«Democracy Lab: Das große Deutschland-Gespräch»

Ein Abend, 20 Menschen, viele Emotionen und neue Erkenntnisse

SZ-Intro: Miteinander reden, das steht im Mittelpunkt des Democracy Lab der Süddeutschen Zeitung. In Berlin-Mitte haben wir deshalb Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft einen Abend zusammen an einen großen Tisch gesetzt, um sie darüber diskutieren zu lassen, wie ein besseres Miteinander in diesem Land möglich ist. Es war ein emotionaler, ein wilder, ein erkenntnisreicher Abend. 

- Auszug - 

Beck: Was bitte ist eine nationale Erzählung?

Sahel: Das Grundgesetz ist unsere neue Identität, ich bin aufgeschlossen für eine Leitkultur, die alle 82 Millionen gemeinsam definieren und nicht nur die Konservativen.

Beck: Das kann doch nicht wahr sein, dass die Sozialdemokratie von etwas Nationalem redet, da sage ich sofort Einspruch, wir sind eine europäische Gesellschaft.

Polak: Und Nazis muss ich auch nicht aushalten.

Thomas Oberender kommt. Die Debatte ist seit einer Stunde ein Selbstläufer und ziemlich hitzig, das bleibt so bis zum Schluss.   

Jacinta Nandi: Es ist doch genau umgekehrt: Die Leute, die denken, keiner hört uns zu, die haben jetzt eine Stimme. Ein Taxifahrer in Dresden sagte gerade zu mir: Merkel ist der Teufel. Es gibt nicht mehr Leute als früher, die Politiker hassen, aber man hört ihnen zu.

Thomas Oberender: Es gibt eine Sicht auf Deutschland, die hat der Philosoph Helmuth Plessner auf die Formel der verspäteten Nation gebracht. Die nationalstaatliche Selbstgründung haben wir in Deutschland erst sehr spät vollzogen, ohne eine bürgerliche Revolution. Deutscher zu sein ist eng verbunden mit der Zugehörigkeit zu einer Kultur, während man in England oder Frankreich durch die bürgerliche Revolution nicht so sehr Bürger einer Kultur, sondern zuallererst Bürger eines Rechts wurde. Das führte nach dem zweiten Weltkrieg dazu, dass Menschen aus dem kolonialisierten Algerien in der französischen Nationalversammlung saßen, sie waren Franzosen und Teilhabende eines politischen Konstrukts. Auch in England ist man zuallererst Bürger eines Rechts, wodurch, wenn man das mit Deutschland vergleicht, eine andere Durchlässigkeit für Integrationskarrieren entsteht. In Deutschland haben wir die Frage der Identität lange mit der Zugehörigkeit zu einer spezifischen Kultur verbunden, die weiß, deutschsprachig und christlich war. Das müssen wir entkoppeln. Man kann auch Deutscher sein, wenn man schwarz, Kopte oder muslimisch ist. Unsere Kultur hat sich diversifiziert und fließt. Unsere Werte sollten nicht so sehr von einem Heimatbegriff bestimmt sein als von einem liberalen Rechtsgedanken. Lange Zeit sind wir gefühlt zu Deutschen geworden aus einem späten Entsetzen über Hitler - unsere Politik und Kultur war in Ost und Welt eine Antwort auf diese Katastrophe. Die Wende von 1989 hat uns wieder andere Verbindungen zur Geschichte eröffnet - wir entdeckten unsere Kolonialgeschichte, aber auch einen frühen Sozialstaatsgedanken, der das Gegenteil des modernen Neoliberalismus ist. Zu unserer Geschichte gehören nicht nur Hitler und Karl Marx, sondern auch ein politischer Ökonom wie Friedrich List, der ein fürsorgliches Staatsmodell geprägt hat. Das gehört zu unserer Geschichte der politischen Errungenschaften wie die Wende.

Nachdem alle gebannt Oberenders Spontan-Vorlesung über Nationalstaat und Leitkultur zugehört haben, wollen jetzt alle auf einmal reden.