«Unvereinbares Beisammen»
Notizen zu «Pancomedia» von Botho Strauß
von Thomas Oberender
«Der Narr und seine Frau heute Abend in Pancomedia» von Botho Strauß, UA Schauspielhaus Bochum 2001, Regie Matthias Hartmann
Die «Wahrheit» ist, genau wie die «Wirklichkeit», ein Schwellenphänomen, dessen Authentizität gerade aus dem Schwanken seiner Realität entsteht. In den Dogma-Filmen, den Reality-soaps oder Fernsehsendungen, die aus den Mitschnitten von Polizei- oder Überwachungskameras ihr Material beziehen, in den Hollywoodinszenierungen von Realgeschichte und insbesondere in den Nachfolgeprojekten von «Big Brother» kulminiert ein Interesse an der «Wirklichkeit», das sie als eine «gemachte Vorstellung» und beobachterabhängiges «Welttheater» begreift. Es sind gerade die Rückzugsgebiete vor der Allgemeinheit - die Insel, das eigene Haus, die intime Beziehung - die in diesen Fernsehformaten und in den sozialen Netzwerken nun zur öffentlichen Bühne werden. Die Robinson-Projekte der großen Sender zeigen Menschen auf einsamen Inseln, die dem Betrachter selbst- und rollenbewußt zugleich ihr soziales Leben vorspielen. Menschen testen sich in Camps und Containern, lassen sich isolieren und durchsichtig machen in der Hoffnung auf eine Selbsterfahrung und den großen Preis. Diese Orte sind die Modellrealitäten des Westens, soziale Testlabore einer anderen, neuen Art zu leben.
Kontrollierte Gesellschaft der unentrinnbar Freien
Im Falle der gefakten Realitäten der Nachmittagsprogramme warten die Zuschauer auf jene Momente, die ihnen übersprungsartig Einblicke in die Weiten und Abgründe der Testpersonen gewähren. Der Fake ist kein Problem, allen klar und erzeugt auf verrückten Umwegen wieder eine Wahrheit auf höherer Ebene. In seinem jüngsten Stück «Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia» zeigt Botho Strauß ein Tableau zeitgenössischer Figuren, denen man auch nicht mehr im klassischen Sinne nahe kommen kann durch die Kenntnis ihrer Biografie oder Motive. Sie haben, ähnlich wie die modernen Testfallmenschen der Shows und Camps keine Vorgeschichte, sondern immer wieder nur flüchtige Momente einer realen Präsenz, die in Momenten ihrer Entgleisungen und Fehlleistungen aufblitzen. Durch diese Gesellschaftswelt schickt Botho Strauß ein seltsames Paar auf eine Reise: Eine junge Schriftstellerin trifft auf den Verleger Zacharias Werner, einen Wiedergänger aus dem Zeitalter der Romantik - einen Frauenverführer und Schwärmer, einen glücklosen Geschäftsmann, der seiner verlegerischen Mission in allen privaten Umtrieben treu bleibt.
Ort der Handlung ist ein Hotel: Hier treffen sich Gott und die Welt - Nachtportiers und Handlungsreisende, falsche Liftboys und echte Unternehmer, vertrackte Paare und Frischverliebte, alte Käuze, vorzeitliche Zukunftswesen, Geister und Engel. An die hundert Figuren läßt Botho Strauß erscheinen und schafft ihnen Augenblicke der Anwesenheit in einer Atmosphäre unverbindlichen Beisammenseins, des Vorübergehenden und Geschäfts.
Botho Strauß schaut in die Zimmer und Hallen eines großen Hotels wie in die kleinen Gemeinschafts- und Einsamkeitswaben einer Gesellschaft. Darin ist jede seiner Figuren vereinzelt und verbunden zugleich. So erscheint diese «Pancomedia» als eine comédie humaine en miniature: Aus der Fülle zahlloser Figuren, Begierden und Begegnungen entsteht ein Sittenbild gegenwärtigen Lebens. Wie bei Honoré de Balzacs Romanzyklus liegt auch diesem Stück «Weltganzen» eine Suche oder Bestimmung der sie bewegenden Prinzipien zugrunde. Und Ähnlich wie Balzacs comédie humaine lebt Strauß’ Pancomedia von der Ausfällung von Typen, der Anhäufung von Mustern, dem Verweis auf soziale Felder und doch: Nichts schließt sich mehr zur Geschichte. Statt dessen: Augenblicke, Zwischenrufe, Stilleben, unvereinbares Beisammen.
Gesehenwerden
Für mich, der Geschichte als etwas biografisch Einschneidendes erlebt hat, erscheint die Ausblendung historischer Bezugsgrößen (der Mensch, die Zeit, die Entwicklung) sehr ungewöhnlich. Botho Strauß‘ Hotel «Confidence» ist nicht das Moskauer Hotel «Lux» oder das Ostberliner «Palasthotel», in denen Geschichte geschrieben wurden – Günter Gaus und Alexander Kluge haben sie erzählt. Nein, in Strauß‘ Hotel «Confidence» herrscht eine andere Art von Diplomatie und ihr erscheint Geschichte, wo sie sich als Erzählung aufdrängt, als Zumutung. Man erlebt dies sinnlich, wenn Zacharias Werner zum Broterwerb für eine Werbeagentur eines Tages Fotomodells sichtet: In einer Vorauswahl soll er jene Frau finden, die in einer bestimmten Pose den besten Eindruck macht. Er ist, so sagt er selbst, der «Protokollant des ersten Eindrucks». Aber kaum eine Bewerberin kann das Casting verlassen, ohne ihm ihre Geschichte zu erzählen, ihn wenigstens ansatzweise in eine Auseinandersetzung zu verwickeln. Eine nach der anderen rückt ihm nahe und packt aus. Und der Protokollant des ersten Eindrucks kommt einem immer bemitleidenswerter vor - Körper, Gefühle und Geschichten zusetzen seinen ersten Eindruck. Vielleicht ist «Pancomedia»eine Erinnerung daran, dass es noch ein anderes «Gegenüber» gibt und geben muss im Leben der Menschen. Dass es nicht nur der jede soziale Nische observierende Blick von «Big Brother» ist, vor dem wir erscheinen, sondern dass es auch ein Gesehenwerden ohne Sprechstunden gibt.
Der Narr
Wenn man Zacharias Werner über die Bücher sprechen hört, die er verlegt, entsteht der Eindruck, er sei ein Verleger, der seine Bücher wahrscheinlich «blind» gelesen hat, ebenso wie er sie «blind» liebt und ihnen blindlings in jede Lebensfalle folgt. Er versucht mit Dingen sein Glück zu machen, die sich ihm weder ganz erschließen - sein Fauxpas bei den Skrjabinschwestern ist dafür ein sicheres Indiz - noch dass er sie ganz besitzen kann. Doch in jedem «seiner» Bücher inkarniert sich für diesen Verleger etwas, dem er rückhaltlos dient und mit dem er eben immer wieder versucht, sein Glück zu machen. Es wirkt, als bliebe das, was sein Leben ausmacht, ihm letztlich etwas Fremdes, etwas, dem er sich verschrieben hat, dessen er sich mit wechselndem Erfolg bemächtigen kann, an das er glaubt und von dem er, wie jeder Gläubige, eher schwärmt, statt in klaren Worten zu sprechen. Und doch treibt es ihn immer wieder in die Nähe und in den Bann der Bücher, jener fremden Welt, die er verehrt, umkreist und der er huldigt wie ein Kind, das einen Namen liebt, zu dem es keinen Menschen kennt.
Das schwer zu Fassende an der Figur ist die Mischung aus Berechnung und Unschuld, Naivität und Cleverness. Er weiß zu wirken und zieht ein ums andere Mal in hoffnungsloser Lage einen Trumpf aus der Tasche. Wenn man diese Figur als die andere Seite der Autorin begreift, nicht nur als Mann an der Seite der Frau, sondern auch als Lebemann an der Seite der Zurückgezogenen, als Geschäftsmann an der Seite der Künstlerin, so fällt auch die Überhöhung dieser Figur auf - der Streuner, der Bel Ami, Aufschneider, der so gar nicht ist, was die Autorin ist - diszipliniert, ehrgeizig, reflexiv. Seine soziale Realität als jobbender Kleinverleger, woher kennt man das? Zacharias Werner hebt nie ab. Wo macht er eine Erfahrung? Er macht sie weder mit der Literatur, für die er sich einsetzt, noch mit den Frauen, die sich im hingeben. Wo geht es mit ihm durch? Warum liebt ihn Sylvia Kessel? Vielleicht weil sie spürt, dass dieser Mann einer Sache dient und nachjagt, die er nie besitzen wird und der er sich doch ganz verschrieben hat, genau wie sie sich der Literatur. Es ist dieses hoffnungslos Narrenhafte an ihm, was ihn anders macht, weil er von etwas Anderem angetrieben wird, das sich nicht vergesellschaften läßt, nicht ummünzen in wirtschaftlichen Erfolg.
Es ist diese Glücklosigkeit, die diesen Zacharias Werner so begehrt macht. Zacharias investiert sich in die Frauen, aber liebt sie nicht. Er ist der Typ des windigen Charmeurs, der sympathische Möchtegern, er ist ein Spieler. Und so, wie man sich in ihn vernarrt, hält er die anderen zum Narren. Am Rande der Katastrophe hält er die Balance und kommt so sekündlich über den Moment des drohenden Absturzes hinweg - genau dieser Balanceakt hält ihn auf Trab. Zacharias Werner zeigt sich windig und wendig, paßt sich jeder Situation an und rettet sich durch schamloses Übertreiben, was ihn gelegentlich auch um Kopf und Kragen bringt. Er bleibt sich treu, indem er niemandem treu ist. Eben das macht ihn zu einer «asozialen» Figur, nicht im Sinne der verwahrlosten Erscheinung, sondern im Sinne der Ungebundenheit. Zacharias Werner ist jene Figur, die den Geist der Komödie darstellt - der alle narrt, ihnen die Sinne und den Sinn verwirrt, der sie erhebt und fallen läßt, an den man sich klammert und der durch das Stück führt. Und es ist natürlich eine Tragödie, dass das einzige Paar, das innerhalb des Stückes eine Geschichte bekommt, eines ist, das nie zusammenkommen wird.
Das Inkommensurable
Botho Strauß’ Dramaturgie zielt auf das Inkommensurable, auf jene Dinge, die sich als Zwischenfall gegen alle Berechnungen hindurch einstellen, ja: diese Dramaturgie ist so berechnet, dass der Zwischenfall ständig provoziert wird. Die Texte leben auf, weil der Dialog voller Überraschungen ist, voller Brüche in der Argumentation, Übersprungshandlungen und Unerklärlichkeiten. Im Zentrum der meisten Szenen steht solch inkommensurables Moment: das dreiste Dazwischenquatschen irgend eines Passanten, die süße Unverschämtheit einer schönen Frau - die Redeanlässe sind oft nichtig und meist vollkommen willkürlich. Mitten im Gespräch zwischen zwei Figuren bricht etwas weg und zusammen, das einen entscheidenden Einblick gibt. Dieser Realismus des Bruchs braucht kein Vorher und kein Nachher, kein Umfeld und keine Ursache, sondern ein plötzliches und jähes Jetzt. In all ihrer Beredsamkeit «vernebeln» sich diese Figur ständig. Den «ganzen» Menschen will Strauß weder zeigen, noch kann er ihn sich vorstellen. Vielmehr bläht er einen Aspekt dieses augenblickshaften Wesens so auf, dass ein Nadelstich reicht, und schon offenbart sich die Hülle einer ganzen Person in einem lauten Knall. Das Inkommensurable ist Strauß’ Generalschlüssel zum Wesen der Menschen.
Wer an die Zwangsläufigkeit des Geschehens und die Geschlossenheit der Charaktere nicht mehr glaubt, muss raffiniertere Brechungen erfinden, um unseren Gefühlen noch einmal nahe zu kommen. Strauß’ Dramaturgie schafft Sonder- und Ausnahmesituationen zu Gelegenheiten, die wie bei einem Bewerbungstest oder inmitten einer Hotelatmosphäre eher konventionell und unpersönlich sind. Doch gerade dadurch investieren sich die Figuren sehr stark, und sie können es, weil sie von der Neutralität der Ausgangssituation geschützt sind. Ihre Begegnungen werden fast alle durch Arbeits- oder Geschäftsanlässe motiviert - nichts Innerliches treibt sie an, und blitzt gerade deshalb auf, wenn die Dinge schief gehen.
Die poetische Behauptung
Botho Strauß’ Figuren können etwas veröffentlichen, das sonst weder so einfach formulierbar ist, noch preisgegeben wird. Es gibt von Seiten des Autors ein sehr einseitiges Interesse daran, was eine Figur über die Liebe, seine Arbeit als Vertreter oder die Mayas zu sagen hat – das ist interessant, davon will man mehr hören und zugleich soll das Geschehen nichts damit zu tun haben, wie ein Mensch «wirklich» in ein Zimmer kommt, es verläßt, jemanden begrüßt usw. Um diesen speziellen Zugriff auf etwas Hypertrophes zu erlangen, konstruiert Strauß geschickte und immer auch amüsante Ausnahmen, Übertreibungen und Abweichungen, um dann einen Zipfel Normalität zu erwischen. Es geht um die Musik der Szenen. Darum, dass der Dialog läuft - über wen, ist fast egal. Der Dramatiker muss dafür Partikel einfangen, die eine Vertrautheit assoziieren und vergessen machen, dass die dramatisierte Welt insgesamt extrem willkürlich und unwahrscheinlich ist. Botho Strauß schreibt zum Beispiel eine Figur, die in den Dialog von anderen Figuren rücksichtlos immer wieder hineinspricht und die Szene so dominiert. Was wir beobachten, ist die Störung. Was durch sie passiert ist, dass das Gespräch hörbar wird. Als Dramatiker kann Botho Strauß die Sprachformen derart wechseln und variieren, dass er den Panzer der Sprache und Codes tatsächlich immer wieder knackt und seine aufgerissenen Figuren für Augenblicke als die monströsen Menschen sichtbar werden, die sie wohl wirklich sind. Es geht in seinem Werk seit Anbeginn um die atmosphärischen Erschließung von unhintergehbaren Momenten, die den Menschen die Balance rauben und sie dazu nötigen, für kostbare Augenblicke aus der Rolle zu fallen. Wobei sie auch in ihren Rollen kostbar sind. Im Drama hat Botho Strauß mit seiner poetischen Behauptung etwas entwickelt, das die Wahrhaftigkeitslüge der Bühne wieder annehmbar macht. Durch Brechungen und Zuspitzungen gelingt es ihm, eine schwebende Unwirklichkeit zu schaffen, die seine Figuren aus einer so großen Fremdheit zu uns sprechen lassen, dass sie sich in bestimmten vertrauten Aspekten wieder als Identifikationsobjekte anbieten.
Im Medienzeitalter sind wir durch den Film ganz atemberaubende Distanzierungsformen gewohnt, so dass es, paradox gesprochen, im Theater immer raffiniertere Entrückungen braucht, um uns die Figuren noch einmal nahe zu bringen. Botho Strauß hat einen Weg gefunden, uns für Menschen und Probleme zu interessieren, eben weil es nie mehr um den ganzen Menschen geht, sondern um gewisse menschliche Züge, typische Seiten, bekannte Probleme.
Abschied von der Geschichte
Den durchkontrollierten Drehbuchrealismus vermeidet Botho Strauß vermittels von Abschweifungen, die nicht wirklich Abirrungen sind, sondern Variationen eines Themas (Mann und Frau, Anfang, Immerdar, der Künstlergott), das zwar das Stück bestimmt, doch nicht mehr die Fabel im traditionellen Sinne. An ihre Stelle tritt ein zentrumloses, dynamisches Geflecht, dessen Organisationsprinzip eher musikalischen Regeln folgt. Bei dem Versuch, die «Pancomedia» zu kürzen und einzustreichen, besteht nicht nur die Gefahr, wesentliche Leitmotive zu kappen, sondern eben auch den musikalischen Fluß zu stören, der dieses Stück belebt.
Wie der Titel annonciert, hat Strauß’ Stück zwei Ebenen: Einerseits die Paargeschichte vom Verleger und seiner Autorin. Und neben dieser «Entwicklungsgeschichte» ohne wirkliches Ende die Ebene der «Pancomedia», einer Welt, in der das Paar mitspielt und durch die es den Zuschauer wie eine Sonde führt. Manchmal berühren sich diese beiden Stränge wie in der Szene «Liftboy»: Figuren gehen und kommen wieder, nichtige Gründe zeugen dann die schönsten Offenbarungen. Am Anfang wird ein Grund geschaffen, mit Sylvia Kessel an diesem Ort auf Zacharias Werner zu warten und am Ende wird dieser Anlaß auch eingelöst. Doch dazwischen: Zufälle, Besonderheiten. Sie schaffen das atmosphärische Set dafür, den Plot, das Triviale, die notwendig zu erzählende Geschichte (ein Buch ist erschienen, Zacharias noch immer vorm Bankrott) zu vermitteln, ohne dass dies in einer voraussehbaren Weise geschieht. Stattdessen «passiert» es. Die Entwicklungsgeschichte und Figurenbeziehungen haben immer etwas Beiläufiges.
Menschen, wie sie Strauß zeigt, kennt man, ohne ihr Leben noch in weiten Bögen erzählen und zeigen zu müssen. Das Besondere liegt im Typischen, das der Autor wie beiläufig erfasst und an die Stelle des Einmaligen setzt. Ähnlich wie der Plot erscheinen auch die Figuren nur als Umrisse, die sich der Betrachter mit seiner Phantasie zu plastischen Wesen auffüllt. Dass der Plot weitererzählt wird, erscheint durch dieses Verfahren so diskret, dass man sofort hinhört, wenn es zur Sache geht. Strauß geht stets direkt auf das zu, was ihn interessiert und Ibsens Mühe, ein uns bekanntes Leben zu etablieren, macht er sich gar nicht erst.
Schauspieler
Er setzt stattdessen auf die Artisten, durch deren Spiel die Einzelteile ihrer Figur stimmungsdicht verbundenen werden. Nur Schauspieler schaffen es, die flüchtigen Partikel seiner Dialoge wieder zusammenzusetzen und ihnen eine erlebbare Form zu geben. Sie verbinden, in bestimmten Augenblicken, den Moment eines Lebens mit der Totalität eines Lebens. In diesem Bühnenmoment ist das gesamte Vorher und Nachher des Figurenlebens instant vorhanden - Sterben und Weiterleben gleichzeitig. Die poetische Behauptung und das Inkommensurable der Partituren von Botho Strauß ist auf diesen Resonanzraum im Medium des Schauspielers hin angelegt, in dem sich das geschriebene Wort erst «erfüllt». Botho Strauß schafft durch die disparaten Elemente ein Klima der Offenheit und überläßt es den Schauspielern, die verschiedensten Angebote zur Auslegung ihrer Figur zu unterbreiten: Um welchen Wunsch geht es bei einer Figur wie dem Liftboy? Den Wunsch, zwischen den Etagen verführt zu werden? Oder nur um die Erfüllung eines Kinderwunsches, eben ein Liftboy zu sein? Oder wünscht sich die Figur nur ein Zubrot zum Bürojob? Lockt sie die Rolle als Seelenbegleitung einsamer Menschen? Und umgekehrt: Wie wird mit diesen Wünschen umgegangen? Werden sie mißbraucht? Ist Zacharias Werner einfach nur ein charmanter Sonderling ohne Tiefe und Hintergrund? Oder ist er jemand, der jedes Risiko auf sich nimmt, um aufrichtig bleiben zu können? Botho Strauß hält all diese Möglichkeiten auf dem doppelten Parkett seines Textes in der Schwebe. Er gibt den Schauspielern die (oft mit radikal einseitigem Interesse ausgewählten) Ingedenzien von «Realfiguren», und läßt sie dann aber Dinge tun und sagen, die realiter nicht passieren. Sehe ich nun gerade einen tollen Kerl oder einen armen Wicht? Wenn ich mich auf diese merkwürdig überblendeten Wesen einlasse, dann auf welche Dimension meines eigenen Lebens?
Ambivalenzen
Wenn jemand auf die Welt schaut und sagt, ich muss lachen, erscheint diese Welt komisch. Wenn jemand auf die Welt schaut und sagt, ich muss weinen, wirkt diese Welt tragisch. Ähnlich wie Tschechow gelingt es Botho Strauß eine Welt zu erzeugen, in der man den Mut hat, beides gleichzeitig zu sehen und die Welt in der Schwebe zu halten. Auf der Bühne braucht diese Überblendung zweier Perspektiven eine Suggestion, die den Betrachter im Zweifel läßt, in welchem Genre er sich gerade befindet. Betrachtet er gerade einen Film von Federico Fellini oder Stanley Kubrick? Die ganze Anspannung des Dramatikers Strauß dient letztlich dazu, diese Offenheit zu erhalten. Seine besondere Kunst kommt in der Musikalität zum Ausdruck, mit der er das Disparate und Schiefgehende, die innere Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit aller Elemente letztlich in einer «loyalen» Grundatmosphäre bindet. Wenn dies in der Aufführung gelingt, kann ein solches Stück das Abenteuer der Gleichzeitigkeit entfalten, kann es, wie die alten spanischen comedias ein Gesamt erzeugen, das die verschiedensten Genres überblendet.
Und könnte es nicht sein, dass auch dieses Stück - ähnlich wie die katholischen comedias - eine Aufforderung zum Leidenlernen ist? Bei all der heiteren Oberflächenbewegtheit der Strauß’schen Pancomedia fällt doch auf, dass die Menschen in diesem Stück nicht immer freundlich miteinander umgehen. Die Figuren sind in ihrem Innenraum extrem weitläufig, rätselhaft, sensibel. Nach außen, unter der Folie höflicher Worte, verhalten sie sich zueinander jedoch meist unverpflichtet, einander wägend und prüfend, sich kaum einander ausliefernd. Ein Vater läßt für zwei Tage seinen früherwachsenen Sohn allein zurück - parkt sein Kind in der Serviceanstalt des Hotels. Der Vorgang ist an sich erschreckend, wirkt jedoch unter der Gesprächsmaske der Bildungsarbeit des Vaters am Sohn ganz normal. Im Grunde sind die Anlässe häufig grotesk, absurd, die sich daraus ergebenden Vorgänge jedoch immer wieder ungeheuerlich - man sieht und hört ganz nebenbei: eine Frau wird gesteinigt, Ohrfeigen schallen, Rausschmisse, Beleidigungen und man vergisst durch die Leutseligkeit der Redenden leicht, wie böse sie oft zueinander sind. Die Stimmung im Hotel erinnert an eine alt gewordene «Kommune 1»: Im Namen der Lust und Selbstverwirklichung darf niemand auf den anderen Ansprüche erheben, Treue, Verbindlichkeit, verläßlichen Einklang gibt es nicht. Der Komiker, der dies Leben betrachtet, sagt, es sei zum Lachen. Der Tragiker findet es zum Heulen. Daran erinnern auch die Worte, die Sylvia Kessel während der exponierenden Lesung spricht: «Niemanden hat je seine Freiheit, hat je das Recht, seine freie Wahl zu treffen, davor bewahrt, auf seinem Weg zwanghaft immer wieder dem Irrtum, dem Scheitern, dem Schmerz zu begegnen. Nichts anderes gibt es unter der Herrschaft der Zeit als Irrtum, Scheitern und Schmerz.» Wir lachen herzlich über die Kapriolen, mit denen die Figuren auf die Bühne purzeln, aber kaum sind sie vorüber, bleibt einem das Gelächter im Halse stecken. Hat dieser immense Aufwand an szenischer Spontaneität nicht immer diesen Nachhall eines bodenlosen Fatalismus im Hinblick auf unseren Traum vom selbstbestimmten Ich und der Vernünftigkeit der Verhältnisse? Botho Strauß sagt einerseits, dass unsere Zeit täglich ärmer wird. Andererseits sieht er zugleich den unglaublichen, flüchtigen Reichtum diese Pancomedia. Und so gibt es in diesem Stück Sätze, die aus dem Munde verschiedenster Figuren gesprochen, immer wiederkehren. Sätze wie: «Aber dann geht’s erst richtig los.», oder: «Dann ziehen wir die Sache hoch.» Es sind Sätze, die die Welt mit lachendem Auge als komische Welt zeigen. Und zugleich enden die Monologe von Schwager Oswald, jener großen Figurenschöpfung von Botho Strauß, einer emblematischen Figur, in der das Monströse und Gewinnende des sich in seiner Machtfülle untastbar verströmenden Kapitalismus gerinnt, mit den Worten: «Wenn nur alles gutgeht.» Es ist dieser doppelte Blick auf die Phänomene, der dieses Stück einerseits so klar, andererseits auch so unergründlich macht.
Welt ohne Finale
Die Pancomedia betrachtet eine Gesellschaft, nicht ein bestimmtes Milieu; sie porträtiert den emotionalen Kapitalismus und zeigt die Menschen nicht einer Galerie wie Jahrzehnte zuvor in der «Trilogie des Wiedersehens», sondern im Hotel, das keine spezifische Gruppe beherbergt, vielmehr potentiell alle. Zwar ist auch Strauß’ Hotel «Confidence» eine Art Laborstation, doch es ist eine Welt ohne Finale. Statt des Showdown kreiert er geschichtete Augenblicke und eine Kette der Demütigungen, des komischen Scheiterns der Absichten an den Umständen. In diese komischen Malheurs schleicht sich zugleich eine Ahnung zwingenderer Dynamiken ein - am deutlichsten sicher verkörpert durch die Geschichte einer scheinbar so peripheren Figur wie Heike, die von Anfang an eine «Beigesellte» ist, eine Frau, die sich in die Gesellschaft im Hotelfoyer immer wieder einschleicht und von ihr ausgestoßen wird, bis am Ende ein Engel des Todes erscheint und sie abholt, bevor die Schmerzen unerträglich werden. Statt der runden Geschichte sucht der Autor in «Pancomedia» den Augenblick und in ihm die runde Zeit, die Wiederkehr. So spielt der Dramatiker mit der Geschichtlichkeit des Mediums selbst: Zacharias Werner ist als Typ ein Wiedergänger des romantischen Dramatikers und angeknacksten, ordensgründenden Bonvivant gleichen Namens. Alfredo und Vittorio erinnern an die zeitlosen Gesellen Bouvard und Pécuchet und auch die vorzeitlichen Zukunftswesen Agrypnia und Phintys sind halb erfunden, halb gefunden. Vor dem Betrachterauge sind die Menschen zugleich gebannt und dennoch «außer Kontrolle» - der Held ist ein Narr, die Heldin eine Gesellschaftslose, der Chor ein Pandämonium unserer Zeit und ihr aller Gesehenwerden läuft nicht auf das Bloßstellen der eigenen Person hinaus, sondern auf einen anderen Begriff von «Gegenwart» – Strauß’ Pancomedia kreiert eine Welt der Brüche und Wiederkehr: Zwei komischen und vertrackten Formen, sich dem schwierigen Problem des Wahren und Wirklichen zu nähern.
(Abgedruckt im Materialbuch zu «Pancomedia» des Schauspielhaus Bochum und gekürzt im Tagesspiegel Berlin, 7. April 2001)