«Echtzeittheater»
«And in the Thousandth Night» von Forced Entertainment
von Thomas Oberender
«And in the Thousandth Night» ist, wie das wenige Jahre zuvor entstandene Werk «Quizoola!», ein über wenige Regeln weitergegebenes Ritual von Forced Entertainment. Es erzeugt eine Überfülle von Geschichten, aber keinen Dialog, eine intensive Reaktion der Spieler aufeinander, aber kein Zusammenspiel in konventionellen Sinne. Das im Jahr 2000 zum ersten Mal aufgeführte Stück ist eine über sechs Stunden dauernde Improvisationssession, bei der sieben Königinnen und Könige sich zunächst Geschichten über Königinnen und Könige erzählen, die erfunden oder erinnert werden und dann mit der Zeit zunehmend zu Geschichten über Gott und Welt werden, verkörpert von den Mitgliedern einer Kompanie, die nun schon 32 Jahre lang gemeinsam Theater spielen.
Irgendwie noch immer jugendlich wirkend, sitzen sie warm angeleuchtet vom Rampenlicht auf ihren Stühlen im Nationaltheater in Stadt Oslo, nur eine Armlänge entfernt von der ersten Reihe im Saal. Sie tragen billige Pappkronen und karminrote Togas über ihren Alltagssachen. Barfuß gehen sie im Verlauf des Abends in Richtung des roten Vorhangs in der Bühnentiefe, vor dem eine große Tafel mit Speisen und Getränken steht.
Diese Darsteller sind, nachdem ich sie über Stunden ein aufs andere mal neue Geschichten hervorbringen, fortsetzen oder mit dem Wort «Stopp» bei ihren Mitspielern unterbrechen sah, tatsächlich Könige: Der König ist der Souverän, derjenige, der die Erzählung stiftet, der das Sagen hat. Um dieses «Sagen haben» ringen die Performer in dieser Aufführung über sechs Stunden - mit einer scheinbar unerschöpflichen Erfindungskraft und Plastizität im Ausgestalten der jeweiligen Stories gestalten sie über all diese Stunden hinweg ihren epischen Parcours: Jeder spricht immer nur so lange, wie die Mitspieler dies gestatten. Ständig droht die Intervention eines der anderen Mitglieder der Gruppe, welche dann unmittelbar mit seiner Geschichte in die von einem anderen vorgetragene Geschichte einbricht und wieder von vorn anfängt, immer so, dass nie nur eine bloße Weiterführung des bereits Gesagten geschieht, sondern ein Gegenentwurf, ein Antwortspiel. Je spannender eine mit «once upon a time» begonnene Erzählung startet, um so mehr fürchtet das Publikum die neuerliche Unterbrechung, weil ein anderer Performer genau jenes narrative Setting, wie es sein Mitspieler gerade etabliert hat, variieren möchte, ablehnt, mit einem noch lustigeren oder erschreckenderem Dreh durch seine eigene Autorenschaft ersetzt. Harold Blooms «Einflussangst», die das Schreiben großer Autoren mit ihrer großen Angst vor der Übermächtigkeit ihrer Vorbilder begründet, wird hier zu einer «Einflusslust». Die Überlappung der Erzählmotive, die Reihung bestimmter Storymuster, das Spiel mit dem archaischen Märchenton oder Unbehagen ganz offensichtlich auf Horrorgeschichten und Fantasyfilme verweisender Details - all das erzeugt einen permanenten Wechsel von Haltungen, Stoffen, Erzählwelten, weil die Routinen des Erzählens permanent gebrochen werden. Die an sich schreckliche Intervention auf dem Höhepunkt der Story sorgt dafür, dass die Neugier des Publikums ständig geweckt bleibt und es sich über den Wettstreit der Königinnen und Könige auf der Bühne amüsiert, von ihrer Geistesgegenwart mitgerissen ist und irgendwann, nach vielen Stunden, genauso in dieses Kräftemessen einbezogen ist, wie die Performer selbst. Wer hält länger durch?
Der Abend begann mit der Wiedergabe der Story von «King Lear» und wahrscheinlich haben viele Besucher sich an eine der jüngsten Arbeiten von Forced Entertainment erinnert, wiederum einer Form von epischem Erzähl- und Demonstrationtheater, das Shakespeares «Complete Work» mit Haushaltsgegenständen im Stile eines guten Schauspielführers vorexerziert. Auch bei den «Complete Works» aus dem Jahr 2015 waren die Geschichten pur und analytisch als die Geschichten eines anderen Autors vorgestellt, was über die Jahre zu einer typischen Geste der Kompanie wurde – erzählen heißt immer auch, die Erzählung selber thematisieren und die Autorenschaft sichtbar zu machen. In «The Complete Work» von 2015 ist es die analytische Reflexion und gleichzeitig die Aufführung einer Erzählung, die in dieser Mischung aus zeitgleicher Darlegung und Hinterfragung faszinierend und unterhaltsam wirkt. Die Performer legen die Verhaltensweisen von Shakespeares Figuren durch eine einerseits demonstrative Attitüde offen – sie schauen auf diese Figuren immer wie ein Forscher aufs Insekt, zugleich aber «sind» sie dieses interessante «Insekt» und zelebrieren seine Form. So entsteht eine doppelt Darstellung, wenn der Performer die Performance einer literarischen Figur als Form vorzeigt und darin seine eigene Aktualität vorführt. Ähnlich ist dies bei dem wesentlich älteren Stück «On the Thousandth Night» - auch hier wird am Anfang des Abends der Märchen- oder Mythenton angeschlagen, der nur archetypische, namenlose Helden kennt: den «König» und die «Königin», den «Krieger», die «Berater», den «Riesen», das «Kind», die «Schwester», der «Findling». Dieser Urton des Erzählens wird von den barfüßigen Königen später in den Bereich des Zeitgenössischen und Phantastischen verschoben. Insofern gibt es doch eine Entwicklung, denn das Stück schöpft seine Stoffe und Figuren zunehmend aus den Erzählgenres unserer Tage - mit ihren Stargates und Wunderwaffen, den Marvelhelden und einem neu erfundenen Mittelalter – ohne aber den zu Beginn angeschlagenen Ton des Archetypischen zu verlieren.
Selten kann man «nacktere» Perfomer sehen – wie in «Quizoola», ihrem ritualhaften Urstück, zwingt diese Arbeit die Darsteller zum Erfinden und Improvisieren und zerstört durch die ständigen Unterbrechungen und Wiederholungen mit ihren kleinen Sinnverschiebungen das Aufkommen von Routine. Es ist ein offenes Stück, dessen Text, wenn man so will, live geschrieben wird. Fest stehen, innerhalb eines nie fixierten Korpus aus Motiven und Stories, nur gewisse Regeln wie das Wort «Stopp», um einen anderen in seiner Geschichte zu unterbrechen, oder die bereits erwähnte Floskel «once upon a time» um mit der eigenen Erzählung zu beginnen. Jeder Darsteller darf die Frontlinie der an der Rampe postierten Erzähler ab und an verlassen, um im Verlauf des Abends im Bühnenhintergrund zu essen oder sich für eine Weile zu erholen, aber im Grunde geht es wie in «Quizoola» um eine planmäßige Herstellung von Erschöpfung, Loslassen und der kollektiven Koproduktion eines Patchwork von Stoffpartikeln, Geschichtsfragmenten. In dieser entsicherten Spielsituation treten irgendwann unweigerlich die Konturen der eigenen Konstitution und Eigenarten Performer hervor, sie haben wenig, womit sie sich vor dieser Offenlegung tieferer Persönlichkeitsschichten schützen können – keinen feststehenden Text, keine Regie, keine Ausstattung, die an ihrer statt etwas sagt oder zeigt. Würde man die literarischen Grundlagen des Stückes aufschreiben, bei «Quizoola» waren dies immerhin noch an die 30 Seiten mit Spielregeln und Fragen, so wäre dies im Falle von «And in the Thousendth Night» wahrscheinlich mit einer A4-Seite erledigt. Das restliche Stück steckt in den Körpern der Performer, ist ihr Geist und ihre Spiellust, die von dieser so knapp zu skizzierenden Ritualform freigesetzt werden.
Offensichtlich wird diesem Stück nichts mehr abgebildet, hier wird kein literarischer König verkörpert und das Ganze läuft auch auf nichts hinaus. Im Grunde ist am Schluss für die Perfomer nichts anders als zu Beginn, außer, dass sich ihr Zustand verändert hat – sie haben einen Marathon hinter sich und in dessen Verlauf eine Form von Gegenwärtigkeit «hergestellt» oder besser: gelebt. Das Stück macht keine Verneigung in Richtung des Aktuellen. Vielmehr schafft es Momente von Anwesenheit von Menschen, die kein backup für die erlebte Situation besitzen, die konstant präsent und gefordert sind und so entstehen kostbare, durch Ermattung oder Fehlleistungen hergestellte Momente der Ruhe, der Ratlosigkeit, des Gedankenblitzes, der Rührung, der Stille, die unter dem großen Dach des Theaters Raum greifen und ausschließlich von diesen sieben Königen und Königinnen ausgehen. Sie machen die Echtzeit groß, indem sie anfangen, wie Tim Etchells das in Oslo bei einem Gespräch anlässlich der Auszeichnung mit dem Ibsen Award nennt, «einen Dialog mit dem Gegenwärtigen» zu führen. Sie interagieren mit dem Jetzt, in das sie mit ihren improvisierten Erfindungen eintreten, dem sie durch die Macht der Unterbrechungen immer wieder Einfallstore schaffen, Schrecksekunden, und so kreieren sie eine sehr intensive Echtzeiterfahrung. Diese Freiheit ist ganz anders konstruiert als bei einem Theater der bekannten Texte und erprobten Situationen – hier sieht das Publikum keine geistvolle Vergegenwärtigung, sondern ein Theater der permanenten Geistesgegenwart, der hochsensiblen Tuchfühlung mit dem, was gerade passiert, notwendig ist, vom Publikum und den anderen gestattet oder erfordert wird. Jeder der Performer setzt sich dafür selber ins Recht und riskiert den Blackout. Das Publikum schaut fasziniert zu, wie diese sieben Leute um Einfälle und gute Unterhaltung kämpfen und wie sie dabei auf fast nichts zurückgreifen können.
Der live «geschriebene» Text, den sie über sechs Stunden erzeugen, funktioniert wie ein Hyperlink-Text und dies ist dann wahrscheinlich doch ein Form gewordenes, direkt zeitgenössisches Charakteristikum dieser Arbeit. Denn obwohl dieses epische Theater von Forced Entertainment wie in der Antike auf dem Erzählen auf der Bühne beruht, dem Einzelnen vor den Vielen, der kaum mehr braucht als eine Bühne, eine Maske und Zeit, so dieses Stück vielleicht nicht denkbar ohne die nervösen Verhaltensgewohnheiten, die parallelen Erfahrungswelten und verzweigten Denklinien, wie sie durch die digitale Kultur des Internets in die Welt gekommen sind. Die Performer klicken ihre Mitspieler mitten im Erzählfluss weg, zerstreuen oder spiegeln einzelne Motive und Assoziationen, indem sie «die Seite» wechseln und verfahren und spielen dabei im Grunde «analog» genauso, wie sie es in der digitalen Welt gewohnt sind. Zwar erzeugt «And in the thousendth night» auch die Situation eines ausgelassenen Partygesprächs, wo einer dem anderen ins Wort fällt, jeder noch einen drauf setzt auf die Pointe des anderen oder sie untergräbt; aber Forced Entertainment geht mit diesen rhizomartigen Narrationen dann doch um wie der Algorithmus einer Suchmaschine - sie analysieren die Elemente der Rede ihres Nachbarn auf der Bühne, passen sie in komplexe Settings ein, aus denen sie mit einem anderen Muster antworten, das aber ähnliche Kenngrößen wie eine spezielle Person, einen Handlungsort, bestimmte Problem oder Skandalon hat. So ist Forced Entertainments live-Produktion von Geschichten auch eine live-Analyse der Produktionsmechanismen von Geschichten und eine ständige Offenlegung der Strickmuster von Stories, die sie zeitgleich zelebrieren. Es ist wie im Internet – während wir dort etwas suchen, geben wir selber zugleich immer auch Antwort. «And in the thousendth night» ist ein narrativ battle, der eine mitreißende Form von Theater erzeugt, die nichts mehr repräsentiert oder abbildet, aber situativ und vollkommen entsichert alles ist, wovon Theater sonst «nur» handelt. Das Stück erzeugt Gegenwart statt Vergegenwärtigung und in ihm ist alles aktuell statt «nur» zeitgenössisch. Man kann in diesen intelligenten, tastenden, fragilen Formen die Zeit lesen, die jene Stücke hervorgebracht haben, aber seltsamerweise ohne dass auch nur ein Bildschirm oder Bit auf der Bühne vorkommt. Denn Technologie wurde, wenn dies in den Proben und der Arbeit dieser Kompagnie überhaupt je eine bewusste Rolle gespielt hat, vollkommen zur sozialen Verhaltensweise, zu einer «Technik des Selbst», der Kommunikationshaltung im Zusammenwirken mit anderen, mit Wissen und Gefühlen. Vielleicht gehen künstlerische Formen wie «And in the thousendth night» den kulturverändernden Kräften, wie sie das Digitale oder Globale darstellen, auch nicht hinterher, sondern ahnend voraus, in jedem Fall aber zeigen sie, dass es mit dem alten Spiel der Körper und der Virtualisierung der Welt im Stück so schnell nicht vorbei sein wird.