schwerste Krise durchmachte, die im Stück übrigens mit keinem Wort erwähnt wird. Ein Stationendrama über den deutschen Westen in der Phase seines beginnenden Verfalls. Lotte, die arbeitslose von ihrem Mann rausgeschmissene Hauptfigur, an der Volksbühne gespielt von Kathrin Angerer, möchte gebraucht werden, ist aber überall und für alle zuviel. Zutiefst verunsichert kommt sie zu dem radikalen Schluss, dass alles, was sie denkt, nur falsch sein kann: «So sag ich denn zu allem was ich denke: nein!» Aber dieser Satz führt nicht zur Selbstauslöschung, sondern zu einem kreativen Sprung, einer religiösen Erleuchtung. Sie ist eine der 36 Gerechten, die es nach jüdischer Überlieferung in jeder Generation gibt und die die Welt vor dem Untergang bewahren. Diese Bestimmung treibt sie erst recht in die Isolation, aber ihr desolater Zustand bekommt einen Sinn. Für den Psychiater wäre es eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. In Lottes Welt ist es die Gnade Gottes, der ihr die Verantwortung für das Weiterbestehen der Menschheit übergeben hat. «Groß und klein» ist auch eine moderne Heiligenlegende. Der Einbruch religiöser Erklärungsmuster in die säkularisierte Welt führt zur Entlastung des überforderten Ichs. Nach wie vor liefert Botho Strauß damit einen Beitrag zur Geschichte des Kapitalismus, zwischen Depression und Regression.
«Eine Welt ist nicht genug»
Ein Gespräch von Carl Hegemann mit Thomas Oberender
Zu Botho Strauß Stück «Groß und klein»
Carl Hegemann: Du hast zum sechzigsten Geburtstag von Botho Strauß das famose Buch «Unüberwindliche Nähe» mit Texten über ihn herausgegeben und du hast über Botho Strauß promoviert. Und das, obwohl du im Osten aufgewachsen bist und die Anfänge von Botho Strauß nicht live miterlebt haben kannst. Was interessiert einen jungen Mann mit Ostsozialisation an Botho Strauß?
Thomas Oberender: Der erste Text, den ich über Botho Strauß schrieb, war ein Text über «Groß und Klein». Ein ehemaliger Regieassistent der Westberliner Schaubühne, der nach dem Fall der Mauer eine Regie-Karriere im Osten machte, inszenierte in Weimar Anfang der Neunziger «Groß und Klein» und fragte mich, ob ich nicht als Ostdeutscher etwas über das Stück und meine Sichtweise auf den Autor schreiben könnte. Heute würde ich sagen: Man sah in diesen damals schon «alten» Texten sehr früh, was oder wie wir in Kürze werden. Mit «wir» meine ich die Ostdeutschen, eine Gesellschaft im Umbruch. Was «wir», das ist ja auch ein schwieriges Wort in dem Zusammenhang, im gesellschaftlichen Schnelldurchlauf durchlebten, war über weite Teile ein Art Nachholbewegung von Entwicklungen, die im Westen längst Geschichte waren. Andererseits widerholt sich Geschichte ja nie wirklich. Meine Diplomarbeit widmete sich übrigens nicht dem Dramatiker, sondern dem Kritiker Strauß, d.h. seinen großen Saisonüberblick-Essays, die er für »theater heute« schrieb. Das waren, in der naiven Situation damals, wunderbare Einführungen in die Theatergeschichte der Bundesrepublik und auch in ihre politische- und Mentalitätsgeschichte.
CH: Wofür Strauß sicher ein Kronzeuge ist. Sein Text «Versuch ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken» aus dem Jahr 1970 bewegt sich klar in einem linksradikalen Kontext.
TO: Linksradikal würde ich nicht sagen. Dafür war Strauß immer zu unorthodox. Adorno hinterließ eine frühe Prägung, die Zeit von »theater heute« fiel aber schon zusammen mit seiner Entdeckung der Schriften von Foucault und Levi-Strauss, also des Strukturalismus.
CH: Die linksradikale Bewegung bildete sich ja gerade etwas auf ihren unorthodoxen Charakter ein. Natürlich war Strauß kein dogmatischer Kommunist oder K-Gruppler. Aber er gehörte zur undogmatischen Linken und Wörter wie Revolution oder qualitative Gesellschaftsveränderung tauchen bei ihm ganz selbstverständlich auf. Ich glaube, er hat damals einem materialistischen Ansatz gehuldigt, der mit Adorno wie mit Foucault kompatibel zu sein schien. Allerdings zeigt sich in den »theater heute«-Essays schon, daß er diesen merkwürdigen Ehrgeiz hat, besser und genauer, auch distanzierter als die übrigen Genossen zu schreiben. Aber er bewertet tatsächlich die einzelnen Theaterstücke, die er untersucht, unter dem Gesichtspunkt inwiefern sie für den Klassenkampf verwendbar sind. Das hat mich ziemlich erstaunt.
TO: Es ging um den Versuch einer «Revolution des Bewusstseins».
CH: Einer Kulturrevolution, wie man gerne sagte.
TO: Er hat sich weniger für Veränderung der politischen Verhältnisse interessiert, was dann doch eher das Projekt der RAF war, sondern für die Veränderung einer Mentalität. Was Strauß bis in die Gegenwart beschäftigt, ist der Ursprung der Bundesrepublik - aber auch der alten DDR - im Untergang des Dritten Reichs. Jede Art von Selbstbewußtsein blieb in Deutschland eine Art negative Reaktion auf «Hitler». Es gibt kein nationalgeschichtliches «davor», das nach Hitler weiter auf positive Weise brauchbar wäre. Insofern hört der Krieg nicht auf. Das steckt auch in den Essays. Für Strauß war 1968 die Hoffnung, dass in Deutschland die Nachkriegsepoche mit dem Tod von Benno Ohnesorg zu Ende sei. Das ist ein Topos, den er erst wieder 1989 zu behaupten wagt, wenn er sagt: Jetzt hört für die Deutschen endlich der Nachkrieg auf, denn die unerwartete Wiedervereinigung ist die «Ankunft des Positiven». Unsere Art Selbstbewußtsein, das sich auf die Entlarvung des Häßlichen und Widerwärtigen, auf Negation und Kritik beschränkt, ist jetzt zu Ende – im Zeugnis des Positiven, das den Deutschen im Moment ihrer überraschenden Wiedervereinigung vollkommen unerwartet zu Teil wurde. Das intellektuell und auch literarisch zu verarbeiten, ist die eigentliche Aufgabe, die sich Strauß nach 1989 stellte und das interessierte ihn auch damals an den 68ern – ihr Versuch, Hitler zu entkommen.
CH: Dass man als Ausgangspunkt Hitler oder Auschwitz benutzte waren schon Topoi der 68er, zumindest da wo ich die Bewegung fast noch als Kind mitbekommen habe, in Frankfurt, wohin Strauß später auch zog. Wir dachten, wir müssten kämpfen, damit der Faschismus sich nicht wiederholt. Wir grübelten furchtbar über Auschwitz und kamen zu solch aporetischen Schlüssen, daß man sagte, Auschwitz ist gegenüber den Kategorien der politischen Ökonomie kontigent, deshalb kann man nicht mehr ungebrochen beim Kommunismus oder Marxismus anfangen. Insofern habe ich in Strauß‘ frühen Schriften eine große Analogie zur Studentenbewegung gesehen. Das verschwand allerdings, als er begann als Dichter aufzutreten.
TO: Betrachtet man näher, mit welchen Autoren sich Straß beschäftigte, also Witold Gombrowicz, Ödön von Horváth, Peter Handke und Thomas Bernhard etwa, würde ich sagen, daß Strauß gerade nicht die politisierte Theaterszene interessierte, sondern eher originäre Künstler, die, wie zum Beispiel Gombrowicz, Strauß als Kritiker analysierte und die in sich eine Art Poetik oder literarisches Projekt bergen, welche später sein eigenes Schreiben inspiriert haben. Wieso zum Beispiel hat ihn der Regisseur Peter Stein begeistert? Weil er Brechts «Die Mutter» inszeniert hat oder in Zürich Geld für den Vietkong gesammelt hat? Eher nicht – es war das dramaturgische Verfahren seiner «Torquato Tasso»-Inszenierung in Bremen, die Strauß in Aufregung versetzt haben. Es sind zunächst eher ästhetische Verfahren, die von ihm dann auf höchst komplexe und eigenartige Weise umgedacht werden auf eine Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse. Aber die für ihn eben nur eine politische Relevanz entwickeln, weil sie durch ihren ästhetischen Anschein überzeugt.
CH: Diese Tendenz brachte ihm im Osten die Unterstellung ein, er sei ein Poet im negativen Sinne, ein Mittelstandsdichter. Er sei selbstgefällig, bauchnabelmäßig und – zusammengefasst – seine Stücke seien Zahnarzttheater. Es verblüffte mich, wie stark der Widerstand in der Volksbühne gegen diesen Autor ist und war. Kennst du das auch?
TO: Bei meiner Promotion hatte ich keine Lust, mich mit Strauß zu beschäftigen, um ihn zu kritisieren. Ich wollte ihn erst einmal verstehen. Ich wollte die geistigen Einflüsse und Schulen rekonstruieren, die sein Denken und seine Stoffe bewegten und prägten. Einer meiner Doktorväter bestand aber nachdrücklich darauf, dass man diesen Mann «kritisch betrachten» müsse. Und zwar gar nicht, weil es sich um den damals schon suspekten Strauß handelte, sondern weil Kritik sozusagen das bevorzugte oder besser: einzige Erkenntniswerkzeug war. Es gab eine interessante Bewußtseinswende an der alten Schaubühne, die ihr revolutionäres, anfangs durchaus klassenkämpferisches Projekt Anfang der 70er sehr behutsam umdefinierte und sagte, die wirkliche Revolution liegt doch eher in einer Haltung des Widerstands, der auf die Abschaffung bestimmter, scheinbar nutzlos gewordener Ressourcen mit einer ästhetisch vermittelten Politik der Erinnerung und der Randzonenerforschung reagierte. Diese «Neudeutung des Konservativen» hat Botho Strauß damals aus nächster Nähe erlebt und sie verbindet sich sehr eng mit der Arbeit von Dieter Sturm, dem damaligen Schaubühnendramaturgen, denn die von ihm geprägte «Bewußtseinswende» hat in den 70er Jahren die Arbeit der Schaubühne nachhaltig verändert.
CH: Diesen Konflikt habe ich persönlich miterlebt, allerdings nicht bei einer Strauß sondern einer Tschechow Inszenierung: Da schimpfte Heiner Müller, das sei Zahnarzttheater und sagte «Leute die so was mögen, wollen nicht mehr leben.» Dieses Verdikt grummelt bis heute an der Volksbühne herum. Hier gibt es auch Schauspieler, die halten es für unter ihrer Würde, sich überhaupt mit Strauß zu beschäftigen.
TO: Das Interessante ist, dass sich als Strauß einen der Letzten sieht, der für sich implizit beansprucht, ein Dissident zu sein.
CH. Er betrachtet sich als einen «Nicht Einverstandenen».
TO: Du brauchst dir bloß die Überschriften seiner Essays ansehen: «Aufstand gegen die sekundäre Welt», «Gegen den Terrorismus der sekundären Diskurse», usw. Insofern hast du natürlich recht, wenn du ihn mit 68 in Verbindung bringst. Es ist unter der Hand eine dissidente, irgendwie auch journalistisch kommentierende, krawallbereite Grundhaltung, die ihn zum Schreiben bringt. Das Erstaunliche ist, dass sich diese Dissidenz oder dieser Dissens zur Gesellschaft auf einer anderen Ebene artikuliert. Deshalb habe ich auch in der Beurteilung seiner Kritiken und Essays eine andere Haltung als du. Das kein umstandslos im Vokabular der Politik aufgehender Widerstand, sondern das ist etwas, das viel näher an der Tradition der Romantik liegt. Dass man sagt: Diese gegenwärtige Form von Rationalität und von Ordnung, von Sinnangebot enttäuscht zutiefst. Dass man sagt: Eine Welt ist nicht genug. Das hat viel mit der Schaubühne in den frühen 70er Jahren zu tun. Dass man sagt: Ist es nicht wertvoller, die langsame und wartende Welt der Schrift und Gärten zu verteidigen, und ihre Betriebsfremdheit als Chance zu begreifen, noch irgendwo ein «Draußen» finden zu können, das aus diesem sozialen Abseits heraus unserer Gesellschaft ein größeres Widerstands- und Einspruchspotential zuspielt es die politischen Aktivisten es vermögen? Ideologien sind letztlich immer Teil des Systems. Strauß benutzt unverdächtige Welt der Mittelklasse, der scheinbar nicht extremen Lebensformen, um damit uralte Typen zu Tage zu fördern, die mitten unter uns leben und versucht so, andere Zeiten einbrechen zu lassen, die genau diese Welt auszuhebeln. Ja, man könnte sagen: Das ist gehobener Boulevard. Aber im Sinne der Romantik würde ich eher vermuten, dass hier Genrekonventionen dafür genutzt werden, um einen anderen Blick zu ermöglichen – dieses dissidente Einspruchsverhalten bei Strauß wird viel zu schnell entsorgt mit «Boulevard» und diesen üblichen Klischees, die man mit Strauß verbindet.
CH: Dabei ist wirklich auffällig, dass er sich sehr ernsthaft als Dichter versteht. Da würde ich gerne noch mal auf Heiner Müller zurückkommen. Was Strauß und Müller verbindet, ist, daß sie beide sich als Dichter begreifen, bei allen Zweifel an der Sprache. Das irritierte in den Siebzigern, weil man eigentlich sagte: Nicht auf die Sprache, nicht auf die Form, nur auf das richtige Bewußtsein kommt es an und daß man das allgemeinverständlich ausdrückt.
TO: Poesie ist für beide eine letzte Form des Widerstands. Widerstand gegen das nützlich Gemachte.
CH: Da sind sie sich ähnlich.
TO: Deshalb haßten sie sich ja auch. Sie lasen die gleichen Bücher und beide hatten ein inniges Verhältnis zu Ernst Jünger, mit dem einzigen Unterschied, dass der eine, also Heiner Müller, hinfuhr und mit Jünger trank, hingegen der andere ihm Briefe schrieb. Diese Nähe der beiden zu einem Outcast ist sehr signifikant - die Nähe zu einem Außenseiter, einem spätromantischen, deutschem Autor. Du kennst wahrscheinlich diesen Text von Strauß über Ernst Jünger. Darin steht, dass die deutsche Nachkriegsgeschichte beendet ist, wenn man «feststellt und zustimmt, daß sie vierzig Jahre von dem Werk Ernst Jüngers überragt wurde.» Wenn man bereit ist, das anzuerkennen, so Strauß, dann hat diese Gesellschaft ihre verkrampfte Orientierung auf Negation soweit überwunden, dass sie den «Reichtum an anderem Wissen» annehmen kann, der im Jüngerschen Werk überlebt. Dann ist sie «reif» geworden und ist eine nationale Krankheitsgeschichte überwunden. Das war Strauß‘ große Hoffnung 1989.
CH: Da sieht man die Einflugschneise mindestens der Mißverständnisse. Heiner Müller hat Jünger verehrt, aber er war nicht Jünger-gläubig. Das Geraune über die Beendigung der Nachkriegskriegsgeschichte hat er sich nicht erlaubt, sondern immer mit einem Sarkasmus oder einer Ambivalenz verbunden. Und gezeigt, dass es strukturell nichts gibt, das in Zukunft Auschwitz verhindern könnte. Dagegen vermittelt Strauß über Jünger oder im Grunde auch über uralte Traditionen, ein substantielles Denken, verlangt die Hypostasierung von Essentialien, während Heiner Müller mit der gleichen Verzweiflung über die Gegenwart und die zur zweiten Natur gewordenen Gesellschaftsprozesse, ein Antiessentialist blieb. Was nicht heißt, daß er nicht auch fragt, ob ohne bestimmte Werte, abseits der Orientierung am Geld, Menschen überhaupt überleben können.
TO: Beim Vergleich beider Autoren ist Jünger sicher eine signifikante Brücke, aber ähnlich wichtig ist ihr Verhältnis zu den Medien: Im selben Maße, wie Strauss sie ablehnt, obwohl er ursprünglich mit Journalismus begann, fühlt sich Müller zu den Medien hingezogen. Beide sind an die Medienwelt stark angekoppelt. Der eine in extremer Ablehnung, der andere in extremer Affiramtion. Strauß nannte Müller einen «Medienwurmfortsatz».
CH: Also war Müllers Medienpräsenz für ihn Verrat.
TO: Müller wurde wirklich das, wovon ein Schriftsteller träumt: Ein populärer Held, eine Art Vaterfigur. Die Menschen besetzten nach seinem Tod vierzehn Tage das Berliner Ensemble, um gemeinsam von ihm Abschied zu nehmen - so traurig waren sie als er starb und lasen daher nochmal über Wochen hinweg öffentlich seine Texte. Um Müller gab es eine Art Sektenbildung, also im Grunde etwas, zu dem sich der Strauß geradezu reziprok verhält, obgleich er eine ähnliche Rolle beansprucht. Beide sind Auguren, theoriegeschult und geschichtsbewußt. Strauß bezeichnet sich selbst als «poetologischen Theoretiker» und bedauerte es ganz offen selbst, nie ein «reiner Künstler» geworden zu sein. Solche Statements würde man von Peter Handke zum Beispiel nie hören.
CH: Weil Strauß kurioser Weise erst mal als Verwurzelter erscheint, wobei ich befürchte, dass daher vielleicht das Mißtrauen, der Verdacht, herkommt, weil das so unreflektiert konservativ wirkt oder eben auch so antidialektisch.
TO: Es ist ein Wahlkonservativer. Bis hin zu dem Punkt, da der Konservative durch Strauß’ progressive Deutung dieses Wortes, um seine eigenen Begriffe gebracht wird.
CH: Ich sage nur, wie es wirkt. Ich habe ja auch meist kein Unbehagen mit Botho Strauß, ich finde es faszinierend. Gerade wenn man genauer hinschaut, dann merkt man, das es hochreflektiert ist, weil er gar keinen eindeutigen Aussagen trifft. Oder er kündigt selbst an, wenn er etwas Unverantwortliches sagt oder sagt gleich dabei, das ist jetzt unverantwortlich. Und er kann sich das einfach erlauben, als dieser inspirierte Nicht-Einverstandene, etwas zu sagen, dass einem die Haare zu bergen stehen läßt. Er ist ja ein Dichter…Wie hast Du in diesem Zusammenhang seinen merkwürdigen Abschied von der Dialektik interpretiert? Das war ja auch in den späte 70er oder frühen 80er Jahren …
TO: … das war «Paare Passanten» …
CH: … wo er sagt: «Ohne Dialektik denkt man automatisch dümmer, aber es muß gehen. Ohne sie.» Das fand ich äußerst nachvollziehbar, aber verwechselte es damals wohl mit einem Rückzug in eine eher technokratische Sichtweise, weil man damals gerade die formale Logik neu entdeckte und dachte, Dialektik sei nur Schwampf. Solche Professoren wie Herbert Schnädelbach, die bestimmt nicht viel mit Botho Strauss zu tun hatten, sagten: Wir können uns um solche Paradoxien und solche Hoffnungen, die aus einem dialektischen Umschlag kommen, nicht mehr kümmern. Wir müssen es einfach sagen, wie es ist, ohne immer gleich das Gegenteil mitzudenken. Aber damit verließen sie die Ebene der radikalen philosophischen Konsequenz und verabschiedeten sich auch von Adorno. So hat man sich seine Dissidenz gegen den Konsens der linksradikalen oder linksliberalen Dissidenten erkämpft.
TO: … ich würde das nicht so betonen …
CH: … aber wenn ich ihn lese, da guckt Adorno um jede Ecke …
TO: … bis zum Stücktitel «Groß und Klein» nach einem Kapitel aus den «minima moralia». Es liegt merkwürdiger Weise in dem Abschied gleichzeitig ein großer Lobgesang auf Adorno. Obwohl, ich glaube, so war Strauß’ Formulierung, «in Zukunft nicht mehr so prunkend gedacht wird» wie in dessen Texten und eine gewisse Kunst der Betrachtung aus verschiedensten Perspektiven nicht überbietbar scheint, muß die «Dialektik als Denkform verabschiedet» werden. Aber zugunsten von was? Das ist die wirklich aufregende Frage! Und da gibt sein Buch «Paare, Passanten» selbst eine Antwort, indem es aufhört, einen rationalen Diskurs weiterzuführen und an dessen Stelle eine ästhetische Argumentation setzt. Also das Buch, der Diskurs, mündet in Gesang. Diese «Anrufung des Gesanges» als einziger Antwortform – das müsste einen Hölderlinfan wie dich doch eigentlich freuen!
CH: Aber selbst diese Wende ist bei Adorno vorgezeichnet, wobei wir jetzt aufpassen müssen, dass wir nicht in diesen typischen adornoschen Regress verfallen. Ich habe mich mal mit einem Satz von Hölderlin über Habermas’ Theorie der Kommunkation lustig gemacht vor seinem religous turn, den ich sowohl bei Adorno, als auch bei Heidegger gelesen hatte: «Viel hat von Morgen an, seid ein Gespräch wir sind und hören voneinander, erfahren der Mensch.» Also Kommunikation. Und dann der Satz: «Bald aber sind wir Gesang».
TO: Das ist 1:1 «Paare, Passanten». Das ist es auch, woran alle Literatur-, Theaterwissenschaftler und überhaupt alle, die sich mit Strauß eingehender beschäftigen, total verzweifeln – dieser Mann treibt einen ja in den Wahnsinn durch die Überführung eines rationalen Diskurses in poetische Begriffe wie «Einstweh» oder «Beginnlosigkeit». Ähnlich wie Müller ist Strauß ein sehr wissensbasierter Dichter, aber er argumentiert immer ästhetisch.
CH: Nur als Einwurf: Botho Strauß ist ja der Phantast. Er denkt sich Sachen aus, schriebe sicher gute Science-Fiction. Wie im «Jungen Mann» zum Beispiel. Müller kann auch Träume aufschreiben …
TO: … Strauß ist an diesem Punkt aber weniger didaktisch in seiner Symbolsprache…
CH: … läßt sich aber so ein – und das ist in meinen Augen die Gefahr –, daß er auf Grund von «Einstweh» zu Reflexionsabbruch neigt.
TO: Das Komplizierte bei Botho Strauß ist die Überführung einer rationalen Argumentation, die auch ständig wieder auf sekundäre Diskurse verweist, in eine andere Sprachform betreibt, die – man könnte es am ehesten noch mit Benjamin vergleichen – grundsätzlich poetisch argumentiert. Dieses Denken bildet zwar Theorie, wird aber nicht systembildend. Das ist das grundsätzlich Bewegliche an Strauß’ Denken: Man kann immer allegorisieren oder versuchen, bestimmte begriffliche Bilder zu entwickeln, aber wird nicht hermetisch. Strauß unterlässt genau das, woran Leute wie Hegel oder Fichte ihr Leben lang arbeiteten – er schließt das Begriffliche nicht zur Definition. Aber er macht es im gleichen Feld wie Hegel und das ist das Vertrackte.
CH: Das ist negative Dialektik, die sich selbst überwindet, ohne dass ihr das endgültig zu gelingen vermag.
TO: Das ist interessant. Wenn man über Adorno/Horkheimers «Dialektik der Aufklärung» spricht, die ja im Grunde ein halbes Werk geblieben ist. Diese Beschreibung des Destruktiven, diese Amerikaerfahrung …
CH: Dass mit jedem Fortschritt, mit jeder Weiterentwicklung gleichzeitig ein Rückschritt passiert, und dass die Zivilisation die Barbarei produziert und die Barbarei die Zivilisation, und das man das leider Gottes schlecht auseinander halten kann.
TO: … diese Amerikaerfahrung, die dem zugrunde liegt, führt in der Reflexion ja zunächst erst einmal zu einer hellsichigtigen Verdeutlichung dessen, was den Menschen beschädigt. Sie funktioniert als Aufklärung des Negativen. Und das Gegenteil davon ist das Projekt von Strauß. Seine Hausaufgabe lautet: Wo liegt das uns durchs Positive Ergänzende? Strauß fragt sich in verschiedenen Phasen seines Schreibens immer wieder: Welche Mächte herrschen über uns? Und die Antworten waren sehr unterschiedlich: Das fing schon «postpolitisch» an, indem er strukturalistisch sagt: Der Diskurs spricht über oder aus uns - egal, was du sagst, «es» spricht aus dir. Das ist der frühe Ansatz. Da geht es schon nicht mehr um Klassenverhältnisse und all diese Dinge. Späterhin sind es mythische Konstellationen, Einbrüche des Phantastischen, die durch seine Hinwendung zur deutschen Romantik seine Stücke zunehmend prägen – im übrigen immer verbunden mit seiner Rezeption der avancierten Naturwissenschaften, denn auch deren Kräften gibt Strauß als Dichter ein «mythisches Geleit», oder schlicht: Eine Stimme für die Ahnung von etwas Absolutem, oder wie du sagst: Essentiellem. Dieses Weiterdenken der Romantik als Geste der Entgrenzung und Ergänzung prädestiniert Strauß auch zum Autor der pathetischen Liebe - «Groß und Klein» erzählt genau diese Isolationserfahrung, zeigt das, was fehlt. Die interessante Entwicklung bei Strauß ist, wie er dieses Ergänzende konstruiert. Am Anfang schlägt diese strukturalistische Annäherung in eine ganz intensive Romantikrezeption um. Die Weiterführung dieses Projektes führt letztlich an einen Punkt, an dem nur noch «die Liebe und die Kunst» selbst bestimmte Erfahrungen des Anderen ermöglichen – d.h. beides, Kunst und Liebe, wird religiös. «Einstweh» – das ist eine Vokabel, die dafür steht, das es Ressourcen gibt, die wir uns vergegenwärtigen können. Das ist der Knackpunkt bei Strauß: Der «Gegenwartsautor» bei Strauß ist ein Vergegenwärtiger von Zeiten, die eigentlich nicht unsere Zeiten sind. Das ist die Grundphilosophie von Strauß schon in «Groß und Klein» gewesen. Das ist das «Einstweh», das ist die Sehnsucht dieser Art von Wiederauferstehung oder Anwesendmachung einer anderen Zeit – und das ist das Verrückte – nur möglich, dank der originalen Mehrzeitigkeit der Bühne.
CH: Bei dir haben ja solche Gefühle wie «Einstweh» oder die ernsthafte Fragen nach vergangenen Zeiten, vergangenen Topoi und vergangenen Werten, keinen Ekelreflex ausgelöst, sondern das hat dich einfach interessiert, und zwar nicht als etwas, was du von vorneherein bei deinen Professoren, für sehr kritikwürdig gehalten hast. Bist du als konservativer DDR-Bürger aufgewachsen? War das bei dir schon immer so?
TO: Heiner Müller war in diesem Sinne ja auch der Reaktionär in der DDR-Gesellschaft. Ihm hätten die Texte von Nikolas Gomes Davila sicher gefallen. Das ist vielleicht ein merkwürdiges Phänomen meiner Generation – ich habe keine Einbindung in irgendeinen kollektiven Geist, diese Taufe ist mir nicht wiederfahren. Ich kann Wladimir Majakowski genauso begeistert lesen wie Ernst von Salomon.
CH: Du würdest aber nicht so weit gehen, zu sagen, daß die Heiner Müller-Lektüre dich auf eine unbefangene Botho Strauß-Lektüre vorbereitet hat.
TO: So ein Gedanke überrascht mich wirklich. Am Anfang habe ich Strauß frühen Stücke gelesen und dachte, während draußen plötzlich mit der D-Mark bezahlt wurde und wir nach Kassel reisen konnten – ja, genau so, wie die Leute in diesen Stücken aus den 70ern, werden wir wohl in Kürze werden. Das wird alles so kommen. Die neue Gesellschaft, mit der ich wiedervereinigt wurde, lernte ich durch Straußlektüre kennen. Man schaute mit diesem dramatischen Spiegel zurück aufs echte Leben und konnte es besser einordnen. Das geschah durch eine ganz naive Zuneigung zu den Straußschen Figuren – diese Lotte in «Groß und klein» – ja, die war auch so fremd daheim! Das habe ich gelesen und sofort verstanden.
CH: War Lotte für dich eine positive oder eine negative Figur?
TO: Im Leben fände ich sie furchtbar anstrengend. Aber ich empfand sie nicht als abschreckend. Dafür spricht sie zu schön.
CH: Das mit der Sprache ist verblüffend, weil sie gleichzeitig völlig alltäglich ist. Wenn man die Darstellerin von Lotte mit ihrem Text auf die Straße schicken würde und sie ein bisschen überkandidelt wäre, nähme ihr das jeder ab. Niemand würde auf die Idee kommen, dass sie Dichtung rezitiert. Wir haben das sogar mal probiert… Aber noch mal zu Heiner Müller und Botho Strauß und dazu was die beiden voneinander halten. Du hast gesagt, sie sind so nah aneinander, daß sie sich hassen.
TO: Auf Müllers Seite gab es keinen Hass.
CH: Hat Müller Strauß denn überhaupt rezipiert? Leute die so was gut finden, wollen nicht mehr leben. Da bezog sich Müller doch auf Botho Strauß mit der Vorstellung, daß man hier bereits aufgegeben habe, nicht nur etwas zu verändern – das hat ja Heiner Müller auch – sondern aufgegeben habe, sich überhaupt mit den entscheidenden Fragen der Gesellschaft noch zu beschäftigen, zu Gunsten von Epiphänomenen, Sekundärphänomenen. Da muß ein schreckliches Mißverständnis liegen.
TO: Strauß hat in einer Welt Dramen geschrieben, in der Heiner Müller nur noch Gedichte schrieb. Darin liegt der Unterschied und das ist interessant: Wie schafft es Strauß dramatische Konflikte – das Drama – in dieser Gesellschaft am Leben zu erhalten? Müller war ein Autor des Kalten Krieges und blieb ein Nachkriegsautor. Er hat mit seinen Stücken immer irgendwie auf Hitler geantwortet.
CH: Strauß käme also logisch, nicht chronologisch, nach Heiner Müller. Das erscheint mir evident. Damit sind wir auch gleich bei «Groß und Klein». Das ist 1977 geschrieben, im deutschen Herbst und der Terrorismus kommt nicht mit einem Wort vor. Das allein wird Heiner Müller schon furchtbar aufgeregt haben. Bei «Groß und Klein» kommt überhaupt keine politische Bewegung vor. Ich gehe soweit, zu sagen, daß, was er da zeigt, die Anfänge der Singlegesellschaft sind, das Ende der Familie, nach dem Sieg des Kapitalismus als alternativloser Gesellschaftsordnung. Die Wohnung in «Groß und Klein» ist ja keine Wohngemeinschaft, sondern eine Ansammlung von Singlewohnungen. Im Grunde genommen hat Botho Strauß in Zeiten des deutschen Herbstes, als die kollektive Bewegung am Ende war und das weltrevolutionäre Projekt abermals und vorläufig endgültig zu Grabe getragen wurde – nachdem es schon Adorno endgültig zu Grabe getragen hatte –, da hat Strauß keine Sekunde mehr darauf verschwendet, den Ost-West-Konflikt, den Konflikt zweier Weltanschauungen darzustellen, sondern hat einfach monistisch konsequent die Zukunft einer Gesellschaft nach dem Ende der Vaterländer und Familien beschrieben, mit Restbeständen von religiösen Rettungsankern, wenn es zu schlimm wird. Fast alle Figuren sind ja religiös übercodiert. Strauß demonstriert deutlich, daß ihn das Revolutionäre, das linke oder das reformistische Konzept nicht mehr interessiert.
TO: Doch, das revolutionäre Konzept interessiert ihn natürlich sehr.
CH: Aber nicht das Revolutionäre im dem Sinne der Studentenrevolte, die mit dem deutschen Herbst gerade zerfallen war. Ich habe meine heuristische Behauptung, daß ihn das revolutionäre Konzept, zum Beispiel den religiösen Wahn zu entwahnen, interessierte. Der damals überall im Schwange stehende Diskurs ist in diesem Stück verschwunden. Das finde ich das Revolutionäre oder Politische daran, daß sich einer hinsetzt und die alten Gegensätze nicht mehr akzeptiert, den ganzen Diskurs im Moment seines historischen Scheiterns einfach nicht mehr thematisiert. Was du gesagt hast, daß Strauß beschreibt, was die Menschen nach der Wende erwartet, ist absolut richtig. Ich halte das Stück für extrem unideologisch, extrem unpädagogisch, allerdings auch nicht für romantisch, sondern für mikrosoziologisch, eher von dem amerkanischen Soziologen Erving Gofman geprägt als von Ernst Jünger. Und die Poesie ist selbst noch eine soziologische. Und Frank Castorf ist der Regisseur, der das leider besser kann als viele andere – wobei sich das noch zeigen muß in der Kürze der Zeit. Das scheint mir bei diesem Stück die Pointe zu sein. Weil es das radikale Weitergehen zum «Einstweh» nicht wirklich vertritt. Man kann es sich allenfalls dazudenken.
TO: Es ist wahrscheinlich unvermeidlich eine Verkürzung. Einerseits ist Botho Strauß jemand, der mit forschem Schritt auf entlegene Schätze zugeht, die können nicht entlegen genug sein, und gleichzeitig ist der ein Pionier, einer immer unter den Ersten im Neuland sein will. Er ist unter den Autoren derjenige, der sich am besten auskennt mit Hirnforschung, mit Kosmologie, mit Wirtschaftstheorien, mit Computertechnologien. Er ist also überhaupt kein weltfremder Mensch.
CH: Das erinnert die Gegner natürlich stark an die religiösen Fundamentalisten, die nicht nur religiös, fundamentalistisch und rückwärtsgewandt sind, sondern gleichzeitig die Speerspitze der elektronischen Avantgarde …
TO: … wirklich? Sind sie nicht eher die Piraten von Technologien, die andere erfunden und durchgesetzt haben. Eben darin besteht ja die Demütigung, auf die sie mit Terror antworten. Strauß hat sich übrigens sehr früh mit dem Thema Terrorismus auseinander gesetzt. In «Paare, Passanten» beschreibt er die Widerwärtigkeit der im Fernsehen gezeigten Fahndungsfotos, für die man tote Terroristen fotografiert hat und ihnen noch einmal die Brille aufgesetzte. Der Punkt unter dem Strauß das kritisiert, ist der der Verletzung der «Würde des Toten» im antiken Sinn. Ähnlich reagiert auch Gerhart Richter mit seinem RAF-Zyklus, der in diesen Tätern auch die Opfer zeigt, den gescheiterten Menschen, an denen das System seine letzten Verrichtungen vollbracht hat. Strauß blickt auf diesen gesellschaftlichen Vorgang wie Antigone: «Das macht man nicht mit Toten, und mögen sie auch Feinde sein.» Hier wird eine andere Form von Recht verletzt, eine mythische wenn man so will. Schon in den »theater heute«-Aufsätzen über Gombrowicz interessieren ihn die «anderen Quellen des Wissens» – das Mythenverhaftete, das Poetische, die Eigenständigkeit, das muss man mal lesen, wie er damals ein Stück ein Stück von Thomas Bernhard beschreibt. Da geht es grundsätzlich und sehr, sehr früh schon um ein anderes Politikverständnis und das nüchterne Konstatieren der Beschränktheit und Fatalität dieser politischen Bewegungen. Und zugleich die Fatalität der sich gleichzeitig ereignenden Politisierung des Religiösen, wie es jetzt in einigen islamischen Ländern passiert. In dem Moment, wo alle politischen Auswege versperrt sind, ist die Politisierung die Religion die einzige Chance. Es ist noch immer erhellend, wenn man liest, wie er in den Achtzigern auf die islamische Revolution von 1979 reagierte. Der Aufsatz von Jochen Hörisch in meinem Strauß-Buch «Unüberwindliche Nähe» nimmt genau diesen Faden auf: Die «Diktatur des Ökonomischen» wurde irgendwo auf dieser Welt durchbrochen, das ist, wonach auch viele Menschen im Westen suchen.
CH: Und da kann man einen unvermittelten Gegensatz von zwei Sorten von Romantikern ausmachen: Die einen, die das Antiökonomische immer per se als Wert sehen, während die anderen sagen, ein losgelassenes Antiökonomisches sei erst recht Barbarei. Deshalb sind viele Linke für die Globalisierung, denn die Instanz eines globalen zivilisatorischen Überbaus verhindert Gesetzlosigkeit und Völkermord. Die anderen beklagen den Substanzverlust solcher Überbauten und sind generell gegen global geltende Regeln. Und damit irgendwelchen substanziellen Blut und Bodenvorstellungen verbunden. Und Botho Strauß werden gerne solche Vorstellungen unterstellt, wie du sie gerade vorgetragen hast: Dass er in dieser «Gefahr» ist, aus den Gründen, weil er die Spannung eines Perspektivismus, eines nietzscheanischen Absturzes nicht ertragen kann, sich beruhigen will bei solch konservativer, rechtsromantischer, fundamentalistischer Bewegung. Wir brauchen den Boden, auf dem wir tanzen können und der muss fest sein, wie Achim von Armin sagt. Und andere sagen, wir tanzen eben in den Netzen, die wir uns selber mühsam gespannt haben und die jeden Moment zerreißen können.
TO: Ist das Konservative letztendlich das Demokratiefeindliche? Man kann umgedreht einen Aufsatz wie «Anschwellender Bocksgesang» auch als Weckruf eines Hüters der Demokratie lesen. Er weist auf Selbstverblendungen hin, die mit dem Liberalismus, aber auch mit einer bestimmten Politikgläubigkeit, die schon wieder quasi-religiöse Züge trägt. Das heißt aber keineswegs, dass Strauß jemand ist, der sich letztlich eine Abschaffung all dessen wünscht, was nach der Weimarer Republik kam. Das ist wichtig.
CH: Ja, historisch wichtig.
TO: Auch subjektiv. Der «Bocksgesang», aber genauso gut der «Junge Mann» oder das «Gleichgewicht» – all diese Texte beginnen mit einer Lobrede auf diese Gesellschaft: Der «Tanz der freien Individuen» aneinander vorbei, dieses Bild von Schiller greift er auf. Das ist ein Lobgesang, der auch sagt: Inmitten dieser Verhältnisse walten andere Kräfte, die wir wachen Auges wahrnehmen sollen. Eben weil die Heime der Asylanten brennen und der Bocksgesang lauter wird.
CH: Ist das nicht letztlich ein Umschlag von Adorno zu Heidegger? Und Strauß ist einer der letzten Kämpfer gegen die Seinsvergessenheit. Und wenn es überhaupt keinen mehr gibt, dann – so sagt Heidegger – ist etwas Schlimmeres passiert, als alle Atombomben zusammen. Jetzt wollte ich noch mal auf «Groß und Klein» zurückkommen. Also ich habe dir ja vorhin geschildert, wie relativ sachlich ich das Stück verstehe. Das bestätigt auf der einen Seite deine Erfahrung, als du das Stück nach der Wende gelesen hat. Das andere, was ich so erstaunlich gefunden habe, ist, dass dieser Botho Strauß sich als «Dichter» verstanden hat – das war das eigentlich Anachronistische damals, nicht der Inhalt.
TO: Vielleicht hast du noch ganz andere Dichter nicht wahrgenommen.
CH: Das kann gut sein. Wir haben sowieso keine Literatur gelesen. Literatur war per se ideologisch. Wir haben wissenschaftliche oder kommunistisch-wissenschaftliche Bücher gelesen, nicht die russischen, weil die waren ja auch orthodox, sondern die unorthodoxen, letztlich alles aus dem Kontext einer sehr weit gefaßten kritischen Theorie und eines undogmatischen Marxismus, wie er sich in Frankreich und in Italien entwickelt hat. Nun haben wir es hier mit jemanden zu tun, der auf diese politischen Konnotationen verzichtet – das hat man bei der «Widmung» gemerkt. «Groß und Klein» kommt mir so vor, als hätte er es mit einem Psychoanalytiker und einem Psychiater zusammen geschrieben. Es zeigt die Deformierung der Individuen in einer Gesellschaft, in der jeder auf sich allein gestellt ist, in der es keine organischen Zusammenhänge mehr gibt, keine Art von Kollektivität, keine Art von Solidarität, wo man auf eine äußerliche und nicht intensive Art zusammen lebt und wo die Leute, die Pech gehabt haben, zwar freundlich behandelt werden, aber im Zweifelsfalle auf den Müll geschmissen werden, wenn es ihnen nicht gelingt ihre Arbeitskraft, ihren Charme oder ihre Intelligenz zu vermarkten. Insofern eine verheerende Diagnose in dem Stück, die eigentlich viel verheerender war als die von Herbert Marcuse oder von Heiner Müller. Wo siehst du die Linien zwischen diesen grundlegenden Fragestellungen, die wir jetzt mit dem höchst mißverständlichen «Einstweh» vergleichen können oder mit den Kräften, die walten, von der sich unsere Gesprächskultur und Informationsgesellschaft und Kommunikationsgesellschaft nichts träumen lässt. Also sagen wir mal, den Heidegger-Turn oder die Betrachtung des Fundamentalen. Findet sich in dem Stück schon etwas davon?
TO: Also Lotte als Casper Hauser-Figur, Lotte als einer der Gerechten, in diesem altjüdischen Sinne, das sind verglichen mit den Büchern, die Strauß bis dahin geschrieben hat, Innovationen. Da beginnt etwas.
CH: Und er nimmt das ernst, was da passiert. Es ist zu wenig, wenn man sagt, die religiösen Topoi dienen zur Kompensation sozialer und kommunikativer Defizite. Das fällt nicht leicht, weil diese soziologische Lesart dermaßen dominant ist – oder die schizophrenietheoretische.
TO: Das muss man ernst nehmen und als literarisches Initialmoment beschreiben. Das entscheidende Wort ist das «Versehen». Dass Lotte viele Dinge nur im Versehen erfasst. Dinge, die sie versehentlich ausspricht, die ihr wiederfahren.
CH: Und die sie selbst auch nur aus Versehen mitkriegt.
TO: «Versehen» ist im übrigen ein Begriff, der für Strauß geradezu ein Leitbegriff ist. Ein Akt seines Stückes «Schlußchor» trägt den Titel: «Aus der Welt des Versehens». Es ist ja ein Stück, in dem gezeigt wird, wie «aus Versehen» die Mauer fällt. Strauß zeigt in diesem Drama eine Klasse oder ein Kollektiv, das während einer Fotosession darum ringt, den «richtigen Augenblick» zu finden, der sie vereinigt und auf dem Foto als Gemeinschaft zeigt. Zusätzlich geht es in dem Stück um den Diana-Aktäon-Mythos, den Strauß in moderne Zeiten transponiert und erzählt, wie ein Mann sterben muß, weil er «aus Versehen» eine Frau beim Bade sieht. Diese Idee, dass wir das «Ganze» oder «Wesentliche» nur «seitlich sehen», nur blitzhaft, dass wir also uns selbst also nur aus und im Versehen wirklich sehen, ist schon ein paar Jahre vor «Groß und Klein» in den Erzählungen «Theorie der Drohung» und «Marlenes Schwester» angelegt. Was für ein verrückter, hellsichtiger Gedanke! Da werden literarische Verfahren entwickelt, die bei Strauß bis heute im Grunde die gleichen geblieben sind, aber ihre Konnotationen wechseln natürlich im Laufe der Jahre. Gleich bleibt die Überzeugung, dass wir die Menschen nie so sehen, wie sie sind, sondern nur als das erkennen, was wir in sie hineinsehen – bestenfalls offenbart sich dabei ihre jeweiliger Typ, aber nie ihre Individualität. Diese ungeglättete Überlagerung verschiedenster Wesensarten in einer Person, bevor sie sich in einem Typenbild fokussiert und schlichtet, hat Strauß einmal die «Übergesichtigkeit» der Leute genannt. Das ist eigentlich die Perspektive eines Geisteskranken, ich meine das im anregenden, künstlerischen Sinne. Er sieht sozusagen die Überblendung von verschiedenen Lebensoptionen, die in einem Menschen schlummern. Er sieht die vielen Gesichter einer innerlich widersprüchlichen Figur, die nur in der vergröbernden Fassung einer typischen Figur ihre Fassung finden. Sonst aber, wenn das nicht gelingt, ein Flirren erzeugen, das uns des betrachteten Menschen nicht wirklich habhaft werden lässt. Man sieht sozusagen immer nur eine Augenblicksvariante des Menschen. Sein momentanes Standbild. Du bist letztlich der, der den Menschen erschafft, in dem du ihn siehst. Das ist die Technologie, die Strauß als Dramatiker entwickelt hat. Das ist etwas Strauß mit dem Maler Gerhard Richter verbindet.
CH: Das ist die Theorie, die du entwickelt hast, und das scheint mir dann doch wieder außerordentlich kompatibel mit modernen, nicht-dogmatischen Theorien wie Systemfunktionalismus oder Konstruktivismus.
TO: Ja, und auch mit den Arbeiten von Frank Castorf: Die Auflösung der Zentralperspektive, die Simultanität der szenischen Vorgänge – sie bewirkt, dass du dir eigentlich deinen Abend selber zusammenbaust, während du dir ihn anschaust. Die Betrachtung einer solchen Art von Kunst erzeugt eigentlich nur noch lauter Einzelne, lauter Alleinbetrachter – jeder sieht was anderes, und soll auch mit dieser Form von Zuschauerarbeit beschäftigt werden. Diesen Zwiespalt, den die Überforderung durch das Zuviel an Inkompatiblem erzeugt, habt ihr mit der Inszenierung von «Erniedrigte und Beleidigte» auf die Spitze getrieben – da spricht an der Rampe ein Schauspieler einen philosophisch herausfordernden Monolog und darüber läuft auf einer Leinwand eine Porno-Show und der Zuschauer muss sich entscheiden zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Die Erfahrung der eigenen Entscheidungen im Sehen – das ist letztlich die Urtechnologie Strauß‘, so schreibt er seine Stücke. In «Groß und Klein» gibt es das erste Mal so eine «übergesichtige» Figur – es ist der erste Auftritt einer derart mythisch grundierten Figur in Stauß’ Welt.
CH: An dem Familienvater versucht er es auch. Es ist extrem an die damalige Gegenwart gekoppelt. Die sind ja alle irgendwie bibelfest und argumentieren mit religiösen Versatzstücken. Auch der Vater, alle, selbst der Mann in der «Nachtwache», der solche Sachen sagt, die wahrscheinlich von Strauß ganz positiv gedacht sind. «Mit ein bisschen Herzenstakt könnte es schon gehen.» Da ist immer so eine Wald-und-Wiesen-Romantik am Werk. Unsere Romantiker wie Heiner Müller und Adorno sind darüber immer schon ein bisschen hinaus, weil sie sagen, so ein Wort wie «Herzenstakt» ist durchgenudelt, zu oft missbraucht, du mußt dir Mühe geben, es anders zu formulieren.
TO: In diesem Sinne schon.
CH: Diese ganzen wunderbaren Formulierungen, die auf fundamentales verweisen, was uns abhanden gekommen ist, sind heute Teile von Marketingstrategien oder Teile von bigotten Verhaltensformen von Menschen, die nicht auf der Höhe der Zeit sind, also Zeichen von Verhärtung, von Versteinerung oder Kalkül. Also entweder sind sie versteinert, weil ihr Sinn längst vergessen ist oder sie sind verflüssigt im Sinne von Marketingstrategien. Moral als Marketingstrategie, Wertbildungsprozesse als Marketingstrategie, konservative Mythologie als Marketingstrategie. Das ist das Problem und da ist dann Strauß möglicher Weise selber integer, auch in der Hilflosigkeit, in der er da steht, als ein Mitglied dieses kleine Häufleins Nichteinverstandener, zudem er sich selber zählt, was so schön analog zu sehen ist zu den 36 Gerechten. Und wenn sich Strauß dieses Häuflein, der inspirierten Nichteinverstandenen vorstellt, dann wird er in diesem Häuflein so jemanden wie Jünger sehen, Heiner Müller wird er nicht sehen, den hat er exkommuniziert, weil er ein Wurmfortsatz der Mediengesellschaft ist und was ist mit Frank Castorf?
TO: Castorf ist für Botho Strauß das Beispiel für die grundsätzliche Verspätung jeder Form von Kultur, die aus dem Osten kommt. Es ist für Strauß alles schon mal da gewesen und jetzt rackert der Osten da hinterher, macht die ganzen dummen Spielchen, die in den 70er Jahren schon gespielt wurden noch einmal und mehr kann Strauß da nicht entdecken.
CH: Sie backen alles nach, das halte ich für ein schweres Mißverständnis, denn der Westen hat den Osten nachgemacht. Castorf wird ja im Westen nachgemacht. Aber auch das hat nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Und wo stünde Christoph Schlingensief bei Botho Strauß?
TO: Zumindest ist mir da keine verächtliche Äußerung von ihm bekannt. Strauß erzeugt in seinen Texten, das verbindet ihn vielleicht mit Schlingensief, immer eine Form von Seance. Das Theater ist ihm ein Ort, der eher von Toten bewohnt wird. Strauß sagt, dass alles was du schreibst in die große, zeitenüberbrückende Schrift mündet und aus ihr wieder zu dir, bzw. durch dich spricht. Einer dieser großen Topoi von Strauß ist daher der des «Kopisten». Ganz früh, in seinem aller ersten Text, «Theorie der Drohung», rennt ein junger Autor schreiend herum und verkündet seine Erkenntnis: «Kein Satz von mir! Kein Satz von mir!» Er schreib eine wunderbare Geschichte und am Ende fällt ihm auf, das sie ihm bereits vor langer Zeit einmal jemand erzählte oder er sie anderswo las, lange zuvor – kein Wort stammt von ihm; nichts Originäres, nichts Originelles, alles «Literatur», die durch ihn spricht. Wieder so ein bizarrer Gedanke von Strauß: Die Leute, die du ansiehst, bekommst du nicht wirklich zu Gesicht und was du selber sagst, sagst nicht wirklich du. Diese Spur des Unheimlichen zieht sich bei ihm durch bis in die 90er Jahre, etwa bis zu dem Buch «Die Fehler des Kopisten». Dieser absonderliche Notstand ist einerseits eine Qual, andererseits Utopie: Es gibt die «reale Präsenz» einer anderen Welt, der großen «Schrift», die dich beschreibt. Und ich denke, diese Umkehrung der Perspektive ist bei Strauß ein echtes Initialmoment: Das macht ihn einsam. Zu diesem Häuflein der Nichteinverstandenen gehören meiner Meinung nach aber auch solche Leute wie Rainald Goetz. Die Nichteinverstandenen, die Abgeschiedenen, deren unentwegtes Tagwerk in die Schrift mündet, aus der sie alles beziehen und in deren Fortschreibung sie ihr eigenes Leben tilgen. Strauß würde wahrscheinlich sagen, ja mit dem Ernst Jünger gehöre ich schon zusammen, denn wir lesen ungefähr die gleichen Bücher und misstrauen gemeinsam der «Herunterdemokratisierung» von Lebensmomenten oder Leistungen, von denen wir wissen, dass sie am Ende z.B. doch mehr mit Inspiration zu tun haben und weniger mit Konsensbildung und demokratischen Entscheidungsverfahren. Strauß sagt, niemand regt sich auf, wenn man zu einem Rockkonzert geht und da emotionale Erfahrungen gemacht werden, die mit der rationalen Vernunft allein nicht erfasst werden können. Für mein Verständnis beweist er da eine Form von Wirklichkeitssinn. Das ist das Zentrum seines Dissidententums und er will diese Erfahrungen mit seinen einfach / komplizierten Stücken auch auf der Bühne vermitteln.
CH: Wir arbeiten am Theater an einer Institution, die demokratisch gar nicht funktionieren könnte. Das gehört aber zum gesellschaftlichen Konsens, dass es in der Demokratie Bereiche geben muss, die selbst nicht demokratisch funktionieren.
TO: Strauß denkt es in einer gewissen Weise konsequenter. Und vor allem: er redet darüber.
CH: Das ist wichtig. Ich würde behaupten, wenn es keine Menschen gäbe, die sich mit den schwarzen Seiten der Demokratie beschäftigten …
TO: … nicht nur der Demokratie. Lies mal «Rumor», das nach «Groß und Klein» entstanden ist. Strauß lotet ja auch die Dunkelzonen im Verhältnis von Mann und Frau in einer Weise aus, die von Anbeginn an politisch nicht korrekt war. Am Ende aber sucht er immer das «Licht» und sein «Verfahren» ist, ähnlich wie bei Jon Fosse, das einer negativen Mystik. Man kann auf das Positive nicht direkt zugehen – das zeigt sich schon in «Rumor».
CH: Das habe ich nicht gelesen. Ich habe aber den «Jungen Mann» ganz gelesen und das hat mich außerordentlich hingerissen und gezeigt, daß Strauß kein alter Schwarz-weiß-Denker, kein Realist ist. Was du gerade an «Marlenes Schwester» demonstrieren wolltest, heißt ja auch, daß er sich in einem Signifikanten Universum ohne Signifikate bewegt.
TO: Das ist ein Vokabular, das er sicher gerne vermeiden würde. Ich glaube, er sagt, Schrift mündet in Schrift. Die «Widmung» handelt von nichts anderem.
CH: Schrift mündet in Schrift, das ist wunderbar, nachvollziehbar. Ich halte das aber für einen Reflexionsabruch, weil diese Schrift in jeder ihrer Äußerungen auf etwas Außerschriftliches verweist. Wenn wir nicht von der Existenz des Außerschriftlichen ausgehen, das dann selbst wieder in Schrift mündet, dann ist die ganze Schrift verschwommen. Dann wäre sie nur noch schwarze Farbe. Dann erwiese sich gerade durch die Schrift, das es etwas anderes außerhalb der Schrift gibt.
TO: Strauß sucht in seinem Schreiben nach Grenzüberschreitungen. Deshalb auch die romantischen Strategien – die Ineinanderschiebung verschiedenster Zeiten, das Kontingente, die Auflösung einer bestimmten Form von Dramaturgie, weg von der Finalität hin zur Gleichzeitigkeit …
CH: Gibt es dann nur noch Schrift, aber nichts mehr was beschrieben wird?
TO: Strauß sagt, es geht letztlich um eine Art von «Präsenz», die sich durch Kunst im weitesten Sinne einstellt, die nicht die Präsenz der Sache selbst ist. Er vergleicht das mit dem Abendmahl, der Eucharistie. Das eucharistische Moment, dass du in der Erfahrung von Kunst die Erfahrung einer Anwesenheit von etwas anderem machen kannst, das dich übersteigt und gleichzeitig in dir ist, ist die letzte Gotteserfahrung, die uns vielleicht noch zugänglich ist. Aber darüber sollte man eigentlich nur in Kalauern sprechen. Strauß sagt, er könnte kein Katholik werden, das sei ihm zu anstrengend, da müsste er beichten.
CH: Das geht es nicht nur ihm so. Die einzig übrigbleibende Religion, wenn man sich nicht dem Geld verschreiben will, ist vielleicht tatsächlich die Kunst. Die Kunst hält das Tor offen für irgendetwas, das uns überschreitet. Die Kunst geht bis zu Bob Dylan, der singt: «There is something bigger than you».
TO: »One world is not enough”. Das ist das Thema aller Romantiker.
CH: Insofern sind wir alle konsequent romantisch und auch Botho Strauß hat hier sein Existenzrecht.
TO: Keine Frage, es ist unter Umständen wirklich eine bewusstseinserweiternde Auseinandersetzung, sich mit Strauß, mit seinen Kunstwerken zu beschäftigen. Ich halte es für arrogant und dumm ihn mit Floskeln abzutun wie: Ach, das ist ein Reaktionär, das ist Boulevard.
CH: Da ist wie ein Lackmustest. Wobei – man kann sich angesichts der Überkomplexität der Welt eben nicht mit allem gleichmäßig beschäftigen. Manchmal muss eben ein Vorurteil reichen.
Berlin, 22. Februar 2005