«Ich habe kein Interesse daran, dass die Leute mich verstehen.»
Über die Stücke von Harold Pinter
von Thomas Oberender
Harold Pinter, ja, er lebt noch. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich grosse Aufführungen seiner Stücke von Regisseuren meiner Generation gesehen habe. Bewegende Inszenierungen waren die Arbeiten von Jürgen Kruse und Wilfried Minks, auch an Jahren reife Künstler, die Pinters Texte als hermetische Welten begriffen, mit einer eigenen Realität, Logik, Zeit. Künstler, die Pinters Stücke nicht ins «Heute» übersetzten, die also seine Figuren nicht mit Gucci-Einkaufstaschen über die Bühne laufen liessen und ihnen trendige Wohnzimmer bauten, sondern ihre Gegenwart aus ihrer Ferne her entwickelten. Wie jung waren Pinters Stücke in solch halbdunklen, dem Jetzt grundsätzlich entrückten Räumen: Zwei junge Männer, die in Jürgen Kruses Inszenierung von «Der Stumme Diener» Ganoven spielen, in einem Raum, der zur dritten Figur wird, gefährliche Typen, halb Kind, halb Killer; halb Freund, halb Feind. Dieses Spiel der Figuren einerseits mit der Rolle, die sie innehaben, als Maske und Auftrag, und andererseits zwischen ihnen, zeigt wie Macht funktioniert, wie die Spielchen zwischen Menschen den Menschen erst «machen»: das hat eine schöne Lebensklugheit und – wie in den meisten seiner Stücke – eine frappierende Pointe.
Jürgen Kruse kann Pinters Welt vollkommen in die hermetische Welt seiner eigenen, sich unablässig verwandelnden, magischen Bühnenwelt hineintemperieren. Und in ihr, Kruses szenischer Dunkelkammer der Gefühle, sind diese Figuren – und dies scheint viel mit dem Geheimnis von Pinters Figuren zu tun zu haben – keine nervösen Zeitgenossen, sondern Typen, deren Dasein immer mit einer Konvention verbunden ist, mit etwas Allgemeinem, das ihnen mitgegeben ist: Als Ganove, in anderen Stücken als Bettler, Trinker, Zuhälter, Professor – was sie sind, ist scheinbar bis zur Satirehaftigkeit bekannt und gibt eine Form vor, die es erlaubt, dass sich in ihr etwas undurchsichtig macht, verschleiert, hinter dieser Form verbergen kann.
Auf eine ähnliche Weise verbirgt auch die Alltagsvertrautheit des Dialogs, Pinters banale, milieugeprägte, kunstlose Sprache eine Konstruktion, die unter und in diesem vertrauten Sprechen etwas höchst Befremdliches realisiert: die langsame und schleichende Auflösung von Realität. Es wäre verkürzend, würde man diese Technik «absurd» nennen, vielmehr erzeugen diese Texte ja Wirklichkeit – eine Beziehungswirklichkeit von Figuren, die in ihrem Spiel, d.h. in ihrem Kampf, genau das erfahren, was im Leben über sie herrscht: Gewalt, der drohende Verlust von Sinn, Beziehung und Heimat.
Da, wo die Stücke von Harold Pinter sich für mich in Aufführungen «erfüllt» haben, erlebte ich ein grosses Vertrauen von Regisseuren in Schauspieler, die durch Pinters Partituren in einen Machtkampf miteinander verwickelt werden – in subtile und gewalttätige Spiele um einen Ausweg, den es immer nur für einen geben kann. In Schauspieler, die aus der Gestalt einer Figur, die immer auch eine Ahnengeschichte hat, ein ihr mitgegebenes Geleit an Klischees und Konventionen, plötzlich in ihre eigene Gegenwärtigkeit ausbrechen konnten. Wilfried Minks hat auf diese Weise «Der Hausmeister» in Bochum inszeniert, und er konnte die grundsätzliche Fatalität der condition humaine zeigen, eben weil diese Welt von Pinter so geschlossen blieb, ein Modell, die Wirklichkeit des Anderen, das sich gegen jede ideologische oder psychoanalytische «Aufklärung» sperrt.
«Ich habe kein Interesse daran, den Leuten beim Verständnis zu helfen», sagt Pinter in einem Interview mit Mel Gussow, aber das heisst nicht, dass es in seinen Stücken nichts zu verstehen gäbe – im Gegenteil: Er hat den Abstand gefunden, aus dem sich über Gefühle, über die Anwesenheit von Schicksal und Ideen noch einmal sprechen lässt. Oft wurde Pinter, der einer der wenigen Autoren war, die Samuel Beckett schätzte und gelten liess, mit jenem irischen Nobelpreisträger verglichen, und dann schien es stets so, als ob das, was Pinter schrieb, in den Stücken von Beckett immer schon auf radikalere Weise formuliert worden war.
Mit Beckett teilt Pinter die Liebe zu den loners, den Einzelkämpfern, zur Reduktion, der Modellhaftigkeit seiner Dramaturgien, die ähnlich radikal neue Wege gingen wie Beckett, z.B. in seinem Stück «Verrat», das die Chronologie von einer Liebesgeschichte auflöst und sie vom Ende her bis zu jenem ersten, frühen Kuss erzählt, der am Schluss des Stückes steht. Er teilt mit Beckett die Liebe zum Whisky, zu den Frauen, zum Sport. Er teilt mit ihm die Abneigung gegen Ideologien und U-Bahnen, die während der Vorstellungen seiner Stücke unter dem Royal Court Theatre am Sloane Square hindurchfahren. Und nun auch den Nobelpreis.
(Frankfurter Rundschau, 14. Oktober 2005)