Vom «D» zum «de».
Zum 10. Jubiläum des Mauerfalls.
von Thomas Oberender
Für die einen ist Deutschland Weltmeister im Automobilbau, für die anderen in der Energiewende, in Bescheidenheit oder im Biertrinken. Wieder andere halten die Deutschen für besonders schweinisch oder, ganz im Gegenteil, für ein Volk grausamer Pedanten. Die Deutschen wollen sich in Europa entkommen und keine Nation sein. Aus Deutschlands «Verspätung» als Nation ist ein Vorteil geworden. Das große Deutschland entwickelte sich als ein Deutschland der Regionen, das im Europa der Regionen aufgeht.
In Deutschland zu leben, ist heute angenehm, weil Deutschland in Deutschland kaum noch vorkommt. Und wo doch, so eher im Akt einer aggressiven Selbstverleugnung. Die Ostdeutschen wurden zu den doktrinärsten Vorzeigesozialisten des Ostblocks und die Westdeutschen zu Überdemokraten, zu Superdemokraten, aber letztlich eben doch zu – Demokraten.
Das bundesrepublikanische Selbstverständnis ließ eine besondere Art der Dialogführung entstehen, die Autoritäten zwar respektiert, aber angreifbar macht, die spontan und zugleich werbend ist. Für dieses bundesrepublikanische Selbstverständnis beginnt die Geschichte 1945. Was bedeutet da ein Ereignis wie die deutsche Wiedervereinigung? Deutschland hat vierzig Jahre lang als das Spaltprodukt seiner historischen Schuld existiert. Da gab es den einen Teil, der sich für die Schuld der Deutschen selbst in Haft nahm und einmauerte. In ihm lebten 16 Millionen Deutsche als Gefangene einer Ideologie, die nur durch Abschottung die Behauptung aufrecht erhalten konnte, dass der schuldhafte Teil der Geschichte allein bei den Anderen überdauert, bis dieser längst schon abgestorbene Traum von einem Staat in einer bis heute wundersam wirkenden Volkserhebung gestürzt wurde. Im westlichen Teil Deutschlands überlebte die Schuld in der genau gegenläufigen Strategie: Statt sich zu isolieren, gelang es dem Land, sich geradezu haltlos zu öffnen, vom guten Amerika zu lernen und sich derart brüsk von sich selbst zu befreien, dass dieses Bestreben im Wirtschaftswunder Züge der Selbstvergessenheit annahm, gegen die schon die nachrückende Generation protestierte. Deutschland, das waren vierzig Jahre lang zwei Staaten als die Spaltprodukte ein und derselben Geschichte: hier die graue und da die bunte Variante, hier die innerliche und dort die äußerliche, hier die langsame und dort die schnelle, die idealistische und die ironische. Wie kommt das je wieder zusammen?
Beide Welten konnten aus sich heraus keine erträgliche Vergangenheit schaffen, nur ihre je eigene Variante der Zukunft. Werden wir immer nur werden können, nie sein? Vielleicht, hoffentlich, zähle ich zur letzten Generation der Gespaltenen. War ich nicht immer doppelt gebunden? Hinter der Mauer geboren und nach «drüben» lauschend? Dageblieben und innerlich emigriert? Wie lange lohnt es sich überhaupt noch, davon zu sprechen? Vorbei! Die deutsch-deutschen Beziehungen haben sich aus dem Raum in die Zeit verlagert, aus der territorialen Nachbarschaft in die Geschichte, und vielleicht werden sie dort auch verschwinden.
Dass die Mauer fiel und das innerdeutsche Verhältnis sich aus dem Raum in die Zeit verschob, hat man im badischen Land im ersten Jahrzehnt der deutschen Wiedervereinigung vor allem dadurch wahrgenommen, daß die Baufirmen plötzlich alle im Osten waren. Oder daran, daß ein Solidaritätszuschlag erhoben wurde. Den kannten bis dato nur DDR-Bürger als vom System erhobenen «internationalistischen Solidaritätsbeitrag». Doch Solidarität mit wem? Für das Dreiländereck war der Mauerfall so unbedeutend wie eine Reise des Papstes durch Indien. «Unsere» Kultur ist kein nationalstaatlich geprägter Hoheitsraum, sondern längst und nicht unwesentlich von einer industriellen Volkskultur geprägt wird, die in weiten Bereichen als Produkt transnationaler Industrien entsteht. Deutschland ist ein Staat ohne Kennung. Natürlich mit Fahne und Hymne, aber woran dürfen sich die Deutschen erinnern? Die nationalen Symbole, spät genug errungen, verursachen durchweg gemischte Gefühle, denn als Symbole sind sie nur Halbstücke eines Ganzen, dessen anderer Teil verdüstert wird durch zwei Weltkriege, den Faschismus, das Morden in Afrika und den industriellen Holocaust an den Juden. Nahezu alle leuchtenden Symbole für ein gutes Deutschland wurden auch zum Symbol eben dieses Faschismus. Davon konnte man uns nur von außen befreien.
Vom «D» zum «.de»? Ist das ein Ausweg? Vom groß geschriebenen Deutschland zum Kürzel im Netz? Vom Zeichen für Blut und Boden zum Anhängsel einer Information? Wie sieht er aus, der nationale Dachschaden dieser drei, vier Generationen, deren politisches und kulturelles Bewusstsein sich noch immer im Bezug auf Hitler begründet? Erlebt war für die erste dieser Generationen der Krieg für Hitler. Erlebt war, daß man ihn wollte. Und dann das Erlebnis der totalen Niederlage. Die positiven Erlebnisse fehlen fast ganz. Selbst die Tugenden hatten im Faschismus üble Konsequenzen: Erfindungsgeist, Disziplin, Idealismus verkehrten sich in verhängnisvolle Laster. Der Faschismus hat die Mythen okkupiert, wo er sie finden konnte. Und wo immer man in Deutschland heute an mythische Themen angeknüpft wird, flammt reflexartig ein Faschismusverdacht auf – Gigantische, Euphorische, Heimatstolze, Pathetische ist uns scheinbar auf Generationen verboten. Die großen Mythen, von denen auch das Kino und die Architektur lebt, hat in Deutschland zuletzt der Faschismus gezeugt. Sie sind scheinbar nur noch mit Ironie zitierbar oder im Zuge ihrer Entlarvung. Hitler, der Clown. Albert Speer als Schwächling. Wenn deutsche Regisseure ihre Stoffe ins Mythische treiben, gehen sie nach Hollywood oder aufs Land.
«Schicksal» bleibt ein Problemwort, denn die Deutschen haben es 1945 nicht aus eigener Kraft ins Gute gewendet. Uns mußte man befreien. Das Goldene Zeitalter vieler anderer Nationen sind ihre Revolutionen. Aus dem Vertrauen in deren Setzungen konnten sie sich aus eigener Kraft heilen, wo andere uns retten mußten. Zwar hatten auch die übrigen Länder ihre volkseigenen Übel, doch früher oder später haben sie die Sklaverei oder den Rassismus selbst beseitigt. So versorgen die mehr oder weniger geglückten Revolutionen Frankreich oder die USA mit positiven Erlebnissen, die totale Niederlage der Deutschen im zweiten Weltkrieg ist das Gegenteil davon. Durch sie wurde der Faschismus zum Mythos – unrelativierbar, absolut, ein Verhängnis. Nichts daran ist wieder gut zu machen. Wenn wir den Faschismus selbst beendet hätten, könnten wir in ganz anderer Weise dankbar sein für Schindlers Liste.
Von ihrer Vergangenheit haben sich die Deutschen immer wieder losgesprengt durch eine Flucht nach vorn, in die Erfindung von etwas Neuem, das an die Stelle einer lebbaren Erfahrung von Geschichte tritt. Von der deutschen Klassik über die Romantik bis zum Sozialismus, immer war es die Erfindung von etwas, das die Deutschen in einem Zukunftsprojekt verwurzelt. Oder eben, aus Mangel an Verwurzelung, nach vorne wirft – Bauhaus, Techno, Loveparade, Atomausstieg: Nach dem verlorenen Krieg hat sich Deutschland wahrscheinlich tiefgreifender demokratisiert als die Siegerländer. Es gibt keine Eliteschulen mehr. Das, was gemeinhin mit «rechts» assoziiert wird, ist heutzutage das Ergebnis linker Politik – eine weitere Deregulierung und Liberalisierung oder der pragmatische Umgang mit der eigenen Geschichte zum Beispiel. Ob Helmut Kohl deutsche Truppen ins Kosovo hätte einmarschieren lassen? Wären unter seiner Ägide der deutschen Wirtschaft ähnlich aggressive feindliche Übernahmen erlaubt gewesen? Das abgenutzte Wort von der «Globalisierung» wurde nicht zufällig der siegreiche Alternativbegriff zum linken «Internationalismus».
Mit dem Fall der Mauer, die ein Mahnmal der Schuld war, fiel eine letzte, schmerzliche und unübersehbare Erinnerung an Hitler. Der Fall der Mauer war mehr als die Demontage des Eisernen Vorhangs und die anschließende «Wiedervereinigung». Mit der Mauer fiel auch die moralische Fixierung auf Hitler und Auschwitz, er beendete den hypertrophen Bescheidenheitszwang des «alten» Westdeutschlands und dessen moralische Konditionierung auf die Geschichte der 68er. Was vom «D» zum «de» ist kein Prozess der Ablösung, sondern der Überlagerung: Die heute Zwanzigjährigen haben kaum noch ein Problem damit, sich als Deutsche im großgeschriebenen Sinne zu bezeichnen, doch sie werden eine Lebenswirklichkeit des «de» meinen: vernetzt und ohne Fundamentalismen, sieht man von denen des Marktes ab.
Vielleicht sind wir noch zu dicht dran, um zu sehen, wie fundamental sich die Identitäten nach 1989 neu konstruierten oder rekonstruierten, ohne ins Fahrwasser eines neuen Nationalismus zu gelangen. In Ostdeutschland wurden aus Bezirken wieder Bundesländer und mitten im großen Übergang entsteht ein neues Bewusstsein für diesen kleinen Flecken Heimat und die parallele Geschichte der Natur, der Geschlechter, der Landschaften. Es entstehen neue Wanderwege zu Burgen und Seen und Radwege entlang der Flüsse. Der Boom der Stadtfeste, der regionalen Küchen und Produkte könnte, wenn es gut geht, vor dem frustrierten, aggressiven Provinzialismus schützen, der sich zeitgleich ebenfalls herausbildet und in neue totalitäre Strömungen münden könnte. Die Asylantenheime brennen wirklich, jetzt. Unser «wir» soll romanhaft sein, wünsche ich mir manchmal, wie die Werke Don DeLillos, des größten «deutschen» Schriftstellers der Vereinigten Staaten: Spuren, Schichten, Verschwörungen – sie sind alles verschlingend, Mythen und Biografien gehen in sie ein, die großen Bilder eines Jahrhunderts und die kleinen Gesten eines flüchtigen Lebens. Nie hat sich dieses Land so offen angefühlt für Entwicklungen in nahezu jede Richtung. Das weltweite Netz, in dem es eine neue Kennung bekommen hat, wird eine neue Form von Wirtschaft, Kommunikation und Kultur hervorbringen, die überall in Deutschland plötzlich weltweite Mitbürger hat.
Das Flüssigwerden der imperialen Blöcke, wie sie Europa und die Welt über Jahrzehnte spalteten, hat schließlich auch die Mauer fortgespült. Der Volksaufstand in Ostdeutschland folgte einer Logik, die das Starre durchs Bewegliche ersetzt, dem Besitz den Zugang vorzieht. Der Fall der Mauer machte den Weg frei für den Weg in die digitale Welt und neue Formen der Politik, ein neues Verständnis von «Realität» und «Freiheit». Vom «D» zum «de» führt der Weg in eine ganz neue Landschaft, die sich über die alte, analoge Welt legt und deren Mitbürger die Deutschen längst geworden sind.
«Vom «D» zum «de»», in: Kursbuch 141, «Das gelobte Land», September 2000, auch in: Frankfurter Rundschau, 9. September 2000