«Sezieren ist Rache»
Gespräch mit Barbara Frey über das Schweizer Theater
Thomas Oberender: Du sprichst in den Proben und bei Diskussionen sehr oft über andere Künstler und Menschen, denen du wichtige Beobachtungen oder Ideen verdankst. Welche drei Zeitgenossen, gleichgültig aus welchem Bereich, beeindrucken dich am meisten?
Barbara Frey: Sicher Helen Mirren – eine wunderbare Schauspielerin. Jemand wie Gerhard Richter. Isabel Huppert. Die hat mich geprägt, seit ich 14 Jahre alt bin. Und dann Simon Rattle, seine Performance, wenn man ihn live dirigieren sieht, ist unglaublich. Musik ist für alle da, sagt er, und das gefällt mir. Es ist beeindruckend, wie integrativ er mit dem Orchester umgeht, und wie sinnlich er ist. Das gilt für alle vier Personen. Sie wirken so erotisch, weil sie mit dem, was sie tun, eine tiefe Allianz eingegangen sind, und darin völlig aufgehen und dies eben nicht mehr nur performen.
TO: Wenn du an das Theater zur Zeit deiner Kindheit denkst – gab es da etwas, das dich besonders angezogen hat?
BF: Meine Mutter hat mich in der Düggelin-Ära mit ins Theater Basel genommen. Werner Düggelin ist damals etwas sehr Seltenes gelungen: Er hat die Stadt und das Theater eng miteinander verbunden. So sind Synergien entstanden, die neu waren, etwa zwischen dem örtlichen Fußballklub und dem Theater, und sie haben eine Sinnlichkeit und Auseinandersetzung gestiftet, die es zuvor in Basel nicht gab. Dieser klimatische Wandel war in meiner Pubertät ein ständiges Thema. Meine Mutter brachte einige von diesen wahnwitzigen Schauspielern mit zu uns nach Hause, war fasziniert vom Theater und wollte auf diesem Weg einem gewissen Alltagsmief entgehen. Mein Vater wiederum brachte Galeristen, Maler und Jazzmusiker mit nach Hause, das war sehr spannend.
TO: Hatte das, was deine Eltern und dich am Theater faszinierte, rückblickend auch eine gesellschaftliche Dimension, oder war es lediglich der private Versuch, eine gewisse Lebensenge hinter sich zu lassen?
BF: Zwischen 1973 und 1975 gab es auf Seiten meiner Eltern, aber auch vieler anderer Menschen, den Versuch, ganz individuell einen Aufbruch zu wagen und ein Leben jenseits der Schweizer Biederkeit zu führen. Insofern waren dies vielleicht Nachwirkungen der 68er Ereignisse, aber keine eigentlich politischen Aktionen. Politische Veränderungen gingen von der Schweiz ja nie aus. Aber es handelte sich um ein Zusammengehen von Kunst und Nichtkunst, Stadt und Theater, das ich in der eigenen Familie deutlich erlebte. Und dann gab es sehr bewegende Aufführungen, auch noch in der Hollmann-Zeit. Später, mit der RAF, passierten in Deutschland umstürzlerische Dinge, die in der Schweiz nicht möglich waren. Die eigentliche Bewegung begann in der Schweiz etwas später. Und da war ich dabei. Das waren die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem Zürcher Opernhauskrawall – ein für Schweizer Verhältnisse ganz erstaunliches Ereignis. Jugendliche hatten sich nach einer Premiere vor dem Theater versammelt und plötzlich ging es hoch her. Anfang der 80er Jahre, in meiner Gymnasialzeit, gab es noch das AJZ, das Autonome Jugendzentrum, sowohl in Basel als auch in Zürich, und diese Bewegung griff von Zürich aus auf mehrere Städte über. Auch wir Kinder aus gutem Hause waren in dieser AJZ-Bewegung dabei, man spürte: das ist kreativ, da will ich mitmachen.
TO: Was war so kreativ an der Demoszene?
BF: Diese Graffitis zum Beispiel: «Freie Sicht aufs Mittelmeer – nehmt die Alpen weg» oder: «Macht aus dem Staat Gurkensalat» - diesen dadaistischen Einschlag fand ich sympathisch. Der Widerstand hat sich durch diese Nonsens-Schöpfungen formuliert, und einen Spruch habe ich nie vergessen: «Was lange gärt, wird endlich Wut» – den fand ich gut, denn der hat viel mit der Schweiz zu tun. Damals ging es hoch her, mit Polizeikontrollen, Zivilbullen, Bürgerwehr und Tränengas. Daniel Lievy hat das auch beschrieben – er war damals im Baseler Jugendtheater, das später Furore gemacht hat.
TO: Dieses Jugendtheater hat dich, wie viele deiner Generationsgenossen, scheinbar sehr angesprochen und auf deine Entwicklung auch direkt Einfluss genommen. War das Baseler Jugendtheater, ähnlich wie das Gripstheater in Berlin, eine Frucht der 68er Bewegung?
BF: Es war ein witziges, offenes, in sexuellen Dingen erfrischend explizites Theater. Man beschäftigte sich mit der Liebe und sozialen Problemen und spielte die Stücke in einer klaren, sehr direkten Dialektsprache. Dieses Postachtundsechzigertum war, ähnlich wie die politische Wut meiner Mutter, auch insofern prägend, weil es mich in die Realität geholt hat. Denn bis dahin war ich als Kind immer sehr behütet im Haus und Garten meiner Großmutter gewesen.
TO: Eigentlich hast du das Theater, wenn ich dich recht verstanden habe, über die Küche deiner Mutter und ihrer Gäste entdeckt. Aus dem Garten der Großmutter führte dann der Weg über das Basler Jugendtheater ans Theater für die Großen, in der Hollmann-Zeit. War deine Künstlerlaufbahn da schon vorgezeichnet?
BF: Ich wollte immer Schauspielerin werden, das war mein erster Berufswunsch. Als ich dann später Leute gesehen habe, die tatsächlich gespielt haben, war ich sofort fasziniert. Ich habe aber später gemerkt, das mir eine Sache fehlt, um selbst auf die Bühne zu gehen: Dieser innere Trafo, durch den Angst in Adrenalin umgewandelt wird. Als Schauspielerin fehlt er mir völlig. Ich bin erst als Schlagzeugerin selbst auf die Bühne, mit meiner eigenen Band, viele Jahre lang.
TO: Eine gewisse Initialwirkung für deine künstlerische Entwicklung scheint aber vor allem Werner Düggelins Arbeit gehabt zu haben. Hat seine Ära als Intendant in Basel in der Schweiz etwas nachhaltig verändert?
BF: Düggelin war in jeder Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung: Er war als junger Mann in Paris, ein Weltbürger, Assistent bei der Uraufführung von Becketts «Warten auf Godot» durch Roger Blin. Mit Düggelin verband sich ein ganz anderer Kosmos. Er hat etwas Allgemeingültiges geschafft – denn ab und zu gelingt es den Schweizern seither, das Provinzielle, also ihre Provinzialität, zum Thema zu machen und in etwas international Gültiges zu verwandeln. Das gelang auch der Schweizer Band «Yello». Dieter Meier mit seinen Seidentüchern, ein Intellektueller und Zampano, hat damals gesagt, das Schweizer Problem sei, dass ihre Musiker immer so international klingen wollen. Dabei sei doch das Provinzielle das Interessante! Ähnlich ist es auch mit dem Erfolg von Christoph Marthaler oder Pippilotti Rist, die ebenfalls extrem provinziell und eigenbrötlerisch und zugleich extrem international erfolgreich sind.
TO: Wenn ich an deine Arbeit als Regisseurin denke, wirkt sie nicht sonderlich eigenbrötlerisch. Was ist an dir besonders schweizerisch?
BF: Peter von Matts Anthologie «Die schönsten Gedichte der Schweiz» hilft zu verstehen, was diesen widerständigen, kruden, und doch auch poetischen Schweizer Geist auszeichnet. In diesen Gedichten spürt man zum Beispiel die Schweizerische Liebe zum Absurden. Wenn du an Tinguely denkst: «Ich heiße Jean Tinguely» hat er mal gesagt, «und ich mache nutzlose Maschinen.» Wunderbar, oder? Er war der Mann von Niki de Saint Phalle, und ich freue mich jedes Mal, wenn ich in ihren Arbeiten sehe, über ihre Liebe zum Absurden und zum Kleinen, dass zugleich das Große und Universelle ist. Auch in den Texten von Robert Walser und Peter Bichsel spürt man: Wir sind ein kleines Land, unbehelligt von Weltgeschichte und Weltpolitik, aber wir erfinden etwas, das dann doch auch im Großen aufgeht und Bestand hat. Diese Mischung aus etwas Lächerlichem und Erhabenen, etwas Absurden und Poetischen finde ich sehr spannend. Genauso wie die Biografien einiger Autoren dieser Anthologie, denn viele von ihnen sind Lehrer, leben eine unscheinbare Existenz, kommen aus der Mitte der Gesellschaft und müssen sich ins Freie schreiben. Die hohe Selbstmordrate in der Schweiz ist ja bekannt, insbesondere unter Schriftstellern.
TO: Woher kommt diese Energie, die sich derart zerstörerisch nach innen und gegen sich selbst richtet?
BF: Es ist eine Radikalität, die nicht durch politischen Druck entsteht. Was drückt und einsam macht, ist die Idylle, diese föderalistische, demokratische, am Geld orientierte, saubere Welt: Dagegen muss man anschreiben und gegen diese Idylle eine Gegenidylle setzen. Wir sind unbehelligt geblieben, das stimmt. Aber das führt zu einer Behelligung der anderen Art. Und gleichzeitig hatte dieses Unbehelligtsein auch luxuriösen Effekt, dass die Schweiz, weil sie immer über die finanziellen Ressourcen verfügte, sich die große internationale Kunst auch leisten konnte. Man hat zudem enorm profitiert von den Emigranten und wurde als Gastgeberland unweigerlich inspiriert. Von draußen wurde also eine ganze Menge frischer Luft in die Schweiz rein geblasen, und die weht hier immer noch leise vor sich hin.
TO: In Zürich hörte ich immer wieder von einer «Lost Generation» in der Schweiz, die in den reichen 80ern aufgewachsen ist und sich in einer makellosen, prosperierenden Schweiz einfach überflüssig empfand, und die sich zu einem nicht unerheblichen Prozentsatz das Leben durch Drogen nahm. Eigentlich gehörst du zu dieser Generation.
BF: Wir sind nicht nur in der Geldanlage, sondern auch in der Selbstmordrate und im Drogenkonsum Weltspitze. Dieses Sicherheitsgefühl der 80er Jahre hatte eine erschreckende Kehrseite, einen sehr gefährlichen Imperativ, der lautet: Sei gefälligst zufrieden, mach deinen Beruf, und werde nicht laut. Das Besondere an der Schweiz ist eben dieses: nicht laut werden. Die Droge ist Ausdruck und Vehikel für die Sehnsucht nach Ekstase, nach Austritt, Sinnlichkeit, und das hat viel mit dem schweizerischen Imperativ zu tun. Das ist analfixiert. Du sollst den Arsch zusammenklemmen und nicht aus der Spur tanzen. Denn es kommt garantiert irgendeiner und sagt dir, dass das kein Fahrradweg ist. Warum sagt dir in der Schweiz jeder, was du zu tun hast? Der Imperativ lautet: Wir wollen es doch alle zusammen schön haben, daher müssen wir auch alle gemeinsam ein Teil davon sein! Euren Dreck wollen wir nicht haben. Und Drogen nimmt man dann aus der Angst, nicht Teil sein zu können. Das gibt es woanders auch, in anderen High Societys, aber in der Schweiz fällt es halt auf. Im Mittelalter stand dafür die symbolische Frau Welt, man sieht sie am Baseler Münster: Von vorne sehr anmutig lächelnd, von innen, im Portal stehend, sieht man ihren Rücken und der zeigt lauter Kröten, Würmer und Zerfall.
TO: Wie hast du in Basel den jungen Christoph Marthaler wahrgenommen?
BF: Ich habe ihn als etwas Großes, Kommendes empfunden. Ich war, während der Intendanz von Frank Baumbauer zwischen 1988 und 1993, am Theater Basel zunächst Regieassistentin und später Musikerin. Über Marthaler habe ich mich totgelacht, fand das humorvoll und zugleich eine Entdeckung. Ich dachte: Endlich gibt es jemand, der diesen absurden Schweizer Krempel auf die Bühne bringt, witzig und abgründig und in einer hochmusikalischen Form, das ist mir als Musikerin sofort aufgefallen.
TO: Hast du Marthaler als einen Revolutionär empfunden?
BF: Revolutionär fand ich eher den Radau davor, in den frühen 80er Jahren. Danach, Ende der 80er, begann mit Marthaler etwas ganz anderes. Ich würde das ungern als politisches Theater bezeichnen, dafür sind seine Inszenierungen zu poetisch und musikalisch und absurd. Aber vielleicht war er eine Reaktion auf jene aktivistischen Jahre zuvor: Ein stiller, resignativer Zug wohnt seinen Arbeiten ja immer inne. Sie zeigen immer eine untergehende Welt. Er erzählt nichts von großem Aufbruch, sondern vom langsamen Verbleichen, und zeigt dabei etwas Nostalgisches. Insofern kann es sein, dass dies eine Reaktion auf das Scheitern der letzten Revolution ist – eine stille Apokalypse. Diese Einschlafszenarien werden ja immer von einer zarten Schneedecke eingehüllt. Das ist das Gegenteil von Wut, das ist eher ein zurück in die Dante-Welt, die Vorhöllen und Fegefeuer. Das ist kein Theater, das sagt: Schweizer, schaut vorwärts. Sondern es empfiehlt uns: Rückwärts schauen. Das fand ich ästhetisch revolutionär.
TO: Ist die Form das eigentliche Medium der Schweizer Renitenz? Ich denke da an eine bestimmte Form von Verlangsamung, Skurrilität, Folklore. Aber auch von feierlicher, wenngleich nie protziger Materialität. Zum Beispiel bei Schweizer Architekten wie Zumthor oder Herzog & de meuron. Oder bei dem Schweizer Bühnenbildner und Regisseur Adolphe Appia, der vielleicht so etwas wie der Vorläufer und Wegbereiter des Texaners Robert Wilson war.
BF: Es mag sein, dass die Schweizer und Schweizerinnen die Möglichkeit zum Hingucken und langen Hingucken sehr schätzen und, aufgrund ihres Unbehelligtseins, auch haben – sie werden nicht gestört. Und das Ergebnis dieses ausdauernden Hinsehens ist durchaus kritisch. Deshalb: Was lange gärt, wird endlich Wut! Du musst nur lange genug hinsehen, mit einer gewissen Schweizer Sturheit, und dann wird sich auch das Vermodernde zeigen. Schweizer Künstler haben in diesem Sinne eine Sprache der Langsamkeit und absurden Abgründigkeit entwickelt, die der falschen Idylle, die nur allzu leicht hinterrücks zum Imperativ wird, widersteht. Wir Künstler gucken daher auf den Schweizer Arsch, auf die Rückseite. Man muss letztlich auf die Krötenseite kommen und, wie bei Frau Welt, die Engerlinge sehen.
TO: In einer deiner Biografien steht, du hättest deine Laufbahn als Regieautorin begonnen. Was bedeutet das?
BF: Ich habe mich so nie genannt. Aber ich hatte zunächst Angst vor den großen Stoffen. Daher habe ich die Stoffe, die in mir herumgetobt sind, gesammelt und in eine Form gebracht – mit Musik und vielen, disparaten Texten. Zum Beispiel unser Abend «Und wenn sie nicht gestorben sind» – das war ein Projekt mit fünf Personen: Zwei Eltern, ihren zwei Kindern und einem Dienstmädchen, die sich gegenseitig Grimmsche Märchen erzählen und sie gleichzeitig auch erleben. Das wurde 1996 in der Reithalle der Basler Kaserne unser Überraschungscoup, ein richtiger Renner, der auch auf Tournee ging. Dieses Projekt entspringt natürlich auch dieser Suche und Feststellung des total Infantilen, des Zurückgebliebenen, Absurden. Das hat wie gesagt sehr viel mit dem Schweizerischen zu tun hat. Das finde ich auch bezeichnend für die Welt von Christoph Marthaler und Ruedi Häusermann, denn das ist eine Welt von ewigen Kindern, von fast ungeschlechtlichen Wesen in einem vorgeschlechtlichen Stadium. Das war in meinen Projekten zwar nicht so, aber dieses Kindhafte, nie erwachsen Werdende, hat mich sehr beeinflusst bei meinen Schweizer Projekten und fließt bis heute in meine Arbeiten ein – in «Onkel Wanja» taucht das auf, oder «Geschichten aus dem Wienerwald»: diese Erwachsenen, die keine Erwachsenen sind, Vollendete, die nie vollendet sind, denn solche Menschen voller Lächerlichkeit und Erhabenheit interessieren mich zutiefst. Bei meiner Inszenierung von «Medea» am Deutschen Theater in Berlin, die das Stück in einem Zimmer zeigt, das für die Protagonistin zu klein ist, in einer ausgestellten, fast puppenstubenhaften Welt, wird mir das ja gerade zum Vorwurf gemacht. Ein Kritiker der Süddeutschen Zeitung soll geschrieben haben, ich hätte das Stück verschweizert und verkleinert: Ihr seid einfach zu klein, um die großen Stoffe zu begreifen! Das empfinde ich schon als eine Form von Rassismus, dass die Leute plötzlich sagen: Naja, du Schweizer Püppchen, du kannst halt die großen Stoffe nicht.
TO: Diesen infantilen Zug kann man in vielen deiner Arbeiten tatsächlich beobachten. Andererseits hast du auch, wie viele Schweizer Künstler, eine auffallend analytische und sezierende Seite. Deine Inszenierungen bürgerlicher Dramen wie «John Gabriel Borkmann», «Geschichten aus dem Wiener Wald» oder «Reigen» wirken wie szenische Fotografien, wobei diese Bilder von den subjektiven Leidenschaften der Fotografin nicht tangiert scheinen. Im Gegenteil – deine Inszenierungen bringen die Regisseurin fast zum Verschwinden. Was will die Regisseurin dabei sichtbar machen?
BF: Es gibt diesen schönen Spruch von Flaubert: «Sezieren ist Rache» – d.h., du kannst zurückschlagen, indem du auseinander nimmst. Dabei handelt es sich tatsächlich um eine Kunst der Entlarvung. Alle Chirurgen sind «Aufschneider» im wahrsten Sinne des Wortes – aufschneiden als Rache an dem, worunter man leidet. Das Sezieren aber legt bloß, denn da möchte man mal reingucken, das Herz, die Geschlechtsorgane, das kranke Hirnlein ganz genau ansehen. Sezieren, das ist die Rache an der ewigen Stille und Idylle und dem Festhalten an etwas. Deshalb ist auch Arthur Schnitzler so interessant für mich, der in diesem fürchterlichen Binnenland Österreich, wo auch immer bewahrt wurde, eine Idylle und süße Lieblichkeit seziert hat, indem er sie als Arzt und Jude mit anderem Blick ansah. Er ist ein Genie der Entlarvung, verwandt mit Tschechow und mit Beckett.
TO: Wie würdest du beschreiben, was du heute als den Ausdruck einer großen Verzweiflung empfindest?
BF: Eine Form von Verzweiflung ist sicher der schleichende Verlust unserer Intimsphäre und damit verbunden der Verlust von Respekt, verursacht auch durch den Siegeszug einer verheerenden Ironiekultur. Sie ist etwas sehr deutsches, denn obgleich Ironie eine wichtige Errungenschaft darstellt und Selbstironie wichtig ist, entspringt aus ihr ein allumfassender Relativismus, der eine Kultur von Coolnes und Glaubensrelativierung hervorbringt, die vereinsamt und verletzend wirkt. Es ist, wie Pasolini es einst nannte, eine permissive Kultur entstanden, in der alles geht, alles erlaubt ist, und damit verschwinden die Hilfeschreie, sie gehen auf in einer Kultur von Ironie und Zynismus. Zynismus aber ist, wie Bertrand Russel einst gesagt hat, eine Mischung aus Bequemlichkeit und resignativer Machtlosigkeit. Ohne Augenzwinkern kann keiner mehr über seine Sehnsucht nach Schönheit sprechen, und das ist ein Verhängnis. Das ist deutscher Imperialismus: Die Doppelbödigkeit übernimmt und durchdringt alles. Warum kann ich nicht mehr unironisch über Pathos und Empfindsamkeit sprechen? Soll ich heute auch keinen Monteverdi mehr spielen dürfen? Das ist kunstfeindlich.
TO: Wenn du beschreiben solltest, was du gegenwärtig als etwas Grosses und Echtes empfindest, was wäre das?
BF: Die Verzweiflung von Kindern empfinde ich als so etwas. Es gibt bei ihnen eine natürliche Entrüstungskultur, ein aus-der-Welt-fallen, das mich rührt und schreckt. Für künstlerisch tätige Menschen ist das, das was sie tun, genauso ein ständiges aus-der-Welt-fallen. Wir schulden den Kindern daher Respekt und Aufmerksamkeit, und sie sollten nicht in diese Kultur der Machtlosigkeit und Bequemlichkeit hineinwachsen: Staunen lohnt sich! Das möchte ich zum einen vermitteln in meiner Arbeit. Und zum anderen: Bei aller Globalisierung dürfen wir nicht vergessen, dass es sehr viel Fremdes gibt. Ihm gegenüber sollten wir bescheiden und offen bleiben. Wir sollten wahrnehmen, wie klein und unbedeutend wir sind. Und das meine ich nicht kokett. Ich lebe sehr privilegiert. Unsere erste Pflicht lautet daher, uns wieder dieser Unsicherheit auszusetzen. Das sind die entscheidenden Quellen des Großen und Echten: die Unsicherheit und das Nichtwissen. Und das sieht man an den Kindern – an ihrem Terror und ihrem Gelächter. Diese Bewegung auf die Welt zu fasziniert mich.
(März 2007)