«Zwischen den Künsten»
Stephanie Rosenthal, die neue Direktorin des Gropius Bau, im Gespräch mit Thomas Oberender
Thomas Oberender: Frau Rosenthal, wenn Sie nicht Kunstgeschichte studiert hätten, was wäre es dann gewesen? Gab es einen Plan B?
Stephanie Rosenthal: Ich habe nie ernsthaft eine Alternative in Betracht gezogen. Meine Eltern gingen davon aus, dass alle in der Familie Medizin studieren, aber für mich stand immer fest: Ich werde auf keinen Fall Medizinerin. Ich bin der festen Meinung, dass man mit Kunst kritisches Denken fördert, das war für mich bei der Berufswahl entscheidend. Natürlich bekommt man in einem Mediziner*innenhaushalt auch vermittelt, dass es ganz essenziell ist, etwas zur Entwicklung der Gesellschaft beizutragen.
Und, hat sich die Erwartung eingelöst?
Ich würde sagen, dass wir in der Bildenden Kunst eine Krise erleben, und daher stand auch ich vor der Frage: Wozu tragen wir eigentlich noch bei? Gerade in den letzten 15 Jahren hat sich die Bildende Kunst, vor allem die Zeitgenössische Kunst, so extrem verändert, dass viele zweifeln, ob es hier nur noch um Unterhaltungskultur geht, oder noch ein kritischer Beitrag zur gesellschaftlichen Veränderung geleistet wird. Da habe auch ich Bilanz gezogen: Was mache ich eigentlich, und warum mache ich es?
Was hat den Ausgang aus der Krise befördert?
Für mich war es die Biennale of Sydney, die ich 2016 kuratiert habe. Denn ich habe festgestellt, dass diese Biennale ganz nah am Publikum ist, das aus der ganzen Welt kommt und keinen Eintritt zahlen muss. Ich hatte das Gefühl, eine größere Öffentlichkeit an das heranführen zu können, was für mich wichtig ist. Mein Impetus ist die idealistische, jedoch feste Überzeugung, dass Bildende Kunst dazu beiträgt, dass wir umdenken, neu denken darüber, wie wir mit der Welt und in der Welt stehen.
Warum verbinden Sie das mit einem Ausstellungshaus wie dem unseren?
Der Gropius Bau ist der ideale Ort für meinen Ansatz und meine Arbeitsweise. Ein Gebäude, das aufgrund seiner bewegten Vergangenheit eine interessante «Partnerin» für Künstler*innen und Ausstellungsmacher*innen ist; ein Gebäude, das in seiner Ästhetik einzigartig in Berlin ist und mit seiner Raumanordnung und dem zentralen Lichthof erlaubt, unterschiedliche Ausstellungsformate zu erforschen. Nach der Auseinandersetzung mit der faschistischen Architektur des Haus der Kunst in München und dem Brutalismus der Hayward Gallery in London ist der Gropius Bau eine neue Herausforderung.
Wollten Sie schon immer in einem Ausstellungshaus arbeiten?
Ursprünglich wollte ich Galeristin werden: schon mit zwölf Jahren! Bis mir dann irgendein sehr unsympathischer Freund meines Vaters mitteilte, dass das unmöglich sei, weil weder meine Eltern noch ich genug Geld hätten, und als Galeristin bräuchte man Geld. Als Teenager habe ich schließlich angefangen, in einer Galerie zu arbeiten, nur um festzustellen, dass es nicht ganz mein Bereich ist. Dabei hatte ich das große Glück, in die Schule von Fred Jahn zu gehen, der einer der großen Galeristen in München war und unter anderem Gerhard Richter und A. R. Penck vertreten hat.
Was hat ihn als Galeristen ausgezeichnet, wenn Sie sich als Schülerin bezeichnen?
Vor allem seine Leidenschaft. Er pflegte eine sehr enge Verbindung zu den Künstler* innen. Auch für mich stehen die Künstler*innen im Mittelpunkt, es geht nie um mich oder um das, was ich möchte. Meine Aufgabe ist es, Künstler*innen die Möglichkeit zu geben, sich weiterzuentwickeln und die Arbeiten zu machen, die für sie entscheidend sind. Fred Jahn ist unglaublich gut darin. Die Zusammenarbeit mit ihm war eine Einführung in die internationale Kunstszene, die für mich sehr wichtig war. Gleichzeitig hat es mir gezeigt, dass Galerien nicht der Bereich sind, wo meine Leidenschaft liegt.
Was wurde stattdessen prägend für Sie?
Ich möchte Künstler*innen eine Plattform bieten, um faszinierende und inspirierende Werke zu realisieren, und das ist für mich die Rolle einer öffentlichen Institution. Als Kuratorin und Direktorin sehe ich es als meine zentrale Aufgabe, Künstler*innen zu unterstützen und Brücken zu schlagen, wo es nötig ist. Mein Studium war von Anfang an durch praktische Arbeit mit Künstler*innen geprägt – ich habe parallel weiter bei Fred Jahn gearbeitet, bin dann für ein Auslandssemester nach London gegangen und habe entschieden, dass ich dort arbeiten möchte. Das hat allerdings nicht sofort geklappt, es war damals schwierig, einen Job zu finden, mit dem ich meinen Lebensunterhalt hätte bestreiten können.
Warum London, in dieser Zeit?
London ist die Stadt meines Herzens. Ich war zum ersten Mal mit neunzehn Jahren dort und wusste damals schon, dass ich dort einmal leben werde. Und dann kam irgendwann, aus heiterem Himmel, ein Angebot des Direktors der Hayward Gallery, Ralph Rugoff. Es war eigentlich ein Zufall: Ich wollte ihn um Rat fragen, ob ich nach L.A. gehen sollte, um dort eine Stelle anzutreten, und er sagte stattdessen: Warum kommst du nicht zu mir? Das war 15 Jahre nach meinem ersten London-Erlebnis.
Und was lag dazwischen?
In diesen Jahren machte ich Ausstellungen im Haus der Kunst in München: Ich habe damals als junge Kuratorin bei Christoph Vitali angefangen und war dann unter Chris Dercon als Kuratorin für Zeitgenössische Kunst tätig. Nach meiner Tätigkeit in Galerien arbeitete ich fast zehn Jahre am Haus der Kunst.
Was hat man bei Christoph Vitali gelernt?
Unglaublich viel. Er hatte eine einmalige Art, mit seinem Team umzugehen – ich habe selten eine so schöne Arbeitsatmosphäre erlebt. Natürlich hat man manchmal gedacht: Warum muss man jetzt auch noch alles selber kochen? Vor den Eröffnungen musste man als Kurator*in nämlich mit ihm in den Großmarkt fahren und Lebensmittel einkaufen, dann unten gemeinsam mit ihm in der Küche stehen und schnippeln, was später bei der Eröffnung serviert wurde, selbst wenn man gerade dabei war, eine Ausstellung über Nachtbilder des 15. Jahrhunderts zu installieren. Wir haben oft für 300 Leute gekocht. Das hat die Atmosphäre ausgemacht, das ganze Team war wie eine große Familie und hat dabei Unglaubliches geleistet, Großausstellungen mit Kunst vom Mittelalter bis zur Zeitgenössischen Kunst, auf eine sehr unkonventionelle Art und Weise. Das wäre heute viel schwieriger.
Woran liegt das – was hat sich verändert?
Inzwischen hat sich die Kunstwelt stark professionalisiert und kommerzialisiert. Damals gab es kaum formale Verträge, alles lief auf Vertrauensbasis. Die Versicherungssummen waren noch nicht so hoch wie heute, es war eine völlig andere Situation. Zum Ende der Zeit mit Vitali hat sich schon abgezeichnet, dass es für ein Museum ohne Sammlung sehr schwer werden würde, künftig Ausstellungen zu machen mit solch hochkarätigen Leihgaben.
Diese Entwicklung kennen Sie also von zwei Seiten: In der Galerie haben Sie erlebt, wie der Markt Bedingungen schafft, die die Arbeit der Ausstellungshäuser völlig umkrempeln. Und zugleich kennen Sie diese Institutionen von innen. Hilft Ihnen das?
Fred Jahn war noch ein Galerist der alten Schule (die es ja auch heute noch gibt), dem es vor allem um eine enge Bindung zu den Künstler*innen ging, und der sich aktiv bemühte, Werke in öffentlichen Sammlungen zu platzieren. Diese Blase, von der man heute spricht, entsteht vor allem durch den Secondary Market, in den ich nie wirklich involviert war. Neben Galerien und Auktionshäusern sind es aber natürlich noch viele weitere Akteur*innen, die Kunst als Luxusprodukt verstehen und dementsprechend den Markt beeinflussen. Aber das ist ein Thema, über das man ewig sprechen könnte …
Der Umbruch, von dem Sie sprechen, kam in den späten neunziger Jahren?
Ich denke ja. Eine für mich besonders interessante Phase am Haus der Kunst war von 1994 bis 2000, mit Ausstellungen, die Zeitgenössisches und Historisches verbanden und damit deutlich machten, dass Themen, die uns heute beschäftigen, eine lange Geschichte haben. Man konnte auch Joan Miró oder Adam Elsheimer neben zeitgenössischen Positionen zeigen. Heutzutage ist das aufgrund der Versicherungskosten und einem anderen Bewusstsein darüber, wie weit Werke überhaupt reisen dürfen, kaum mehr möglich.
Ist das vielleicht nur eine Frage der fehlenden Finanzmittel für Ausstellungen, oder spiegelt sich darin auch ein anderes Verhältnis zur Kunst?
Eine große Rolle spielen natürlich die staatlichen Förderstrukturen, von denen auch in England die öffentlichen Institutionen abhängig sind. Ich empfinde es dabei als problematisch, dass immer weniger neue, kritisierende Projekte unterstützt werden. Kultur hat meines Erachtens primär die Aufgabe, Menschen dazu zu ermuntern, ihre Weltsicht zu erweitern und die Freude am kritischen Denken zu fördern. Und das sollte unabhängig davon gelten, wie Markt und Kapitalismus miteinander verbunden sind. Staatliche Förderung sollte daher nicht an Besucherzahlen gebunden sein.
Andererseits sind in Großbritannien staatliche Sammlungen ohne Eintritt zugänglich … Das kennt man aus Deutschland noch nicht.
Es gibt die Unterscheidung zwischen den großen Häusern mit ständiger Sammlung und den Wechselausstellungen. Wechselausstellungen finanzieren sich immer auch über Eintrittsgelder. Aber die Sammlungen sind frei zugänglich.
Wäre das ein Modell für Deutschland?
Ich bin grundsätzlich dafür,dass der Zugang zur Kultur frei sein sollte. Und zwar nicht nur, weil Institutionen aus Steuergeldern finanziert werden und wir Steuern zahlen. Gerade bei öffentlichen Sammlungen wäre es eine große kulturelle Bereicherung, wenn sie frei zugänglich wären. Aber erste Schritte mit einem eintrittsfreien Tag oder Ähnlichem gibt es ja vielerorts schon.
Um noch einmal auf Ihren Werdegang zurückzukommen: Wie schafft man es, wenn man beständig Ausstellungen im Haus der Kunst organisiert und mit Christoph Vitali kochen muss, nebenbei zu promovieren?
Auch das habe ich Vitali zu verdanken: Er hat mich damals acht Monate freigestellt, sodass ich mich in dieser Zeit ganz auf meine Promotion konzentrieren konnte. Wobei ich gar nicht unbedingt glaube, dass man heute promovieren muss, um im Ausstellungsbereich etwas bewirken zu können. Aber ich hatte damals nach acht Jahren Praxis das Bedürfnis, mich noch einmal intensiv mit einem Thema auseinanderzusetzen und intellektuell Grundlagen zu festigen. Ich habe über Black Paintings, vor allem die der New York School und des Abstrakten Expressionismus und ihre Verbindung zu James McNeill Whistler, promoviert.
Erklären Sie das etwas genauer?
Es ging um rites de passage (Übergangsriten), um den Einsatz von Schwarz, um den Transformationsprozess, der zur charakteristischen künstlerischen Sprache führt und was dieser für einen künstlerischen Prozess bedeutet.
Es geht, wenn ich das richtig verstanden habe, ja noch etwas konkreter um den mittleren Bereich dieses dreistufigen Prozesses, um den rite de marche, die eigentliche Zwischenphase nach dem Herauslösen und vor dem Eintritt, dieses seltsame «In-Between- Sein» … Dieser Begriff taucht bei Ihnen immer wieder auf. Es geht in Ihrer Arbeit ja nie nur um die Bildende Kunst, sondern auch um das Zwischen-den-Künsten: Sie haben in München eine wichtige Ausstellung mit Allan Kaprow gemacht, aber auch zu Tanz gearbeitet.
Das «In-Between-Sein» ist für mich zu einem Leitbild in meinen eigenen Arbeiten geworden, konzeptionell, aber auch in der Art, wie ich mich Dingen nähere. Ich empfinde es als besonders inspirierend, sich selbst gedanklich in einen Raum zu platzieren, in dem man, bildlich gesprochen, nicht weiß, wo die Türen sind. Ein abstrakter Raum, in dem man nicht weiß, was als Nächstes kommt. Das lässt sich auch auf meine kuratorischen Arbeiten übertragen: Ich weiß oft nicht, was als Nächstes kommt. Ich beobachte, was passiert: Plötzlich liest man einen Text, hat ein Gespräch, begegnet Künstler*innen und merkt, dass es eine Dimension gibt, die die eigenen Vorstellungen übertrifft – und dort öffnet sich dann die nächste Tür. Sonst agiert man ja immer nur innerhalb seiner eigenen Begrenzungen.
Was heißt das für ein Haus wie den Gropius Bau?
Wenn man beim Gropius Bau das ganze Haus als Ausstellung begreift und nicht mehr nur jede Ausstellung für sich betrachtet, bedeutet das für mich, dass ich nicht ankomme und schon weiß, wie es geht. Oder weiß, was die Besucher*innen wollen. Viel eher versuche ich, mich in den Raum zu begeben und zu verstehen: Was will das Gebäude? Es gilt, diese Spannung auszuhalten, nicht jedem sofort eine Patentlösung servieren zu können, sondern in diesem Moment der Offenheit zu verweilen: Welche unterschiedlichen Bedürfnisse gibt es eigentlich und wie können mögliche Antworten aussehen? Auch das ist dieses «In-Between», dass man in dem Zustand des «Verstehen-Wollens», des Lernens bleibt, der natürlich auch angreifbar und verletzlich macht.
Woraus bildet sich für Sie die DNA des Gropius Bau?
Entscheidend ist für mich, zurückzugehen zur Geschichte des Hauses und zu untersuchen, wie sich das Gebäude offenbart, wenn man es als Körper betrachtet. Also zu entdecken: Wo sind die Arme, wo die Beine, wo der Kopf. Ich war seit meiner Kindheit immer wieder im Gropius Bau, aber als ich jetzt bewusst durch das Haus gegangen bin, sind mir immer Elemente aufgefallen, die ich nicht verstanden habe. Wie wenn man einen Organismus inspiziert und das Gefühl hat, hier fließt es nicht richtig. Zum Beispiel die Treppen, die in den zweiten Stock führen, erschienen mir irgendwie seltsam und unlogisch. Irgendwann ist mir in den Sinn gekommen, dass diese Räume wahrscheinlich ursprünglich gar nicht öffentlich zugänglich waren, und ja, tatsächlich, das waren Ateliers für Künstler*innen. Das ganze Haus war voll von Ateliers und Werkstätten, was oft in Standardpublikationen über den Gropius Bau nicht erwähnt wird und wenig im allgemeinen Bewusstsein verankert ist. Dadurch ist mir einiges klar geworden über das Haus und die Art, wie die Künstler*innen hier im Zentrum stehen sollen. Abstrakter gefasst geht es darum, dass es ein Ort der Schöpfung und Kreation ist. Wenn in einem Haus etwas kreativ produziert wird, prägt das die Ausstrahlung des Hauses enorm, man spürt es als Besucher*in. Wenn eine Kulturinstitution irgendetwas weitergeben kann, dann ein Gefühl dafür, dass dieses Kreieren, Neu-Denken, Konzipieren entscheidend für die Kunst ist – und auch Freude bringt.
Das klingt nach dem, was die Max-Planck-Institute im Wissenschaftsbereich leisten: Das Neu-Denken und Forschen, um Dinge und Verfahren zu entdecken oder anwendbar zu machen, die irgendwie auch die Spielregeln hinterfragen und ändern. Wir können die Arbeit in den Häusern der Berliner Festspiele über weite Strecken so begreifen, und es sind Häuser, die auch sehr große Formate realisieren. Was an dieser Arbeit wäre Ihnen am wichtigsten?
Wir haben, glaube ich, beide ein Interesse daran, die Dinge neu zu denken und anders zu betrachten, als es die Systeme bislang erlauben. Es ist in der Konstruktion der Berliner Festspiele schon angelegt, dass eine Institution als offener Organismus verstanden wird und Risiken eingegangen werden. Man muss nicht immer genau wissen, wo es hingeht, sondern bleibt im Inneren offen. Nur so, glaube ich, kann man eine solche Institution erfolgreich in dem Sinne führen. Man muss auch versuchen, die eigenen schöpferischen Grenzen zu überschreiten.
Ich mag dieses Bild des offenen Organismus. Der Gropius Bau ist keine Burg. Wir haben hier Susanne Kennedys Inszenierung von Monteverdis «Orfeo» gezeigt – eine riesige Installation sehr bedrückender Räume und musikalischer Begegnungen. Ein Jahr später gab es hier die Werkschau von Tino Sehgal, ganz ohne Werke im klassischen Sinne – statt der für Ausstellungen typischen Objekte gab es im gesamten Erdgeschoss spezifische Situationen der Begegnung zwischen Performer*innen und Besucher*innen und das hatte einen wirklich unvergesslichen Zauber. Ganz anders ins Offene sind wir mit der Ausstellung «Limits of Knowing» gegangen, zu der die Kooperation zwischen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen des kalifornischen Forschungsinstituts LIGO zählte. Diese Astrophysiker* innen haben ein halbes Jahr später den Nobelpreis für ihre Messungen der Gravitationswellen gewonnen. Sie arbeiten mit Künstler*innen, weil ihre wissenschaftlichen Theorien bisweilen bizarr und kontraintuitiv sind, und die eher künstlerischen Wege des Verstehens sind für sie daher hochinteressant. In so einem Haus kommen also immer wieder ganz unterschiedliche Kunst- und Wissensformen zusammen, und deshalb habe ich mich sofort sehr für Sie und Ihre Arbeit interessiert – das Londoner Southbank Centre ist zudem eines der wenigen Pendants zu unserer Festspielstruktur.
Das Zusammenbringen von unterschiedlichen Kunstformen ist aus pragmatischen Gründen nicht so einfach, aber was nicht schwierig ist, ist das gemeinsame Denken. Expert*innen aus unterschiedlichen Feldern kommen zusammen und besprechen, was für die jeweiligen Bereiche gerade relevant ist. Die Berliner Festspiele mit ihrer Vielzahl künstlerischer Sparten, die unter einem Dach vereint sind, haben das sozusagen in der Familie und sind als Institution ideal dafür, solche Synergien herzustellen.
Was kann man, bezogen auf den Gropius Bau, von den anderen Sparten lernen? Und wo würden Sie ansetzen?
Meine Expertise ist Bildende Kunst, auch wenn ich viel mit Tanz und Musik zu tun gehabt habe. Aber wenn man mit jemandem durch die Räume geht, die*der aus der Choreografie oder der Musik kommt, führt das zu einer ganz anderen Wahrnehmung des Gebäudes. Das Herz des Gebäudes ist für mich der Lichthof. Von Anfang an habe ich gedacht: Um dieses Gebäude fühlen zu können, muss man in den Lichthof. Es ist so, als ob man immer um einen dunklen Raum kreist, als ob man immer draußen ist und nicht ins Innere vorstößt. Das ist für mich das spannendste Element: Wie schaffen wir es, dass der Lichthof das pulsierende Herz ist, von dem alles ausgeht?
Zu den langfristigen Änderungen, die Sie einführen wollen, zählt die Öffnung des Lichthofs. Alle sind eingeladen, dort in Publikationen zu stöbern und mit Anderen ins Gespräch zu kommen. Erst vom Lichthof aus geht es dann in das Besondere der angrenzenden Ausstellung. Das ist tatsächlich ein großer Wechsel in der Art, wie man als Besucher*in das Haus erlebt. Sie schenken uns sozusagen das Haus zurück. Das ist eine sehr freundliche, öffnende Geste. Solche Gesten sind mir in Ihrer Arbeit schon früher aufgefallen: Bei der Biennale in Sydney haben Sie ein Konzept entwickelt, das auf einem Zitat von William Gibson basierte: «The future is already here – it‘s just not evenly distributed». Und dann haben Sie, damit diese Zukunft auch wirklich empfangen werden kann, in Sydney eine Reihe von Botschaften gegründet, zum Beispiel eine «Embassy of the Real», was ich, kleine Anmerkung, eine wunderbare Erfindung finde, denn ich habe an der Hochschule der Künste Szenisches Schreiben studiert, weil es dort ein Studienfach gab: «Wirklichkeit erfahren». Als ob man dafür eine Uni braucht … Aber vielleicht braucht man die Kunst dafür. Wenn so ein Versuch, die Zukunft landen zu lassen, nun nicht über die ganze Stadt verteilt wäre: Wie sähe es im Gropius Bau aus, wenn die Zukunft schon da wäre? Was ist die Art, in der das besondere künstlerische Moment in dieses Haus einziehen kann?
Was mein jetziges Nachdenken mit Sydney verbindet, ist, dass wir komplexe Gedankengänge brauchen, um über Relevanz für das Jetzt, in dem wir leben, zu sprechen.
Anstelle von der Kunst zu erwarten, utopische Ideen für die Zukunft zu kreieren, lädt mich die Kunst dazu ein, die Zukunft ans Jetzt heranzuholen. Wir leben in einer Zeit, in der es uns immer schwerer fällt zu sagen, wie die Zukunft aussehen wird. Mithilfe der Kunst können wir zwar keine Antworten finden, aber unterschiedliche Ebenen einziehen und somit die Komplexität spürbar machen. Komplexität führt hier zuerst einmal zu Verwirrung, dann aber zu einem größeren Verständnis.
Können Sie das an einem Beispiel deutlich machen?
Was mich stark beschäftigt, ist unser Verhältnis zu unserem Land. Land nicht im Sinne von Nation, sondern von Scholle, von Erde. Ich habe mich immer schon darüber gewundert, dass es Länder gibt, dass es Grenzen gibt, dass irgendwer entscheiden kann, wo ein Land anfängt oder aufhört. Aber wirklich losgetreten hat diese Beschäftigung für mich der Einfluss von Australien und Neuseeland, wo es ein ganz anderes Verständnis gibt zu dem Land, auf dem man lebt: The land owns you, you don’t own the land. Der Mensch ist dem Land untergeordnet: Du kannst immer nur einige Zentimeter Oberfläche besitzen, der Rest ist Allgemeingut. Das sind Vorstellungen, die dort tief verwurzelt und doch absolut unvereinbar mit existierenden politischen Systemen sind.
Zum Thema Grenze: Direkt am Gropius Bau vorbei verlief die Mauer, die Berlin und Deutschland teilte: eine Wunde zwischen Abgeordnetenhaus und diesem Haus. Was bedeutet es für Sie, wenn Sie zurück nach Deutschland kommen und nun an einem Haus arbeiten, das direkt an der Mauer stand?
Eine große Dankbarkeit für diese historische Verantwortung. Wenn man bedenkt, wo gerade überall auf der Welt Mauern gebaut werden, kann man in diesem Gebäude allein schon durch seine geographische Position Themen von globaler Relevanz verhandeln. Dieses Gebäude ist von der Zeit gezeichnet. Deshalb war es für mich auch wichtig, Lee Bul hierher zu bringen, die als südkoreanische Künstlerin Erfahrungen mit einem geteilten Land hat. Da gibt es so viele Verbindungen zu unserem Land, und dadurch entsteht automatisch ein internationaler Kontext, in dem man unglaublich viel voneinander lernen kann.
Die gebürtige Münchnerin Stephanie Rosenthal hat nach ihrem Kunstgeschichtsstudium in verschiedenen Galerien gearbeitet, dann zehn Jahre am Haus der Kunst in München verbracht und war zuletzt Chefkuratorin an der Hayward Gallery im Southbank Centre in London.
Das komplette Magazin hier als PDF