«Kein Gott, kein Heros, wir»
Ein Gespräch über Balkenhols sempre piú und das Faustische mit Gudrun Weinzierl
Ausstellung von Stephan Balkenhol im Salzburger Festspielhaus, Karl Böhm Saal
Gudrun Weinzierl: Balkenhols Torso sempre piú (der vor Salzburg in Rom im Caesarforum innerhalb eines Sees von Falschgeld zu sehen war) thematisiert Aspekte des «faustischen Menschen». Der Torso verweist auf das Überzeitliche, das «Immer-Mehr» ist nicht nur materielle Gier.
Thomas Oberender: Merkwürdig an Balkenhols kolossalem torso ist jedoch, dass er nicht überwältigend wirkt, sondern zart und in der Wahrnehmung aus unterschiedlichen Perspektiven so ungemein verschiedenartig. Er ist aus einem einzigen Zedernstamm gefertigt. Balkenhol hat ihn, umgeben von Metallscheiben, überdimensionalen Münzen, auf das Caesarforum gestellt, mit dem Hinweis, dass es sich hier «um die Wallstreet der Antike» handle. Aber was Balkenhol da zeigt, ist zunächst einmal ein junger Mann, der sich jeder erzählerischen Geste enthält. Er ist ein Blickfänger, er leitet unsere Blicke um. Und zweifellos verwandelt er den Raum, der ihn umgibt, in eine Bühne, deren auratisches Zentrum er bildet.
GW: Bei Faust heißt es: «Am farbigen Abglanz haben wir das Leben» – dieser Bereich des Farbigen ist in der Kunst die Malerei, die Bildhauerei. Das Farbige ist der Bereich zwischen Licht und Dunkel (symbolisch zwischen Himmel und Hölle). Licht hat besonders in der Kunst des 20. Jahrhunderts eine herausragende Bedeutung bekommen. Die Thematisierung und Hervorbringung von Licht ist ursprünglich dem göttlichen Schaffen zuzuordnen. Faust glaubt weder an Gott noch an den Teufel – dennoch strebt er mit dem Licht nach einem göttlichen Mittel.
TO: Die sentenz vom «farbigen Abglanz» erinnert noch an ein anderes Bild – an Platons Höhlengleichnis. Faust will sich aus dieser Schattenwelt befreien – ins Licht reisen. Das hat zunächst nichts mit Gott oder Teufel zu tun, sondern mit seinem Unbefriedigtsein ob der Erkenntnis, dass er das Leben nur als Abglanz erfährt, erschlossen durch seine eigene Vernunft. Es wird ihm klar, dem Wissen allein fehlt eine entscheidende Dimension, daher verlangt es ihn nach dem Gegenteil – der Magie, dem Elementaren, Dunklen, der Liebe. Diese Dualität bestimmt die deutsche Klassik: Licht und Schatten, Geist und Sinnlichkeit, Kunst und Wirklichkeit, Freiheit und Zwang – aus dieser Zerrissenheit, dem Zusammenwirken dieser gegenläufigen Erfahrungen, entsteht die Kontur des Menschen. Es geht also nicht nur um die Lichtwerdung, sondern auch um die Begegnung mit der Finsternis, letztlich mit dem Tod. Faust wird es «lieblich helle, als wenn im nächt’gen Wald uns Mondenglanz umweht» – wie er die Phiole mit dem Gift in seine Hände nimmt. Mit dieser Droge spielt er: «Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag!» – das ist die Verführung, die aus dem Gift spricht, und Mephisto komplettiert Fausts erfahrungswelt, macht ihn zum vollen und schuldigen Menschen. Die ma- gischen rituale, die tränke, der Satan, mit denen Faust weg vom Abglanz hin zum Eigentlichen sucht, sind Riten der Initiation. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zu den Figuren von Balkenhol.
GW: Sind dessen Figuren nicht eher das ganze Gegenteil? Ruhende Gestalten, fern jeder Ekstase?
TO: vielleicht ist es das, was Bildhauerei auszeichnet – alles vergeht, die lebendige Natur ist von hinfälliger Gestalt. Der Bildhauer aber gestaltet aus toter Materie Formen, die dem Leben ähneln, und es so, metaphorisch betrachtet, von der Sterblichkeit befreien. Was Balkenhols Skulpturen auszeichnet, ist sicher diese Ruhe, von der Sie sprechen und die sie ausstrahlen. Wir begegnen ihnen letztlich wie den stummen Boten eines Traumreichs. Unser Blick trifft nicht den ihren, aber: Sie haben einen Blick, sie führen uns in die Welt des von ihnen erschauten, wenn sie so wollen als die Fährleute einer Reise, die uns wegführt von hier. Das ist ihre Mission: Daher ihre Reglosigkeit, ihre Schwere. Das hat, wenn man die gleichzeitige Lebensfrische betrachtet, die sie ausstrahlen, ihre gesunde Stärke und Souveränität, dennoch eine große Nähe zu Charon, dem Fährmann ins Totenreich, dem man seinen Obolus zu entrichten hatte, jene Münze, die im Werk von Balkenhol ja immer wieder eine Rolle spielt. Auch in Sempre piú. In den straffen Körpern dieser Menschen, die im Zenit ihrer Kraft und Lebensblüte stehen, grüßt uns die Einladung, mit ihnen zu gehen. Wohin? Wohin es Faust zieht. Weg aus der Welt des Abglanzes. Dies gelingt aber nur im Bündnis und in Begleitung jener anderen Kräfte, die uns über die Grenze führen – und in Richtung des Feuers blicken lassen.
GW: Ein anderes Thema der Bildenden Kunst ist die artifizielle Figur (z.B. Evan Penny oder Duane Hanson) – bei Faust der Homunkulus. Sehen Sie da eine Nähe zu Balkenhols Skulpturen?
TO: Es ist einer der ältesten Mythen der Bildenden Kunst, dass aus der toten Materie nicht nur ein lebendiges Bildwerk entsteht, sondern etwas Lebendiges. Denken Sie an den Künstler Pygmalion, dessen lebensechte Elfenbeinskulptur einer Frau mithilfe der Götter lebendig wurde. Oder die Legende vom Golem, der aus Lehm gefertigt und durch Zauberkünste belebt wurde, aber an die Schöpfung nicht heranreicht und stumm bleibt. Fausts Homunkulus ist ein Wesen, das bei seiner Erschaffung nach Goethe übrigens auch leuchtete, das durch Kunst erschaffen wurde und eigenständig lebt. Sozusagen die Erfüllung von Pygmalions Traum, nur dass es nun die Wissenschaft ist, die anstelle der Götter dieses kleine, hunzelige Leben stiftet. Es war zu Goethes Lebzeiten, als es Wissenschaftlern durch die Harnstoffsynthese erstmals gelang, anorganische Materie in organische zu verwandeln. Inzwischen sind wir weiter – heute wachsen menschliche Ohren auf den rücken von Labormäusen und Schweine erzeugen menschliche Lebern. Wenn Sie an Duane Hanson denken, so sind seine Figuren tatsächlich eine Form von ästhetisch vollendeter Mimesis der menschlichen Erscheinung. Seine Skulpturen sind Montagen aus oftmals ganz verschiedenen «Spendermodellen» – das Gesicht ist der Abguss vom Kopf des einen Menschen, die Hände, Beine, Arme der eines anderen. Hanson montiert seine frappierend echt erscheinenden Figuren wie ein moderner Frankenstein. Dennoch wirken Hansons Skulpturen durch ihre Bemalung, ihre Haltung und auch ihre Kleidung in einer Weise «lebensecht», die das ganze Gegenteil von Balkenhols Arbeiten darstellt. Der perfekte Homunkulus lässt ja durch seine lebendige und lebensechte Gestalt sein Künstlichsein vergessen – etwas, das Hansons Figuren, auch jene von Evan Penny oder John de Andrea einerseits durch die perfekte Mimesis der menschlichen Leiber provozieren – durch die dezente Über- oder Untergröße der Gestalten aber gleichzeitig unterlaufen. Balkenhols Verfahren ist ein anderes, denn ihm geht es nie um Pygmalions Traum: Balkenhol lässt den Holzblock, aus dem die Figur herausgearbeitet wurde, immer sichtbar stehen, als Sockel oder Materialrest. Seine Skulpturen sind Bildwerke, die ihre Entstehungsspuren, die Schnitz- und Sägespuren offen herzeigen, sie sind in diesem Sinne ‘Standhalter’. Vollkommen offensichtlich aus Holz geschlagen, geschnitzt und zugleich von einer warmen Figürlichkeit. So berührt uns das Bild unseres entrückten Zeitgenossen. Nein, eigentlich ist Sempre piú kein Zeitgenosse, das ist das Besondere. Und dennoch einer von uns, kein Gott, kein Heros, wir.
GW: Faust imaginiert so vieles, lässt so viele Bilder vor unserem inneren Auge entstehen. Was ist für Sie im Zusammenhang «Faust und Bildende Kunst» besonders bemerkenswert?
TO: Was im Augenblick die ungeheure Stärke der bildenden Kunst ausmacht, ist die Tatsache, dass sie zu einer Art Metakunst wurde. Sie radikalisiert im Grunde zwei Ebenen der Reflexion – ihr wesensbestimmendes Verhältnis zum Raum und die Kritik der Institutionen und der mit ihnen verbundenen Ideologien, also Machtverhältnisse. Auf sie reagiert sie zum Beispiel mit der Konzeptkunst, die das Objekt verweigert, der Idee des sozialen Kunstwerks, das die Museen und den Kunstbegriff sprengt. All das sind Tendenzen, die zur überlegenen Intermedialität der Bildenden Kunst führen. Sie schluckt alles, was mit Raum zu tun hat: Klang, Bewegung, Reflexion. Daher ist sie auch grenzenlos adaptiv zu Bereichen wie Performance, Tanz, Musik oder Diskurs. Goethe hat mit seinem Faust etwas ganz ähnliches geleistet: Vom mittelalterlichen Volksstück übers Volkslied bis hin zur Stanze, Bilderwelten, Mythologien, Götter und Wissenschaft – es ist ein Metastück, etwas, das dem synästhetischen Charakter des Theaters zutiefst entspricht und ihn in einer bis heute fantastischen Weise an die Grenzen führt.
Auszug aus einer Ausstellungs-Rezension von Andrea Schurian:
«Mischgestalten aus der Mitte der Zeit»
Das bevorzugte Arbeitsmaterial Balkenhols für seine wachsende Skulpturenfamilie ist allerdings Holz. An die hundert Skulpturen und Reliefs fertigt der aus Kassel gebürtige 54-jährige Bildhauer jährlich, schält aus dem weichen Holz der Pappel oder Zeder Gesichter von geradezu betörendem Gleichmut, Figurinen, überlebensgroße Monumente. «Mischgestalten aus der Mitte der Gesellschaft und Zeit», nannte sie Salzburgs Schauspielchef Thomas Oberender in seiner Eröffnungsrede, «immer frisch und vital, aber ohne Drang zur Tat.»
Wiewohl weder auf der Documenta noch auf der Venedig-Biennale vertreten, zählt Balkenhol international zu den bekanntesten deutschen Bildhauern. Für die Salzburger Festspiele hat er einen eigenen Zyklus geschaffen, die Abbildungen zieren den Festspiel-Katalog, seine Frau ohne Ohren gibt dem von Luigi Nono entlehnten Motto der Salzburger Festspiele - «Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken» - ein schönes Gesicht.
Die Originale hängen und stehen im Foyer, den Gängen und Nischen des Hauses für Mozart so, als würden sie dies seit immer und für immer tun. Eine kleine Frau in blauem Kleid steht da beispielsweise auf ihrem Sockel, ideal platziert vor dem Spiegel, sodass man sehen kann, dass sie hinter ihrem Rücken eine Schere versteckt, der ebenso kleine Mann in der Nachbarnische hält ein Messer verborgen. Gegenüber vier Reliefs, zwei Männer, zwei Frauen.
Auch Balkenhols bisher größte Holzfigur, der sechs Meter hohe Männertorso Sempre più («Immer mehr») aus Zedernholz vorübergehend in den Karl-Böhm-Saal im Haus für Mozart übersiedelt. Üblicherweise steht der junge Mann im römischen Caesarforum, «der Wallstreet der Antike», wie es Balkenhol formuliert.
Nicht alle Festspielbesucher sind allerdings geübte Kunstbetrachter. Sie brauchen ihre Hände, um zu begreifen, was sie sehen. Tätscheln in der Figaro-Pause die Reliefs, betapschen Figuren und Büsten, die, wie Oberender es beschrieb, «in ihrer Haltung in raffinierter Weise unberechenbar bleiben, weil sie nichts tun als warten - indem sie in die Ferne schauen, aus der sie kommen und in die sie gehen, scheinbar ohne etwas zu wollen». Vielleicht wollen sie aber doch: lieber nicht berührt werden. Sondern berühren.
(Andrea Schurian / Der Standard, Printausgabe, 29.7.2011)