«Eigentlich unbekannt»
Theaternotizen nach zwei Jahren am Schauspielhaus Bochum
von Thomas Oberender
Schauspieler
Wahrscheinlich werden Schauspieler irgendwann die letzen Menschen sein, die noch mit ihrem Körper arbeiten. Sie haben gestaltete Körper, trainieren und pflegen ihn und handhaben ihren Leib wie ein Instrument. Theater erweist sich im Körper des Schauspielers als ein Resultat des Willens, einer Vorstellung von sich. Es ist beeindruckend zu erleben, mit welcher Sorgfalt, Vorsicht und Intelligenz ein Schauspieler sich seine Rolle erarbeitet. Er näht sie sich während der Proben über Wochen hinweg wie ein Kleid auf seinen Leib, geschneidert aus tausend Flicken. Was ein Schauspieler in diesem Kleid später aufführt, ist eine Collage von Handlungen, die jede in ihre kleinsten Einheiten zerlegt, mit professioneller Wachsamkeit geprüft und verbessert wurde, bis das, was übrig bleibt, die Fremdheit und Unsicherheit vergessen läßt, mit der diese Kreation über Wochen hin verbunden war. Schauspieler erfinden, definieren und überschreiten sich in Mikroschritten, um dann aufs Ganze zu gehen.
Was bedeutet dieser Beruf: sich täglich, monate-, womöglich lebenslang über viele Stunden hin selbst ausprobieren zu können, als sei man das nicht, den man am Ende vorzeigt und sich daher unausgesetzt zu fragen, wie man während der Proben als diese Figur wirkt und sein soll. Ich war immer gerne in der Nähe dieser sich erprobenden Menschen, die beinah haltlos aus sich herausgehen können. Sobald sie «bei sich» sind, wenn ich sie nachher in der Kantine treffe, im Büro oder «draußen», weiß ich nicht mehr, woran ich bin bei ihnen. Ich weiß es eigentlich nur auf der Bühne, wenn ich sie in gehörigem Abstand sehe, unberührbar und sich doch darbietend. Jenseits der Bühne wird mir alles unfassbar, überschneiden sich Signale, für die es keine Form und Grenze gibt - private Eitelkeit, enttäuschte Ansprüche, Spaß an Übertreibungen, versäumte Erklärungen, berufliches Kalkül, das Bedürfnis nach Bestätigung, all das bildet eine brisante Gemengelage, wie immer im Leben. Auf der Bühne tendenziell schon. So gesehen erscheint das Leben als ein Spiel, das nur auf der Bühne aufhört. Nur wenn die Schauspieler spielen, erhält das Diverse plötzlich Kontur. Und vielleicht mag man genau das am Theater: Dass dies Menschen für Stunden oder Augenblicke etwas Bestimmtes sein können. Klar umrissen, austarriert, zwischen allen Extremen dann im Zentrum: die Figur. Sie, diese fragilen Wesen, die im Alltag keinen Stoß vertragen, sind auf der Bühne die letzten der Wenigen, die sich gefunden haben und machtvoll scheinen.
Wer wen?
Warum ist es im Theater so wichtig, welches Auto man fährt? Warum wird man beiläufig gefragt, in welchem Hotel man wohnt? Unsere «Schaufenster der Demokratie», diese Stadt- und Staatstheater sind noch immer absolutistische Unternehmen, in denen es kaum irgendwo kollektive Legitimationsformen für Entscheidungen gibt, Räume für einen kritischen und gleichberechtigten Disput und transparente Entscheidungen. Die alles regierende Frage im Spiel zweier Darsteller miteinander, die Frage: «Wer führt wen?», prägt auch die Struktur der Institution insgesamt. «Wer wen» - diese Frage organisiert nicht nur eine Szene, sondern den gesamten Betrieb, wobei dies nicht nur für das Theater gilt, hier aber besonders evident wird.
Gleichzeitig ist diese Welt der unentwegt miteinander beschäftigen Menschen extrem lebensklug, außerordentlich erfahren in den Mustern des Lebens und Verhaltens und, da sie ständig in ihrem kleinen Zirkel suchend umeinander kreisen, sind sie auch außerordentlich vertieft ins Leben des anderen, das bald zur einzigen Quelle von Neuigkeiten und Inspirationen wird. Da sich in dieser zirkulären Welt fast alles umeinander dreht, ist der Kontakt nach draußen relativ selten und nicht zufällig ist es auf Proben so, dass meistens, wenn ein Schauspieler über seine Rolle spricht oder sie ihm vom Regisseur illustriert wird, die Erfahrungsbereiche, aus denen die Bespiele herbeizitiert werden, die eigene Kindheit, der letzte Urlaub und die Familie sind. Dieser Anekdotenfundus bildet den letzten drei Außenposten sozialer Erfahrung jenseits des Theaters. Der Rest: das geschlossene System der Betriebsangehörigen. Unter seinen Bedingungen ist das Verhalten im gleichen Maße hingebungsvoll, voller Affären und zugleich voller Vampire. Denn dieser kleine Kreis sich ständig umgebender Menschen scannt seine Genossen und Genossinnen wachsam auf die kleinsten Eigenheiten: Kein Buch und keine CD bleibt unbemerkt im Regal, denn alles was von AUSSEN kommt, geht sofort ein ins große Inspirationsrecycling der pausenlos Beschäftigten.
Die fast klösterliche Aufeinanderbezogenheit der Theaterleute, die ja auch nach der Probe oder Vorstellung noch beisammen bleiben, um wieder runterzukommen von der Reise, auf der sie über Stunden waren, erzeugt ein so intensives Miteinander wie es «draußen» kaum zu finden wäre und diese wunderbare, feste soziale Verklebung ist wohl der eigentliche Grund dafür, dass unter diesen Bedingungen des hermetischen Einschlusses dennoch repräsentative Erfahrungen gemacht werden können. So selektiv und undemokratisch die hierarchische Welt des Theaterbetriebs auch ist, sie zeugt aus dieser streng geregelten Struktur eine Gesellschaft im kleinen, in der alle Erfahrungen, wie sie «draußen» auch zu machen sind, in der Welt der Texte, Proben, Stücke und Kantinen intensiver und schneller machen als irgendwo sonst. Aber kann gerade da, wo man so intensiv eingeschlossen wird, dann doch die größte Freiheit des Ausdrucks entstehen? Wie geht das?
Nur im Spiel.
Wo in der Arbeit sonst doch immer alle Dinge erledigt und abgeschlossen werden müssen, besteht die Arbeit im Theater im Spiel. Das Spiel öffnet, was Arbeit sonst durch den Zwang zum Ergebnis schließt und in feste Werke überführt, und verwandelt das Gegebene somit in ein Geschehen, das Ding in einen Prozess. Mit dem Spiel verbunden sind Worte wie «Verbergen», «Übertreibung», «Flüchtigkeit». Dieses Spiel ist die sich verhüllende Macht («Wer wen?») auf der Suche nach Wirkung. Die hübsche Schauspielerin mit dem schulterfreien Lächeln, die nur zum Plaudern vorbeikommt, weiß, daß die Umbesetzungsproben bald beginnen. Wir wissen, dass wir das wissen und trotzdem ist man sich sympathisch und steht die charmante Geste auch für sich. Das Spiel, so paradox es klingt, hört erst auf der Bühne auf.
Die wenigen Autoren, die genuine Dramatiker sind, richten den Blick von der Bühne herab aufs Leben - sie kehren die Perspektive um und blicken aufs Leben als ein Spiel der Formen über sich sorgsam verhüllender Motiven. Auf den Proben geht es um nichts anderes, als diese Motive im Text zu erkennen und im Spiel mit und gegen den anderen durchzusetzen. Die großen Dramatiker haben nicht in erster Linie bedeutende Geschichten erfunden, sondern Spielformen entdeckt, mit denen sich das Theater als eine autonome Welt der Formen vom Leben absetzen kann, indem es das Leben als ein Spiel von Formen zeigt. Alles, was am Theater aus der schwankenden Balance fällt, hypertroph wird und seine Gegenregung schluckt, verliert an «Spiel» und somit an Grund und Berechtigung für die Bühne.
«Spiel haben» - dieser bildliche Vergleich, der bedeutet, dass sich etwas bewegen kann, ist eine Grundbedingung für Theater als Kunst und freiheitliche Lebensform. Die existenzielle Bedrohung, der man innerhalb dieser absolutistischen Welt ausgesetzt ist, rührt von der Gefahr, die innere Fähigkeit zum Spiel und Mitspielen zu verlieren. Denn natürlich ist diese Welt der klaren Ränge und Rivalitäten erfolgsorientiert und im Hinblick auf den Erfolg auch objektiv an den Gagen, Rollen und am Applaus täglich messbar. Andererseits braucht sie Akteure, die mit diesem sortierenden Raster souverän umgehen, d.h. vor allem mit ihrer Angst. So entsteht das Nichtende der sich ausstellenden Menschen: Im Grunde sind die besten Schauspieler eher scheu erst indem sie sich überwinden und auf der Bühne ausstellen, wie es mit ihnen gerade steht und zugeht, werden sie zu diesen exemplarischen Menschen, denen wir Raum geben, weil sie etwas sehr abenteuerliches wagen. Für dieses Abenteuer lassen sie über viele Jahre ihres Lebens alles andere «draußen» und beiseite, verwandeln sie ihren Körper, sprechen sie mit einer anderen Stimme und betreten sie dank der Texte und Proben Welten, in die nur die Mutigsten unter uns reisen können.
(in: «Spielzeit», Ulrich Deuter und Andreas Rossmann (Hg.), Klartext Verlag, Essen, 2002)
© A. Akhtar