«Man muss diesen Stücken Zeit geben»
Heiner Müller als das Loch in der Mauer
Tobias Forrer im Gespräch mit Thomas Oberender über den Dramatiker Heiner Müller
Erschienen in «Heiner Müller heute in der Schweiz», Hg. Christian Mächler
Tobias Forrer: Wenn man die Programme der größeren Theaterhäuser anschaut, könnte man meinen, dass sich in diesem Winter ohne Lessing und Schiller keinen Spielplan machen lässt. Warum finden sich kaum Stücke von Heiner Müller, wo doch sein Tod vor zehn Jahren soviel Aufmerksamkeit erlangte.
Thomas Oberender: Vielleicht besteht eine Art Rezeptionshemmung. Die Stücke haben bereits zu Müllers Lebzeiten eine Klassizität erreicht, die nun häufig mit den Verhältnissen der DDR in Verbindung gebracht wird. Und Heiner Müller hat in seiner Arbeit als Regisseur natürlich auch eine sehr eigene Aufführungskonvention entwickelt – ich denke da an die bleichen Gesichter, die emotionslose Repetierung des Textes, die Schweisserbrillen, die rot gefärbten Hände, die Gasen, das chorische Sprechen, usw. Das wirkt heute historisch, als Stil, aber auch als Haltung zur Welt. Es gibt kaum neuere Inszenierungen, in denen die Stücke eine kritische und ästhetisch radikal andere Neuinterpretation erfahren haben, wie etwa in Robert Wilsons Inszenierung der «Hamletmaschine».
TF: Heisst das auch, dass die Stücke jetzt, in unserer Zeit, sich nur schwer zu lesen geben?
TO: Heiner Müllers Dramatik war nie nur tagesaktuell und insofern wahrscheinlich zu jeder Zeit «schwer» zu lesen – eben weil ihre historische Perspektive großräumiger war. Unabhängig von seiner hohen dichterischen Qualität beharrt Heiner Müller in ihr auf dem Begriff des Dramas, also jenen Ideen und Kräften, die über den Einzelwillen hinweg herrschen. Insofern beschrieb er die Tragödie des Sozialismus, aber genauso die des Westens. Immer wieder geht es Müller darum, das Imperium Rom, das Reich der westlichen Welt, nach Alternativen abzusuchen und Gegenkräfte zu mobilisieren.
TF: Diese anderen Kräfte haben sich seit dem 11. September in einer unglaublich deutlichen und gewalttätigen Weise gezeigt. Hat die Geschichte Müller eingeholt?
TO: Nein, im Gegenteil, sie hat ihn bestätigt, und daran zeigt sich, dass die Klassifizierung Müllers als eines Ostautoren nicht hält. In seinem Stück «Anatomie Titus» fasziniert ihn der Gedanke, dass unsere Hauptstädte, durch eine List der Geschichte, von den Barbaren erobert werden. Der Konflikt mit den nicht-integrierbaren und grundsätzlich andersartigen Kräften wird nicht verschwinden, seien es kulturelle Kräfte, kriminelle oder jene des Traums und Rausches. Je siegreicher sich eine Ideologie, ein Imperium gibt, desto vehementer schlagen diese Kräfte zurück.
TF: In dem Zusammenhang taucht bei ihm auch der Begriff der Dritten Welt auf.
TO: Heiner Müller denkt dabei wahrscheinlich weniger an die Notstandsgebiete in Afrika, Lateinamerika oder Asien, als an etwas, das in den Zentren unserer Welt auftaucht, und zwischen arm und reich etwas drittes repräsentiert, das uns zum Umdenken zwingt oder zwingen sollte. Beispielsweise die Drogenszene mitten in Zürich oder in die Entgleisungen der bürgerlichen Verhältnisse während der 80er Unruhen. Ähnliches bricht jetzt in Frankreich wieder auf: Auch hier sind die Konflikte, die man auslagern wollte oder sich sonst in Afrika und seiner Grenze zur Europa abspielen, im Zentrum entbrannt. Diese Prozesse machen sich für Heiner Müller aber auch in Form des geschlechtlich Anderen bemerkbar – das Andere, im genaueren: das Wesensandere, ist für ihn ein Hoffnungsmoment, das die Realität der Verhältnisse erschüttert, ohne dass wir sie aufklären könnten.
TF: Eine kleine Revolution, die bis ins Feinste unseres Lebens wirkt.
TO: Ja, wir zündeln ja alle mit antibürgerlichen Reflexen – Protestbewegungen, Subkulturen, Radikalismen der verschiedensten Art. Heiner Müller versuchte einen Schritt weiter zu gehen. Das Nachbürgerliche kehrt heute zurück in Gestalt fundamentalistischer Bewegungen, die den westlichen Kontext verweigern. Und Heiner Müller verteidigte mit einem durchaus reflektierten, in gewissem Sinne auch weltfremden Trotz die Utopie des Sozialismus gegen den Siegeszug des Marktes, obwohl er wusste, dass das Land, dessen Wahlbürger er blieb, vollkommen von inneren Aporien zersetzt war. Trotzdem war der Ostblock, so heterogen dieses Gebilde auch war, ein einmaliges Experiment in der Weltgeschichte, dass in der DDR vierzig Jahre lang ein System nach nicht-bürgerlichen Regeln etablierte. Sie waren kleinbürgerlich, diktatorisch, militaristisch, alles in allem keineswegs angenehm, aber ein aus heutiger Sicht unglaubliches Experiment.
TF: Und wie verhält sich darin eine nicht-bürgerliche Kunst?
TO: Indem sie immer wieder fragt: Wie können es Künstler vermeiden, Komplizen der Macht zu sein? Aber das fragt sich auch der bürgerliche Künstler, wenn es so etwas überhaupt gibt.
Eine Möglichkeit, diese Komplizenschaft zu umgehen, zeigt die «Hamletmaschine», eines der radikalsten Stücke Müllers: Ohne Handlung, Dialoge, Figuren entzieht dieses dekonstruktive Theater auch jeder Anti-Haltung den Boden. Doch so genial es als Kunstwerk ist, das Stück zündet heute nicht.
TF: Grundsätzlich gilt das auch für jedes Stück von Schiller oder Lessing.
TO: Ich meine eine historische Differenz, welche die Stücke immer wieder neu lesbar, aber sie zu gewissen Zeiten auch nur sehr schwer lesbar macht. Und ich frage, ob nicht gerade das «Handlich-Machen» der Aufklärungs- und der Theatergeschichte in Form dieser zitathaften Stückelung in der «Hamletmaschine» uns zwar einen Baukasten für Utopien vorsetzt, wir aber verlernt haben, selbst welche zu zimmern, weil andere Institutionen uns längst die Fertigware liefern. Ich denke da an Parteien, TV-Sendungen, aber auch an Möbelkataloge, die uns stellvertretend schöneres Wohnen versprechen.
TF: War das je anders?
TO: Nein, aber vielleicht sind wir an einen Punkt gelangt, wo wir uns auch mal mit den Erzeugungsmöglichkeiten von Sinn beschäftigen müssen.
TF: Nehmen Sie einen Text wie «Bildbeschreibung» – schon im Titel annonciert der Text, dass die Realität des Textes das Ergebnis einer Konstruktion ist. Der Text spielt mit den Erzeugungsmöglichkeiten von «Wirklichkeit» und «Sinn» und verwickelt den Leser oder Zuschauer in diesen Vorgang – genau dieser Vorgang wird zum eigentlichen Drama: «Sinn» ist keine absolute Dimension, sondern etwas zutiefst Relatives und der Einzelne muss ihn individuell verantworten. Keine Ideologie nimmt ihm dies mehr ab. Heiner Müller würde gerade das, was Sie ihm in der «Hamletmaschine» absprechen, für sich in Anspruch nehmen: Dass er über die Inkohärenzen eine Ahnung von Zusammenhängen evoziert. Man muss man diesen Stücken Zeit geben, mehr Zeit, als unsere schnell produzierenden Betriebe zur Verfügung stellen. Und diese Texte mit einer eigenen Form der Erfindung, die sich von dem Text emanzipiert, konfrontieren – Robert Wilson oder Dimiter Gotscheff finden solche Formen, weil sie in gewisser Weise selbst Autoren sind.
TF: Über Müllers Theater-Arbeit sind mittlerweile an die 700 akademische Beiträge allein im deutschen Sprachraum verfasst worden: Ist das ein Grund warum Sie die Person Müller in ihrem jüngsten Stück «Hundert Fragen an Heiner Müller» in den Vordergrund stellen?
TO: Einerseits resultiert dieses Stück aus einer Empfindung des Vermissens: Er fehlt. Seine Stimme fehlt, sein Humor, sein Wissen, seine Sprache. Und deshalb haben wir diese Art von Seance veranstaltet. Ihr zugrunde liegt die bange Frage: Was bleibt von einem Menschenleben? Ich habe Moritz von Uslar gebeten, hundert Fragen an einen Toten zu schreiben. Wir haben dann Menschen gebeten, die eng mit Heiner Müller vertraut waren, in seinem Geiste zu antworten – sie als er. Der Text sollte changieren zwischen der Totenbeschwörung, der Frivolität einer solchen Geisterschau und gleichzeitig für Momente tatsächlich etwas anwesend werden lassen, das Unwiderbringlich dahin ist: ihn.
TF: Welche drei Gegenstände assoziieren Sie mit Heiner Müller?
TO: Brille, Zigarre, schwarzes Jackett.
TF: Welche Klischees über Müller sollte man endlich aus der Welt schaffen?
TO: Keines.
TF: Seine unbekannteste Seite?
TO: Er war ein sentimentaler Mensch.
TF: Für Sie als ostdeutschen Theaterautor, war Heiner Müller eine Vaterfigur?
TO: Ja, auf jeden Fall. Er war ein Erzieher, während ein paar Jahren meines Lebens, der letztlich die Welt im Osten erträglich machte, weil er ihr einen Sinn gab, den sie längst nicht mehr besaß, wenn man sie nicht von «draußen» betrachten kann. Heiner Müller war das Loch in der Mauer, durch das Welt in das eingeschlossene Land kam; über ihn habe ich Foucault, Lyotard, Artaud, William Faulkner, Ernst Jünger, ja selbst Majakowski entdeckt. In den achtziger Jahren brachte mir ein Freund ein Exemplar der ersten drei Stücke aus der «Wolokolamsker Chaussee» mit, er hatte sie abgetippt, man sie nirgends kaufen konnte. Seine Texte waren damals eine Form von Lebensmittel.
TF: Sie sind ihm je begegnet?
TO: Privat habe ich den Kontakt nie gesucht. Es gab schon genügend kleine Heiner Müllers.
TF: Eine richtige Pop-Figur also: Obwohl so oft nachgeahmt, als hätte Warhol ihn gesiebdruckt, lässt er sich doch auf nichts festlegen. Müller ist unendlich mal Müller und doch niemals Müller.
TO: Seine Popularität, denken Sie an die vierzehntägige «Staatstrauer» im BE nach seinem Tod, als Schauspieler, Freunde und Fans seine Texte in einer scheinbar endlosen Session über viele Tage und Nächte hinweg lasen, auch von seiner großen Nahbarkeit her rührt. Natürlich hat er sich selbst stilisiert. Und viele Menschen, auch ich, haben ihn als Sprecher ihrer persönlichen Nöte empfunden. Er wollte auf der Seite der Verlierer stehen.
(Gespräch mit Tobias Forrer, Schweizer Theaterzeitung, 5. Dezember 2005)
«Auf dem Weg durch den Nachkrieg»
von Beatrice von Matt
NZZ 25.1.2006
Auszüge aus der Rezension
Nach der Wende konnte Heiner Müller nicht mehr schreiben. Zumindest verweigerte sich ihm lange Zeit das, woran ihm am meisten gelegen war: das Drama. Er hatte mit der DDR die Reibungsfläche für die Arbeit verloren. Auch der letzte dramatische Text, «Germania 3 Gespenster am Toten Mann», zeigte Spuren dieser Krise. «Das Drama hat mehr mit Staat zu tun als andere literarische Gattungen», stellte Müller in seiner «Autobiographie» fest. Besonders ergiebig sei für den Dramatiker die Diktatur. Deren Untergang hatte er zwar kommen sehen, auch wenn er mit Gorbatschew zunächst noch an eine Erholung des Systems glaubte. Als es tatsächlich so weit war und die DDR sich wirklich auflöste, wusste er nicht mehr, wo er stand: «Plötzlich fehlt ein Gegner, fehlt die Macht, und im Vakuum wird man sich selbst zum Gegner.»
Wie seinem «Glücklosen Engel» von 1958, «wartend auf Geschichte in der Versteinerung», waren dem Autor Vergangenheit und Zukunft abhanden gekommen. Der tote Moment und der Horror Vacui drohten in Müllers Werk schon immer, im Monolog «Todesanzeige» von 1975 etwa. Dort erinnert sich der Autor an den Zusammenbruch der ersten Diktatur seines Lebens, 1945. Als Sechzehnjährigen sieht er sich «auf dem Weg durch den Nachkrieg» beim «Nachtmarsch über einen Bahndamm in Mecklenburg, in zu engen Stiefeln und zu weiter Uniform: die dröhnende Leere». Die Eltern flohen 1951 in den Westen. Ostberlin wurde für den Sohn etwas der Leere Abgetrotztes, eine Herkunft, legitimiert durch Bertolt Brecht.
Den Westen kannte Müller wohl, hier kamen einige seiner wichtigsten Dramen zur Uraufführung. In der DDR wurden sie immer wieder verboten - bis 1986, als er, reichlich spät, mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet wurde. Das war «eine Aufforderung zum Waffenstillstand (…) danach war ich der meistgespielte Autor der DDR». Gut zwei Jahre lang also noch. Dann eben das Ende. Am Schicksal des Geschichtsschreibers Mommsen, der den 4. Band seiner «Römischen Geschichte» schuldig blieb, beleuchtete Heiner Müller 1993 seine eigene Schaffenskrise. Im grossartigen kleinen Epos «Mommsens Block» schilderte er, wie die «Cäsaren der Spätzeit» den Historiker anwiderten und er darum nicht weiterkam. Auch Müller sah sich in einer solchen Spätzeit. Nicht für lange.
Er starb am 30. Dezember 1995. (…)
Wenn jetzt, aus Anlass seines 10. Todestags, da und dort fast hämisch vermerkt wird, seine Stücke seien vom Theater verschwunden, so zeigt das einmal mehr, wie sehr die Kunstrezeption von Vorurteilen gesteuert ist. Gewiss darf man Müller nicht mehr aufgereckt und pathetisch spielen, wie das Mode war. Eher zurückgenommen sollte es sein, wie Robert Wilson einst in Stuttgart die «Bildbeschreibung» sprechen liess. Oder wie Werner Düggelin 1999 in Basel «Quartett» inszenierte: kristallklar und unheimlich. Doch wenn uns die Bühnen Heiner Müllers Stücke vorenthalten, kann man sie ja lesen. Wie Gedichte. Als geisterhafte Sprachkörper verführen sie mit einer wunderbaren Poesie. Wir können uns selbst in ihnen finden, unsere Sehnsucht nach Schönheit und Schrecken. Sie werden so noch lockender.
Ein Geheimnis bleibt immer um diesen Dichter. Er erfuhr es selber so: Seine Texte, die man auch «naiv» lesen könne, stünden wie Rätsel in der Landschaft. In einer der hier erstmals veröffentlichten Passagen spricht er von «existenzieller Fremdheit». Gerade in Begegnungen mit Kollegen aus dem Westen sei ihm diese wieder bewusst geworden. Eine «unterschwellige Distanz» habe sich nie ausräumen lassen. Man missverstehe sein Werk als blosse «Intelligenzleistung».
Wie sehr der Schriftsteller aber doch bei jüngeren Leuten lebt, zeigt das reichhaltige Heft «Heiner Müller heute in der Schweiz», das auf den Todestag hin mit Unterstützung der Schweizer Theater von Christian Mächler herausgegeben wurde. Es versammelt Zeichnungen und Textbeiträge, unterhaltsam und - teilweise - auf hohem Niveau.