Interview Deutsche Bühne, Heft 11/2018
DB: Herr Oberender, in einem Interview haben Sie Immersion als «eintauchen», als «aufgehen in einem Kunstwerk» bezeichnet. Viele Menschen kennen die Situation, dass ihnen eine Inszenierung besonders nahegeht, manchmal sogar so nah, dass sie alles um sich herum vergessen. Sie selbst beschreiben in einem Text auf der Homepage der Deutschen Bühne im Jahr 2016 die Uraufführungsinszenierung «Morgen und Abend» an der Deutschen Oper Berlin als «besonders immersiv wirkende Oper». Kann auch formal konventionelles Theater «immersiv» sein?
TO: Immersiv ist im englischen Sprachgebrauch ein Alltagswort für «eindringlich», also für Erfahrungen, die einem unter die Haut gehen oder über einen selbst hinausführen. Das können Filme sein, aber auch Drogen oder bestimmte Techniken der Meditation und wiederholten Übung. Im engeren Sinne, so hat Oliver Grau gesagt, bedeutet Immersion, dass Sie das Medium vergessen. Die Identifikation mit den Figuren ist z.B. so stark, dass sie den «Film» und das Kino vergessen und »drin» sind in der Situation. In den letzten zehn, zwanzig Jahren erlaubten es nun neue Technologien wie Computerspiele oder VR, dass man sich gefühlt sehr direkt in Räume «hineinbegibt» und von der artifiziellen Situation plötzlich völlig umgeben ist, statt sich in sie nur einzufühlen. Was trotzdem nicht gleichbedeutend ist mit einem sofortigen Distanzverlust. Ich weiß natürlich, dass ich eine VR-Brille trage. Aber dank dieser Brille schaue ich nicht mehr auf einen Wald, sondern bin im Wald.
Deshalb wurden diese neuen Erlebnisszenarien von den Medienwissenschaftlern in den 90er Jahren «immersiv» genannt. Das Genre des immersive theatre wird aber trotzdem analog produziert wird, also als Welt in physischen Räumen, in denen ich scheinbar nach Belieben herumspaziere. Das Portal, durch das ich früher eine künstliche Welt betrachtet habe, liegt jetzt sozusagen in meinem Rücken. Solche Kunstformate lösen den traditionellen Dualismus von Objekt und Subjekt auf. Sie erzeugen eher Gefüge, Gemengelagen und Biotope, die wir als Besucher mit besiedeln - in der Bildenden Kunst genauso wie in der zeitgenössischen Musik und dem Theater.
DB: Die Ausstellungen und Projekte im Rahmen der Reihe «Immersion» bei den Berliner Festspielen sind andererseits kein klassisches Theater, sondern räumliche und inhaltliche Grenzgänge; in nächster Zukunft starten Sie die Zusammenarbeit mit einem Planetarium oder planen die Wieder-Installation der Berliner Mauer, um dahinter ein artifizielles Leben auf Zeit zu installieren. Das immersive Theater baut seine Projekte auf der Beteiligung des Publikums auf, während der Begriff «Theater» im eigentlichen Sinne «Zuschauen» meint, also eine Trennung zwischen Publikum und Bühnengeschehen impliziert. Ist «immersives Theater» also überhaupt sinnvoll und möglich?
TO: Ja, im ersten Jahr haben wir die zeitbasierte Kunst des Theaters, das immer auf Handlung, auf Fortschritt und eine Art Finale hinausläuft, verräumlicht. Mona El Gammal hat dafür einen großen narrative Spacein ein ehemaliges Fernmeldeamt geschaffen und Vinge / Müller haben ihr Nationaltheater Reinickendorf in einer ehemaligen Munitionsfabrik gebaut. Im zweiten Jahren haben wir das Format der Ausstellung, das ja darauf beruht, aus ihrem Kontext herausgelöste Dinge festzustellen und zur Ruhe zu bringen, verzeitlicht. Philippe Parrenos große Ausstellung im Gropiusbau war so ein scripted space, wie das Norman Klein genannt hat – die Dinge verhalten sich wie Schauspieler, sie spielen miteinander, verändern sich ständig und ein Raum «verschmutzt» den anderen durch Einwirkungen der unterschiedlichsten Art. Ähnlich haben Tino Sehgal und ich unsere zeitgleiche Ausstellung entwickelt, die Räume schuf, in die man eintreten konnte und die einen einbezogen haben – in Workshops, Installationen oder Perfomance. Wir definieren also die Formateneu, auch bei der Idee, Planetarien, die ja die größten Bildflächen der Welt erzeugen, in Orten der Kunst zu verwandeln, wo Gameentwickler, Musiker und bildende Künstler erstmals digitale Full-Dome-Technologien benutzen können. Wir wollen hier neue Formen eines affektiven Wissens, von Raumklang und gemeinsamen Bilderfahrungen ermöglichen. Ob das sinnvoll ist? In Zusammenarbeit mit Künstlern entwickeln wir eine neue Hardware für eine andere Art von Spielen, Filmen, Konzerten. Das gab es bisher noch nicht. Was das Gesamtkunstwerk DAU betrifft, ist es nicht die Mauer, die im Zentrum des Projekts steht, sondern die Welt dahinter - das künstlerische Projekt von Ilya Khrzhanovsky, der Hunderte von Wissenschaftlern, Laienschauspielern und Künstlern über Jahre hinweg in Charkiw zu einer Kommune verwandelt hat. Dort schufen sie gemeinsam eine Parallelwelt, die nicht weniger real war als unsere. Eine solche Welt nach anderen Regeln sollten die Besucher des DAU-Kunstprojekts in Berlin in Konzerten, Screenings und Interventionen hinter der Mauer entdecken – als eine sehr zugespitzte Form von secret cinema, in einem ganz neuen Veranstaltungsmodell.
DB: Immersive Formate präsentieren eine Welt mit ihren Regeln. Ist da der mitspielende Zuschauer nicht unfreier, als wenn er den Akteuren im Theater gegenübersitzt und seine Gedankenfreiheit behält? Wie sollen oder müssen sich die Besucher von sich aus in die Konzepte einbringen, damit eine Inszenierung funktionieren kann und weder zu wenig noch zu viel Input erhält?
TO: Im Museum oder im Konzerthaus gelten auch eigene Regeln. Den Unterschied zwischen traditionellem Guckkasten-Theater und dem Genre des immersive theatre kann man aus meiner Sicht mit Foucault als einen Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaftbeschreiben. Es ist ein Übergang vom Stück zum Script. Während die Stücke als zu sprechender Text geschrieben werden, basieren die Aufführungen heute vor allem auf einem Script, das eine spezielle Form von Raum und Regeln für das Verhalten in diesem Raum «vorschreibt». Das Frontaltheater der Disziplinargeschafft hatte natürlich genauso seine Regeln: Stillsitzen, im Dunkeln schweigen, lauschen, nicht husten, nicht rascheln und Applaus am Schluss. In der Kontrollgesellschaft gehen Sie, bildlich gesprochen, plötzlich durch das Portal rein in diesen Bühnenraum. Wenn Sie aber wie bei punchdrunk oder Signa aber mitten drin stehen in so einem riesigen Environment, was ist dann noch die «Bühne»? Immersives Theater lebt sehr von dieser Unschärfe, von dem Gefühl, sich hier in eine «Welt ohne Außen» zu begeben. Und was in ihr passiert, ist das Ergebnis einer Form von Echtzeit-Regie: Während in der Disziplinargesellschaft der Regisseur oder die Regisseurin zu Hause bleibt, sobald die Aufführung im Gestell ihrer Inszenierung festgelegt ist und Premiere hatte, gibt es im immersiven Theater immer irgendwo einen Kontrollraum, von dem aus die anwesend bleibende Regie die Begegnung mit den Besucher*innen live steuert. Als Besucher habe ich aber gleichzeitig das Gefühl, mich überall umschauen und überall hingehen zu dürfen. Dieses «Überall» ist zwar eine Illusion. Aber in der Kunst jederzeit möglich, diese Reise abzubrechen, zurückzukehren oder Widerstand zu leisten. Das kann man in vielen anderen Gebieten unserer Gesellschaft, in denen man sich der Regeln nicht bewusst ist, geschweige denn, dass man eine Wahl hat, leider nicht.
DB: Viele Theater arbeiten mit kostenintensiven Hilfsmitteln wie VR-Brillen und Kopfhörern, um immersive Projekte umzusetzen. Ist das zwingend notwendig oder lässt sich immersives Theater auch anders erzeugen?
TO: Sehr oft ist immersives Theater im engeren Sinne, also Theater, das kein Portal mehr hat und mich als Gast zum Teil der Szene macht, analog produziert. Natürlich kann man VR-Brillen und Echtzeit-Animationen, die auf die Szene projiziert werden, als ein Element einsetzen, dass sozusagen der nächste Schritt nach der Verwendung der Video-Technologie ist. Aber im Grunde geht es um etwas anderes: Es ist der Blick, und nicht das Tool, das sich ändert. Unser Konzept von Realität und Narration sind neu, weniger die Mittel auf der Bühne.
DB: Immersive Konzepte werden immer häufiger ausprobiert, gerade weil sie den Anspruch haben, durch die Verbindung mit Digitalität zeitgemäßer zu sein als das klassische Theater. Denken Sie, dass immersives Theater im Laufe der Zeit das klassische Theater ersetzen wird?
TO: Das Genre des immersiven Theaters verändert selber gar nichts – es ist vielmehr selber Ausdruck einer Veränderung. Wenn Sie an das Entstehen des neuzeitlichen Theaters denken, dann hat es weniger damit zu tun, dass auf einmal ein Kompass oder Fernglas auf der Bühne steht. Nein, das Mittelalter verschwand in der Theaterwelt Shakespeares, indem die alten Typen der Moralitäten in seine individualisierten Heldengestalten eingeflossen sind. Der Mensch Shakespeares hat keinen Gott mehr als Zuschauer und Richter, wie das noch in den Mysterienspielen der Fall war. Und so drückt sich auch das digitale Zeitalter nicht vornehmlich dadurch aus, dass wir VR-Brillen und Laptops auf der Bühne sehen, sondern eher in der Art, in der sich unser Weltbild und unsere Erzählformen ändern, seit es das Internet und diese neuen Medien gibt. Das «klassische Theater» war einst selbst so eine Erfindung – eine Art von Hochtechnologie, die während der deutschen «Klassik» ganz anders aussah als im 20. Jahrhundert. Das Theater des digitalen Zeitalters wird weitestgehend analog produziert – in einer Gruppe von Menschen, vielleicht mehr denn je, aber mit einer völlig anderen Haltung zu dem, was «Figuren» ausmacht, was ihre Sprache oder der kulturelle Schatz ist, aus dem es seine Stoffe und Formen bezieht. «Immersion» ist nur eine erkenntnisleitende Vokabel für einen viel tiefer greifenden Wandel. Die klassische Musik ist auch nicht verschwunden, als es Jazz gab und dieser nicht, als plötzlich Hip Hop erklang.
DB: Uns fällt der Trend zu immersiven Projekten selbst an kleineren Stadttheatern auf. Sehen Sie darin eine sinnvolle Ergänzung des Repertoires oder sollten die Stadttheater solche Formate lieber freien Gruppen und Festivals überlassen?
TO Arbeiten, die eher dem Genre des immersive theatre zuneigen, sind in der Regel nicht repertoirefähig. Wenn sich die Infrastrukturen der Stadttheater plötzlich solchen Werken anpassen, ist das schwieriger als bei freien Gruppen, die sich ihre Strukturen von Fall zu Fall selber schaffen. Aber vielleicht lohnt sich diese Anstrengung, weil man ein anderes Publikum erreicht? Man muss ja nicht auf jeder Spielstätte Repertoire spielen. Und diese originalen und raumschaffenden Werkformen werden über kurz oder lang genauso normal werden wie Video auf der Bühne oder die Mash ups des modernen Regie-Theaters. Für immersive Kunstwerke, die eine sehr lange Auf- und Abbauzeit fordern oder nur wenige Zuschauer zulassen, ist ein Festival schon wirtschaftlichere Umgebung als ein Stadttheater. Wobei, warum eigentlich nicht – es gibt auch hier Gegenbeispiele.
DB: Was ist Ihr persönliches Interesse an Immersion? Sie haben über Botho Strauß promoviert und schätzen meines Wissens klassische Schauspielkunst mehr als manch anderer Intendant oder Dramaturg. Wie fügen sich diese ganz unterschiedlichen Ästhetiken in Ihrer Sicht aufs Theater zusammen?
TO: Auf den ersten Blick sind Botho Strauß Stücke süffiger Schauspielerstoff, dahinter gibt es dieses weite, gedankliche Land. Natürlich ist die Attitüde seiner Stücke bürgerlich. Aber für Strauß sind oder waren die Schauspieler die eigentlichen Philosophen, allesamt große Existenzkünstler. Er hat sie gerne reden lassen. Seltsam, wie dieser ganze Berufsstand aus allen entscheidenden Positionen des Theaters völlig herausgerückt wurde. Wo gibt es einen oder eine Schauspieler-Intendanten? Außer Fabian Hinrichs protestiert auch niemand wirklich. Dabei wird das zeitgenössische Worldbuilding sehr stark vom Spiel her gedacht – Susanne Kennedy hat aus den Niederlanden eine andere Form von Schauspielerkonzept mitgebracht, die nicht mehr textbasiert ist, bei Vinge / Müller entsteht alles aus einer Art Echtzeit-Dramaturgie der Akteure, die spielen und den Fortgang des Spiels im gleichen Augenblick dirigieren. Ilya Khrzhanovsky, den sie vorhin erwähnt haben, hat sich völlig auf die situativen Erfindungen und Dialoge dieser Akteure konzentriert. Diese Radikalität und Intelligenz, das Spiel zu entsichern und eine konzeptionell starke Form zu schaffen, die ja eine völlig freistehende Realität erzeugt, hat mich immer angezogen - bei den genannten Künstlern genauso wie bei Peter Handke oder Botho Strauß. Ich fühle diese Verwandtschaft oder Verbindung sehr stark, auch wenn sich die Künstler untereinander wahrscheinlich totschlagen würden. Aber die totale Immersion ist LIEBE.
Fragen DB: Melissa Korbmacher, Detlev Baur
Interview mit Thomas Oberender zum Schwerpunkt «Immersion im Stadttheater» im November-Heft der DEUTSCHEN BÜHNE