«Den Fluch durch den Zauber bannen»
Stefan Zweigs Horror vor einer zuschnappenden Ordnung
von Thomas Oberender
[…]
Zweigs nahezu vergessenes Werk
Stefan Zweigs unsentimentaler Blick auf die Gefühlswahrheiten durchgehend inszenierter Verhältnisse entspricht in seiner Novellistik durchaus einer Art von Epochenstimmung im Abendrot des Habsburger Reiches. «In dem Maße, in dem die politische Repräsentanz Theater geworden war», schreibt Hannah Arendt in ihrem Essay über Stefan Zweigs Welt von Gestern, «hatte sich das Theater zu einer Art nationaler Institution entwickelt und der Schauspieler zu einer Art nationalen Helden. Weil die Welt unleugbar etwas Theatralisches angenommen hatte, konnte das Theater als Welt und als Realität erscheinen.» Im Wien des Fin de Siècle drängte alles zur Bühne und verwandelte sich alles zu Theater – vom Historismus der Wiener Ringstraße bis den gesellschaftlichen Typen der Stücke Schnitzlers und Hofmannsthals beruhte das Selbstbild dieser Gesellschaft auf dem Rollenbewusstsein all ihrer Elemente. Jeder wirkte mit an der repräsentativen Inszenierung einer Ordnung, die zunehmend offensichtlich zur puren Fiktion wurde. In dieser Atmosphäre setzte der junge Autor Stefan Zweig all seinen Ehrgeiz daran setzte, als Dramatiker in Erscheinung zu treten. Bis zu Beginn der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts war er seinen Zeitgenossen vor allem als Theaterautor bekannt, kaum als Lyriker und Übersetzer. Erste Bühnen nahmen seine Werke an und sie wurden häufig nachgespielt. Sein Start als Dramatiker war viel versprechend: Bereits 1907 veröffentlichte der damals 26-jährige Stefan Zweig sein Debütstück Tersites.
Seinen berühmten, späterhin mehrfach verfilmten Novellen steht ein umfangreiches dramatisches Werk gegenüber: Schon 1910 erschien seine Übersetzung dreier Stücke von Émilie Verhaeren – Helenas Heimkehr, Das Kloster und Philippe II –, und wer je selbst ein Theaterstück abgeschrieben oder gar übersetzt hat, weiß, dass es kaum ein besseres Studium des dramatischen Handwerks gibt, als eben dies langsame, wortwörtliche Nachvollziehen von szenischer Literatur. 1912 befasste sich Stefan Zweig mit dem letztlich unausgeführten Plan, eine eigene Iphigenie zu schreiben, während im gleichen Jahr seine Stücke Der Verwandelte Komödiant. Ein Spiel aus dem deutschen Rokoko und Das Haus am Meer ihre Premiere erlebten. 1917 folgte sein Stück Jeremias, 1918 seine Übersetzung von Romain Rollands Theaterstück Die Zeit wird kommen und sein Kammerspiel Legende eines Lebens. 1919 übersetzte er André Suarès’ Drama Cressida, unterzog den Text 1924 noch einmal einer gründlichen Revision, bevor 1925 seine bis heute viel gespielte Übersetzung und Bearbeitung von Ben Jonsons Volpone erschien. 1927 folgte Die Flucht zu Gott, sein Epilog für ein unvollendetes Drama von Tolstoi, und im Nachlass fand sich das mit 1928 datierte Stück Adam Lux. Zehn Bilder aus dem Leben eines deutschen Revolutionärs, das zu seinen bemerkenswertesten Arbeiten für das Theater zählt. Ebenfalls 1928 erschien die Tragikomödie Das Lamm der Armen, das letzte, von ihm autorisierte Theaterstück. Ihm folgte 1929 die gemeinsam mit Alexander Lernet-Holenia unter dem Pseudonym Clemens Neydisser geschriebene Komödie Quiproquo, später bekannt unter Gelegenheit macht Liebe. 1931 begann Stefan Zweig, aufgefordert durch Richard Strauss, die Arbeit an dem Libretto für Die schweigsame Frau nach einer Vorlage von Ben Jonson. Die Uraufführung fand 1935 statt, und im gleichen Jahr erschien Stefan Zweigs Übersetzung von Luigi Pirandellos Komödie Man weiß nicht wie. Hinzu kommen zwei Drehbücher, an denen Stefan Zweig mitgearbeitet hat. So entstand aus dem 1931 aufgegebenen Romanprojekt der Postmädchengeschichte in Zusammenarbeit mit Berthold Viertel 1940 ein Filmscript. Es wurde posthum als Rausch der Verwandlung veröffentlicht und 1950 unter dem Titel Das gestohlene Jahr verfilmt. Sein 1936 gemeinsam mit Robert Neumann entwickeltes Drehbuch von Manon Lescaut hingegen wurde nie realisiert.
Zehn Stücke und Bearbeitungen, sechs Dramenübersetzungen, ein Libretto und zwei Drehbücher sind rein quantitativ ein Hinweis darauf, dass Stefan Zweig einen überaus wachen Sinn für die Schauspielkunst besaß. Doch dramatischer als die meisten seiner Stücke wirken heute seine Novellen, während seine Theaterstück mit sympathischer Neugier gelesen, aber gerade wegen ihrer allzu elegant verwalteten Themen und Konflikte und deren stets versöhnlichem Ausklang für das Theater als zu liebenswürdig empfunden werden. Es scheint, als sei der Bürger Stefan Zweig nur in seinen Novellen der Dämonie seines Schreibens gefolgt, als Dramatiker hingegen unterwarf er sich dem inneren Humanisten. Wobei er einen Sinn für das Theatralische besaß, wie ihn nur wenige Theaterautoren entwickeln. Sein bereits erwähnter Einakter Der verwandelte Komödiant liest sich über weite Teile wie eine szenische Philosophie der Theaterkunst, die sich weit hinab in das Lusterlebnis eines Schauspielers begibt. Er offenbart Zweigs von Erotik durchwirkten Sinn fürs Spiel, für den Drang nach Wirkung und Verbergen, für die ihm innewohnende Leichtfertigkeit wie auch unbedingte Nützlichkeit.
Warum Theater?
Als Schriftsteller war er, wie es Hermann Kesten in Stefan Zweig, der Freund sachlich beschrieb, «ein Österreicher, der Sohn eines Wiener Millionärs, ein Erbe, ein Jude. Das ward ihm mitgegeben. Er wurde ein Autor, ein Humanist, ein Pazifist, ein Popularisator. Das hat er aus sich gemacht. Er hatte Erfolg mit erotischen Novellen. Er gewann Weltruhm mit psychologisierenden Biographien. Schließlich wurde er für ein paar Jahre der meist übersetzte Autor der Welt. Begabt mit den altösterreichischen Talenten der Komödie und des Feuilletons, ein konventioneller Schriftsteller mit allen Attitüden der Kühnheit, ein milder Moralist und raffinierter Popularisator, war er natürlich zum Erfolg geboren.» Stefan Zweig verbrachte sein Leben beispiellos unter den Toten und Fernen – als der Mitlebende in den Biografien der Namhaften, oder, wie es Berthold Viertel nannte, als ein unermüdlicher «Schattenkäufer» und «Schattensammler» der europäischen Dämonen: «Alle unsere Großen: Tolstoi und Dostojewski, Stendhal und Balzac, Dickens und Lord Byron, alle unsere Merkwürdigen: Rimbaud und James Joyce, Kleist, den Doppelselbstmörder, und Casanova, den Abenteurer der Liebe», versammelte Stefan Zweig in der systematischen Architektur seiner literarischen Biografien.
Hält man sich die Einschätzungen des Autors vor Augen, ist in ihnen spätestens seit seinem Tod vom Dramatiker Zweig kaum die Rede. Seine eigene Karriereplanung bevorzugte bald andere Wege, und doch blieb er dem Theater verbunden und reflektierte er die Schauspielkunst über Jahrzehnte hinweg in unterschiedlichsten Zusammenhängen. Zur Zukunft des Theaters befragt, hielt er 1917 ein Plädoyer für die Einführung einer Strafsteuer, welche die Theaterdirektoren «zur Entschädigung für die Nichtaufführung deutscher Autoren entrichten» sollen, und drei Jahre später ein zweites Plädoyer für ein «zukünftiges Theater des Geistes und der sittlichen Kraft», das nicht mehr «den barometrischen Schwankungen des Zufalls und Applauses ausgesetzt» sein sollte, sondern ein «festtägliches» Theater, ein «Tempel über unserem Tag». Er schrieb einen Nachruf auf den Schauspieler Alexander Moissi, der im Garten seines Anwesen auf dem Salzburger Kapuzinerberg die Rolle des Jedermann gelernt hatte und auf dessen Drängen hin er Luigi Pirandellos Man weiß nicht wie übersetzte. Von diesem Alexander Moissi behauptete Zweig, dass er «ohne Spiegel» lebte, ohne Sucht danach, in der Gesellschaft zu glänzen, vielmehr angetrieben von der Sehnsucht, «selber einmal zu schaffen und nicht nur nachzubilden.» Das Spiel eines Darstellers wie Moissi schafft für Stefan Zweig eine autonome, schöpferische Wirklichkeit und dies bedeutet letztlich, dass ein solcher Schauspieler sich in seinen Rollen keine anderen Gesichter zulegt, sondern die Masken vielmehr ablegt. Dies hebt, in einer Nebenbemerkung, den interpretierenden Beruf des Schauspielers in seinen geglückten Momenten in die Nähe zur Tätigkeit des Autors und beschreibt zugleich eine immanente Gefahr auch des schriftstellerischen Metiers – eben nicht wirklich zur Dichtung vor zu stoßen, sondern das Leben nur nach zu bilden: Für Hugo von Hofmannsthal, der den jungen Schriftsteller zunächst bewundert hatte, war Stefan Zweig, der sich in seiner Literatur über Literaten und Politiker so vorbildlich von der Welt, ihren Ereignissen und ihrem Geschmack beeinflussen ließ, «kaum mehr als ein Journalist» (Donald Prater, «Leben eines Ungeduldigen»).
Es sind die kleinen, beiläufigen Bemerkungen, die Stefan Zweigs Äußerungen zum Theater so anregend erscheinen lassen, da sie kein System entwickeln, aber en passant überraschende Einsichten mitteilen. So enthalten Zweigs Bemerkungen zu Arthur Schnitzlers 60. Geburtstag keine Äußerungen über den Dramatiker, sondern sind bereits 1922 der Nachruf auf eine Welt von gestern, deren «Wirklichkeit ihrem Dichter untreu geworden» ist – wohlgemerkt: nicht Arthur Schnitzler wurde seiner Welt untreu, sondern die Wirklichkeit ihm. Aber, so schreibt Stefan Zweig: «Nicht die Epoche dauert, und das Werk welkt hin: die Epoche altert ab, das Werk aber erneuert sich als Kultur, als Kostüm, als Gegenwart ewiger Vergangenheit.» Bis auf den heutigen Tag bewähren sich die Stücke Arthur Schnitzlers in diesem Sinne als ein «Kostüm», in das die nachfolgenden Generationen hinein schlüpfen. Der Begriff der Gegenwart erweitert sich dadurch ungemein und verleibt sich vergangene Zeiten ein. In der zweiten Haut der Werke erhält der Körper und Geist der Zeitgenossen eine besondere Kontur und Ausdrucksstärke, da sie ihnen Abstand stiftet zur eigenen Zeit, ein Wissen aus anderen Tagen, und in dem Stoff und der Form dieses Kostüms zugleich die komplette Erlebnisform der Welt – in Sprache, Vorgang und Bedeutung – mit überliefert. Die «Gegenwart» der Kunstwerke, von der Stefan Zweig spricht, ist ein zeitliches Hybrid, eine Mischform aus der im Kostüm überlieferten Entstehungszeit des Werkes und dem Augenblick, da wir ihm, es mit unserer Lebensart ausfüllend, begegnen. Wie ein Kostüm bliebe auch das Kunstwerk ohne die es belebende Begegnung mit der Gegenwart nur tote Materie. So aber trägt das inwendig erfahrene Wissen der Werke zur Selbstgewissheit einer Kultur bei und überlebt. Diese merkwürdige und seltene Fähigkeit zur «Selbstbelebung» kennzeichnet jedes Kunstwerk. Im dichten Raum seiner Form absorbiert es über Jahrhunderte hinweg unsere Aufmerksamkeit und Zeit.
Zwei Formen des Widerstandes – Kleist und Zweig
Wenn man Näheres über Stefan Zweigs Gedanken zum Theater wissen will, ist es aber vor allem seine eingangs erwähnte Studie über Heinrich von Kleist, das Auskunft über ihn selbst gibt.
[…]