«Diskrete Anleitung»
Jon Fosse - ein ganz normaler Mann der Extreme
von Thomas Oberender
In dem Moment, da ich Jon Fosse in Zürich traf, erinnerte ich mich, dass ich ihm bereits einige Jahre zuvor begegnet war. 1997 haben wir auf der Baltic Drama Fair in Danzig aus unseren Stücken gelesen und er wurde von seinem Begleiter Carl Morten Amündsen als infant terrible und aufstrebender Stern am nordischen Theaterhimmel vorgestellt. Seine Lesung war tatsächlich beeindruckend. Jon Fosses Anwesenheit wirkte leicht abwesend, kein suchender Blick, kein Lächeln, eher widerwillig gab er Antworten. In der anschließenden Diskussion sagte er, dass die Westdeutschen, im Vergleich zu den Menschen im Osten, auch in Polen, keine Scham hätten. Auch sein glattes, lang herabfallendes Haar, dessen Strähnen er sich ab und an hinters Ohr strich, erinnerte mich an den jungen Peter Handke.
Als ich ihn nun wiedertraf, trug er noch immer halblange Haare, die Ausstrahlung ist noch immer die eines stolzen und in der Begegnung dennoch leicht zurückweichenden Menschen. Er dreht vorsichtig wie ein Schuljunge, wenn die Pausenaufsicht kommt, die Glut aus der Zigarette, bevor er auf die Toilette geht. Prince Denmark, aber Lights, sagt Jon Fosse nach seiner Rückkehr, jahrelang hat er nur rote Marlboro geraucht, tippt mit dem Finger auf die dänische Krone auf der Schachtel und zündet sich den verkohlten Stummel wieder an. Er wirkt unauffällig, freundlich. Im Einkaufsbeutel trägt er am Abend eine Wurst aus Zürich mit sich - ein Mitbringsel wie er es jedesmal auf seinen Reisen sucht - etwas, das typisch ist für den Ort, an dem er gerade ist.
Mit sieben Jahren wäre Jon Fosse nach einem Unfall beinahe verblutet und sagt, er hätte damals, auf dem Weg ins Krankenhaus, etwas gesehen, das er nicht benennen möchte. Er hat sich von außen gesehen. Von da an, sagt er, sei er ein Schriftsteller gewesen. «Man steht mitten drin und sieht dennoch auf das Leben, als stünde man darüber. Ich denke, diese dritte, ganz undefinierte Position ist für das dramatische Schreiben sehr wesentlich.» Tatsächlich sind seine Romane und Stücke extrem kalkulierte, von äußerster Präzision und Ökonomie geprägte Konstruktionen, die so kühl und abstrakt nur aus einem großen Abstand heraus zu finden und im Werk zu etablieren sind - die Struktur seiner Stücke erinnern mich an die minimalistischen Spielwerke von Samuel Beckett, zugleich sind sie wesentlich wärmer und öffnen sich unversehens ins Traumhafte. Beim Schreiben hört Jon Fosse gerne Bach. Seine Texte bewegen sich oberflächlich in einer veristischen Manier, sehr nah an der rohen Unbeholfenheit des Lebens selbst, was eine phantastische Tarnung ihrer melancholischen Spekulationen um Einsamkeit, Schuld und der Präsenz von Dingen ist, die keine Dinge sind.
Jon Fosse ist, wenn ich ihn recht verstanden habe, ein Mann der Provinz geblieben, ein Boheme, der sich als ein fremder Geselle am Stadtleben reibt und das Establishment provoziert. Wie sein Künstleridol, der Landschaftsmaler Lars Hertervig, der in Düsseldorf Malerei studierte und später wahnsinnig wurde, lebt auch Jon Fosse in Hertervigs Provinz, allerdings noch gut bei Verstand und enorm produktiv. Hertervigs Leben schilderte er übrigens in dem Roman Melancholie und wie sein Lieblingsmaler ist auch der Dichter ein Mensch jener Landschaft, in der er als Sohn eines Geschäftsführers des einzigen Gemischtwarenkaufhauses der Gegend aufgewachsen ist.
Jon Fosse ist ein Mann der Extreme, extrem traurig, extrem belesen, extrem trinkfest - wie selbst Josef Bierbichler nach einem Besuch bei ihm zugeben musste. Fosse ist extrem früh Vater geworden, mit sechszehn Jahren und ist extrem musikalisch, bis er mit vierzehn Jahren, nachdem er mit seiner Band the rocking chair in den Tanzsälen der Umgebung aufgetreten war, schlagartig aufhörte, ein Instrument zu spielen, da er dachte, es auf diesem Feld nicht weit zu bringen. Er war früh extrem entschieden, seinen Lebensunterhalt ausschließlich mit dem Schreiben verdienen zu wollen. So verfasste er seinen ersten Roman schon im ersten Internatsjahr am Gymnasium, gewann im ersten Studienjahr den ersten Preis in einem Wettbewerb für die beste Kurzgeschichte und schrieb mit zwanzig Jahren seinen ersten Roman, der tatsächlich veröffentlicht wurde – er erschien 1983 unter dem Titel Rot, schwarz. Jon Fosse schrieb, um Geld zu verdienen, etwas, auf das er immer wieder zurückkommt: er brauchte Geld. So verfaßte er Artikel für Tageszeitungen in Bergen und übersetzte Texte von Frank Wedekind, Thomas Bernhard, Botho Strauß, David Harrower und Lars Norén. Schließlich schrieb er selbst für das Theater, denn er brauchte Geld.
In seinen Texten entwickelte er eine extrem künstliche Sprache – eine Mischform aus «Nynorsk», der offiziellen Schriftsprache Neu-Norwegisch, und den Stilmitteln der gesprochenen Sprache seiner Region. Er sagt: «Die Bühne ist jenseits der Wirklichkeit, das ist diese Sprache auch. Das, was das Theater dazu bringt, die Kultur zu überschreiten und zur Kunst zu werden, ist schlicht und einfach, dass man dort eine Stimme wahrnimmt, die man nie zuvor wahrgenommen hatte.» Er nennt diese Stimme die «stumme Stimme voller unbekannter Bedeutung.» Jon Fosse ist ein extrem produktiver Autor – er hat inzwischen an die vierzig Bücher veröffentlicht. Man sagt, sie sind allesamt bedeutend.
Für seine Texten stehen die Zeiten günstig, sagt er, denn die großen Ideen, durch die das Schreiben lange Zeit glaubte, sich legitimieren zu müssen, etwa durch politische Ziele, oder ästhetische Konzepte, haben an Kraft verloren. Somit gibt es wieder die Ahnungen anderer Kräfte. Er bezeichnet sich als moralischen Schriftsteller: «Was heißt es, Mensch zu sein – das ist, was mich als Moralisten beschäftigt. Es ist eine Moralität ohne politische Ausrichtung.»
Alle seine Figuren, sagt er, haben «diese kindliche Angst des Verlassenwerdens. Das ist das Bild: ein kleines Baby ganz allein auf der Welt. Nicht unsere Identität, sondern unsere Beziehungen steuern unser Leben. Und keine andere Kunstform außer dem Theater kann dieses soziale Spiel abbilden.» So zwingt Jon Fosses Dramatik die Schauspieler und Zuschauer gleichermase in intensive und labile Beziehungen. Seine Texte sind diskrete Anleitungen zur Intimität und zugleich immer durch die Hintertür auch Skandalstücke.
Anders als bei Schiller, dessen Verse immer auch solistisch zu spielen sind und einen anderen Adressaten haben als das szenische Gegenüber, können die Schauspieler in den Texten des norwegischen Dichters nie das Zusammenspiel verweigern – sie dulden keine Solisten, weil ihre Sprache sich bruchstückhaft von einem zum anderen bewegt, immer auf Ergänzung und Mitverständnis angewiesen. Ohne Gegenüber gäbe es kein Sprechen und weil es ein Gegenüber gibt, kann man nicht sprechen. Aus dieser Paradoxie beziehen sie ihre Kraft. Entweder, diese Texte stimulieren eine Art forcierter Kommunikation, oder sie enttäuschen als angebliche Stammeldialoge und Lethargieblöcke. Jon Fosse, der sagt, dass er seine Arbeit für die «gescheiterte oder verhinderte Sprache» geöffnet hat, weil in ihr etwas anderes hörbar wird, ist unter den zeitgenössischen Dramatikern gewiß der Antimonologische, der intensivste Dialogisierer und Aussprachestifter, obgleich die Rede seiner Figuren scheinbar zwanghaft um den eigenen Zustand kreist. Aber es ist eben ein Zustand, der erst durch das Beisammensein entsteht, nie aus der selbstgenügsamen Virtuosität des mit sich selbst Beschäftigten. Seine Texte sind gesättigt vom Sentiment, sie gehen nahe, aber ihrer Gestalt nach sind sie immer nur Andeutungen, Fraktale, Annäherungen.
Der Dichter sagt, er schreibe Stücke «wie eine Fahrt ins Unbekannte». Zugleich bergen diese Texte einen Plot, der fast immer eine Provokation umkreist, aus der in Hollywood Filme werden. So freundlich und in gewissem Sinne nahbar Jon Fosse ist, so hart und dicht an skandalösen Vorgängen ist er in seinen Stücken. Es sind keine beiläufigen Kalamitäten, die er schildert, sondern die großen Tragödien in den kleinsten Zusammenhängen. Sein Verfahren nennt er «negative Mystik» und er ist überzeugt, dass man auf das Positive «nicht direkt» zugehen könne – für ihn ergibt es sich in einer Art Umkehrschluss. So hat Jon Fosse in seinen Texten eine Virtuosität und metaphysische Intelligenz der Struktur entwickelt, die an Samuel Beckett erinnert, an Bernard Koltes oder Thomas Bernhard. Andererseits bleibt er der Solitär aus dem hohen Norden: Ein Drama wie Traum im Herbst und auch jüngere Romane wie Morgen und Abend oder Das ist Alise entwickeln eine noch nie dagewesene Traumspiel-Dramaturgie, in der sich die Zeit und der Umriß der erzählerischen und erzählenden Figur nahezu auflösen und ein Strömen entsteht, ein Sog, der sehr dicht an die «letzten Dinge» des menschlichen Lebens heran führt. Die Zeiten werden für Jon Fosse immer günstiger. Er ist ein Prinz aus dem Norden.