«Mehr Licht im Raumschiff»
Unorthodoxe Nutzungsmöglichkeiten machen das ICC zu einem einzigartigen Kulturstandort in Berlin. Es braucht heute und in Zukunft nicht einen, sondern viele Betreiber.
Von Thomas Oberender
Wie würde ein Auto aussehen, wenn man es acht Jahre lang nicht wäscht? Im Moment wirkt das ICC wie ein im städtischen Niemandsland vor langer Zeit notgelandeter Raumkreuzer. Viele Berliner und Berlinerinnen haben den Ort, von dem es SOS funkt, gar nicht mehr auf ihrer inneren Landkarte. Dabei blinkt und rumort es in dieser Zeitkapsel noch immer.
Im 1979 eröffneten ICC Berlin ist alles anders. Statt Beleuchtungen, Heizung und Navigation additiv dem Gebäude hinzuzufügen, haben die Berliner Architekten Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte ein Gesamtkunstwerk geschaffen, das diese Funktionen in das Design und die Architektur komplett integriert. Die Handlaufleisten und Beleuchtung sind Teil der Architektur der Treppen, das Navigationssystem durch das Kongressgebäude ist ein System aus skulpturalen Displays, die von dem Berliner Künstler Frank Oehring im Auftrag der Architekten entwickelt und von ihnen eingepasst wurden.
Shabby, aber chic: Die orange geflieste Damentoilette im Erdgeschoss hat eine acht Meter lange Schminkkonsole mit integrierten Aschenbechern, davor drehbare Hocker für das finale Make-up. Ein «Gehirn» in der Form einer Star-Wars-Kugel aus Neon und Stahl schwebt im zentralen Foyer und von ihr aus durchziehen blaue und rote Neonröhren das gesamte Gebäude wie ein Kreislaufsystem aus Venen und Arterien. Die kippbare Publikumstribüne im mehr als 3000 Besucher fassenden Saal 2 wiegt so viel wie der Berliner Funkturm. Und die jüngste Initiative des Wirtschaftssenators Stephan Schwarz im Berliner Abgeordnetenhaus lässt die Hoffnung aufkommen, dass sie sich irgendwann wieder bewegt.
Das Bekenntnis der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey zum ICC als Kulturstandort nach dem Vorbild des Pariser Centre Pompidou schaltet in diesem alten Raumschiff plötzlich das Licht an. Es war und ist Berlins teuerstes Gebäude. Als sich für das Projekt «The Sun Machine Is Coming Down» der Berliner Festspiele 2021 nach vielen Jahren der Schließung die Türen des ICC wieder 10 Tage lang für das Publikum öffneten, waren nicht nur die alten West-Berliner, sondern vor allem viele junge Stadtbewohner vom intakten Glamour, der lichten Großzügigkeit und dem frappanten Style dieser High-Tech-Architektur beeindruckt und fluteten die Instagram-Kanäle mit ihren Zeitreisefotos.
Das ICC wurde dazu entworfen, viele Veranstaltungen gleichzeitig stattfinden zu lassen, und dieses Konzept einer großen Veranstaltungsmaschine ist in Berlin nach dem Abriss des Palastes der Republik, der die Ingenieure des ICC in vielen technischen Details inspirierte, heute einzigartig. Oft wird das ungünstige Verhältnis zwischen Nutzfläche und Verkehrsfläche des ICC als großes Problem beschrieben, aber es kann verändert werden und birgt auch Chancen.
Die großen Verkehrsflächen, also die weitläufigen Gänge, Foyers und Zwischengeschosse, sind nicht nur für den Publikumsverkehr nötig, sondern können zugleich Spielflächen sein. Nicht alles muss in den Sälen stattfinden, künstlerische Installationen, Ausstellungen, temporäre Performances und Pop-up-Strukturen könnten auch hier installiert werden. Diese simultanen und unorthodoxen Nutzungsmöglichkeiten machen das Haus einzigartig.
Ein Betreiberkonzept, das auf dem Prinzip der Private-Public-Partnership beruht, würde bei dem Versuch, dieses Haus wiederzubeleben, dem Land Berlin wichtige Spielräume erhalten. Denn das eigene Haus zu verkaufen, aber vorher noch zu bestimmen, wie später darin gewohnt wird, ist eine schwierige Sache. Vielleicht gibt es irgendwo auf der Welt den großen Oligarchen oder Unternehmer, der mit dem ICC ein Statement abgeben möchte? Realistischer als Privatinvestoren sind jedoch internationale Immobilienentwickler; aber wenn solche Hunderte Millionen Euro investieren, wird das einen anderen Kulturbegriff fördern als jenen, zu dem sich Franziska Giffey oder Senator Schwarz bekennen. Wenn Berlins Bürgermeisterin das Centre Pompidou in Paris als eine Referenz anführt, ist das sympathisch. Doch das Centre Pompidou ist keine privatwirtschaftliche Institution, sondern ein politisches Projekt, ähnlich wie das Humboldt-Forum und hoffentlich auch das zukünftige ICC.
Selbst große Privatakteure im Kulturbereich wie die Guggenheim Foundation oder das Luma in Arles hätten es beim ICC mit einem Gebäude zu tun, das nicht als Ausstellungshaus gebaut wurde und in diese Richtung auch nicht umzubauen ist. Es ist gut, dass Stephan Schwarz das Haus nicht erst sanieren und dann vermieten will, sondern zuerst die Konzeptfrage stellt. Um welchen Begriff von Kultur geht es? Das ICC steht mit seiner High-Tech-Architektur für innovative, modulare Konzepte. Es braucht heute und in der Zukunft nicht einen Betreiber, sondern viele. Es könnte als architektur-ikonischer Ort für den Wandel unserer Sicht auf die Technologie, auf Zukunftskonzepte und die Digitalität stehen und Energie aus vielen Modulen generieren.
Ein Beispiel dafür ist das Konzept der Initiative ICCC, das bereits die nachhaltigen Umbauaktivitäten in diesem Gebäudes zu einem Pilotprojekt für ein zeitgemäßes Profil dieses Ortes machen möchte. Zentrale Idee für eine rentable Nutzung ist die Einrichtung einer Serverfarm in den riesigen Untergeschossen des ICC, deren Abwärme für die Heizung genutzt wird. Daten und Daten-Commons wären an diesem Ort das Zukunftsthema für Akteure, die sich mit Digitalität und dem Schaffen von Künstlern, Unternehmern und Kreativen des digitalen Zeitalters beschäftigen. Ein Blick auf die ICCC-Website zeigt nicht nur ein riesiges Schwimmbecken auf dem Dach, sondern vor allem, wie konkret und mit unterschiedlichen Bereichen der Stadtgesellschaft verbunden diese Vorschläge für eine Umnutzung des ICC bereits sind. Auch anders geartete Konzepte wie das der Initiative ICCA zeigen, dass man nicht bis 2026 warten muss, um diesem Haus wieder neues Leben einzuhauchen, denn Expertise und Engagement sind bei vielen Akteuren der Stadtgesellschaft im Blick auf dieses besondere Gebäude vorhanden und seit Jahren entwickelt worden.
Zählt man die jährlichen Betriebskosten für das Geschlossenhalten des ICC von 1,5 Millionen Euro in den Jahren seit 2014 zusammen, wäre inzwischen jene Summe vorhanden, die erforderlich ist, um das Haus im gegebenen Zustand wieder bespielbar zu machen. Das Tacheles sah in den 90ern schlechter aus.
Leerstand zermürbt, macht Immobilien, Menschen und ihre Gedanken grau. Viele Kreative der Stadt ziehen inzwischen in die äußersten Außenbezirke der Stadt oder aufs Land, weil die Mieten immer höher werden, und das Gebäude mit den schönsten Sälen der Stadt steht derweil leer. Warum es nicht zwischennutzen? Warum nicht eine Projektentwicklungsgesellschaft gründen, die es im Interim bis 2026 nutzt und mit ihren Erfahrungen das zweistufige Konzept- und Vergabeverfahren begleitet?
Überhaupt sollte man sich im Senat zunächst intensiv mit bestehenden Konzepten beschäftigen, in denen viel ICC-Expertise von internationalen Architekten und Urbanisten versammelt ist, und erst auf dieser Grundlage ein Konzeptverfahren ausloben. Alles andere hat der Senat schon zweimal gemacht, und welcher Investor soll noch glauben, dass es diesmal ernst gemeint ist? Ich glaube nicht, dass die kulturelle Nutzung des ICC allein von privaten Investoren geprägt werden sollte. Außerdem würde das Land Berlin in die Nutzung und Finanzierung dieses Gebäudes nicht erst einsteigen, sondern ist schon drin. Alleiniger Betreiber des ICC ist derzeit die Messe Berlin. Alleiniger Gesellschafter der Messe Berlin GmbH ist das Land Berlin.
Wenn das Land Berlin sich aus dem ICC zurückzieht, verliert es an diesem Ort einen für die Stadt wichtigen Gestaltungsspielraum. Wer Centre Pompidou sagt, sollte auch Centre Pompidou meinen. Wie bedrückend sich Unentschiedenheit und ein fehlendes politisches Commitment auswirken können, lässt sich seit Jahren bei der zähen Entwicklung des Flughafengebäudes Tempelhof beobachten. Umso mehr ist nun die Initiative des Berliner Wirtschaftssenators und der Regierenden Bürgermeisterin zu begrüßen. Sie küsst das Dornröschen im Raumschiff zumindest einmal wach. Und wenn es sich umschaut, wird es sehen, dass die Zeiten von «arm aber sexy» in Berlin vorbei sind und nicht das Humboldt-Forum sein Schloss ist.
Der Hinweis des Wirtschaftssenators auf die nicht-denkmalgeschützten Bereiche des ICC eröffnet privaten Investoren viele Optionen – von einem Hotel über ein Bürogebäude oder Clubs und Nachtökonomie in den Tiefgeschossen. Es könnte ein Haus sein, das niemals schläft. Zugleich wären Investitionen auch für das Land Berlin an diesem Ort eine gute Option. Noch ist der Standort für die neue Landesbibliothek nicht abschließend vergeben. Das ICC liegt zentrumsnah und ist mit der Ringbahn gut angebunden. Auch der Bund, der Berlins Kulturetat mit seinen Zuwendungen jährlich verdoppelt, könnte für zyklische Formate wie die Berlinale oder das Internationale Literaturfestival zukunftssichere Orte schaffen. Warum ein neues Filmhaus für viele Millionen in Mitte bauen? Auch für eine Landesgesellschaft wie die Messe Berlin bleibt das ICC ein wichtiges Haus für große Kongresse und Veranstaltungen.
Überhaupt spielt die Messe Berlin für die Zukunft des ICC eine Schlüsselrolle – denn sie hat das gesamte Know-how über das Gebäude; hier sind die Mitarbeiter beschäftigt, die noch wissen, wie der Organismus lebt, wie man im ICC das Licht einschaltet und wo die Klimaanlage oder das Cofalit im Keller sind. Selbst wenn man das ICC aus den Liegenschaften der Messe-Berlin-Gesellschaft ausgliedern würde, bliebe sie ein wichtiger Partner für die Bespielung.
Am schönsten wäre es, ab 2024 gäbe es ein bezahlbares Tagesticket für das gesamte Haus, und darin finden gleichzeitig Konzerte, Ausstellungen, Kinoabende, Galerieveranstaltungen, Theater, Workshops und Diskussionen statt. Einfach im gegebenen Zustand des Gebäudes. Wenn es schrittweise saniert wird, sind auch zyklische Events wie die großen Festivals, Messen und Kongresse der Stadt möglich, vor allem aber ein Nebeneinander sehr diverser Veranstaltungsformen, zwischen denen die Menschen flanieren und spontan wechseln können. Sind sie einmal da, schauen sie ohnehin auf Instagram, wo es gerade am interessantesten ist.
Oder sie gehen essen, auf dem Dach schwimmen oder im Keller tanzen. Mit all diesen Modulen verbinden sich Investoren, und vieles davon könnte eigentlich sofort passieren, sobald die nötigsten Grundinvestitionen getätigt sind, die das Haus wieder betriebsfähig machen. Am besten schützt man Denkmäler, indem man sie nutzt.
Berliner Zeitung, 21.1.2023, S.8
Website «The Sun Machine Is Coming Down» Berliner Festspiele
Stephan Becker: «Festival zeigt mögliche Zukunft des ICC Berlin», BauNetz, 8.10.2021