«Im Zeichen der Netz(werk)moderne»
- Auszug -
nachtkritik.de: Wie würden Sie den Suchbefehl von «Immersion» formulieren?
TO: Macht ist kein top-down Phänomen mehr. Wenn die uns beherrschenden Kräfte nun viral sind, affektiv, kybernetisch, wie kann man sie reflektieren, erfahren, dem Widerstand entgegen setzen? Uns interessiert ein überall zu beobachtender Übergang zu Werkformen, die dem Betrachter nicht gegenüberstehen, sondern ihn einladen, in sie einzutauchen. Immersion an sich ist ja weder gut noch schlecht, progressiv oder konservativ, sondern erst einmal eine wirkungsdramaturgische Kategorie. Das Immersive ist ein Zeitphänomen. Wenn Sie bei Google eine Suchanfrage starten, dann erzeugt der Algorithmus von Google eine Antwort. Die eigentliche Antwort ist für Google aber meine Frage selbst. Denn sie sagt Google, was mich interessiert. Je mehr Google darüber Bescheid weiß, desto mehr wird auch die Antwort vorausberechnet, die ich bekomme. Das ist etwas Anderes, als wenn ich ein Lexikon aufschlage. Ich lese das Lexikon, aber das Lexikon liest nicht mich. Im Lexikon steht immer die gleiche Antwort. Bei Google nicht. Diese Phänomene sind signifikant für eine Gesellschaft in einem sehr fundamentalen Wandel. Das Immersive findet sich auch in Wirtschaftsmodellen von Uber bis Airbnb. Uns interessiert nun vor allem, wie Künstler diese Struktur aufgreifen und benutzen, um etwas herzustellen, was eigentlich das Gegenteil der immersiven Erfahrungen ist, die uns täglich überwältigen, nämlich progressive und emanzipatorische Erfahrungen zu stimulieren, obgleich sie sich mit der «neuen» Situation ausenandersetzen.
nachtkritik.de: Trotzdem entstehen bei vielen immersiven Formaten antiaufklärerische Effekte, weil ein*e zum Teil der Performance gewordene Zuschauer*in im Sinne der Performance funktionieren muss, die er oder sie anders gar nicht mehr rezipieren kann. Das hat aus unserer Sicht eine große Nähe zu kapitalistischen Konsumwelten, in denen der Einzelne sich preisgeben muss, um Teil des Systems zu bleiben. Ist das nicht problematisch, wenn die Gegenüberstellung von Kunstwerk und Zuschauer aufgehoben ist? Sie lag ja auch dem aufklärerischen Ansatz z.B. von Brechts Epischem Theater zugrunde, das einst die Forderung erhob, eine Inszenierung müsse immer auch als solche erkennbar bleiben.
TO: Wir sollten Kunst nicht nur als Instrument betrachten. Sie ist eine Sprache. Und dieser aufklärerische Ansatz hat sich ja nicht erledigt. Künstler, die im immersiven Feld arbeiten und uns interessieren, wie Ed Atkins, Vegard Vinge und Ida Müller, sind Leute, die in ihren Arbeiten sehr stark das eigene Medium reflektieren, uns auf das Medium hinweisen und auf seiner Künstlichkeit beharren. Das Werk bleibt auf kluge Weise – ich will das jetzt gar nicht mit Brecht vergleichen – als Form erkennbar. Immersion ist nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit Seinsvergessenheit, Instrumentalisierung oder Überwältigung. Im Gegenteil: man kann diese Struktur auch nutzen, um ein politisches Stück wie «Rhizomat» zu machen. Obwohl hier die Form immersiv ist, ist die Intention und alles, worum es der Künstlerin Mona el Gammal geht, eher eine Variante von Brecht heute: ein Stück, das gegen die Gehirnwäsche, gegen das unbewusste Regiert-Werden durch ein Orwell’sches System eine Art von Exitstrategie vorschlägt.
nachtkritik.de: Die Arbeit von Mona el Gammal wurde aber auch dafür kritisiert, dass ihr Thema zwar Widerstand gegen ein totalitäres System sei, aber der/die Zuschauer*in in der Arbeit selber keine Möglichkeit zum Widerstand bekomme. Wenn sie/er sich beispielsweise weigern würde, in die Kammer zu gehen, in der vermeintlich die Gehirnwäsche droht, wären die Geschäftsbedingungen der Performance aufgekündigt. Der/die Zuschauer*in müsste nach Hause gehen. Das ist schon eine andere Form von Zwangsausübung als einfach nur in einem Zuschauerraum zu sitzen.
TO: Das stimmt. Aber das ist auch das Interessante. Immersion macht ein Erfahrungsangebot wie eine Achterbahnfahrt. Wenn Sie sagen: Das geht mir aber auf die Nerven, dass das immer so steil runtergeht und dann wieder hoch – dann ist halt die Achterbahn falsch für Sie, und Sie müssen da irgendwie raus. In der Achterbahn ist es schwierig, bei Mona el Gammal nicht.
Nachtkritik: Als Sie 2016 mit «Immersion» an den Start gingen und bekannt wurde, dass es über vier, fünf Jahre diese Förderung geben würde, entstand auch der Eindruck, Sie würden sich der Forschung widmen wollen: Wie könnte im digitalen Zeitalter analoge Kunst überhaupt aussehen. Wieweit treiben sie überhaupt eigene Forschung?
TO: Ein gutes Beispiel dafür ist das Projekt «Limits of Knowing». Damit kommen wir an einen Randbereich des Umschlags von Forschung in der Kunst und Kunst als Forschung. Am Ligo-Laboratory am California Institute of Technology gelang 2015 der Nachweis, dass Einsteins Relativitätstheorie stimmt, dass also Zeit kein konstantes, absolutes physikalisches Phänomen ist, sondern relativ, sprunghaft, dynamisch. Wie aber kann man das erfahrbar machen? In Kalifornien arbeiten Wissenschaftler, die sich gleichzeitig an künstlerischen Modellversuchen erproben, dafür mit Künstlern zusammen. Deren Versuchsanordnung holen wir jetzt in die Ausstellung Arrival of Time. Eine Ausstellung, in der die Kuratorin anwesend und für die Besucher ein ansprechbarer Partner ist. Das Hinterland aus Recherche und Theorie, das sich normalerweise nie der Diskussion öffnet, wird lebendiger Teil der Ausstellung.
Nachtkritik: Zum Schluss noch einmal eine Frage zu den Berliner Festspielen insgesamt: Wo sehen Sie diese Institution in den nächsten Jahren?
TO: Ich denke, wir machen Transformation sichtbar. Unsere Institution ist eine Hardware, mit der wir das Verhältnis des Kunstwerks zum Format neu justieren und Denkanstöße geben, Veränderungswege aufzeigen wollen: Was heißt Aufführen? Was heißt Ausstellen? Im Zentrum steht für uns dabei die Singularität und Radikalität künstlerischer Positionen. Diese Radikalität ist in der Regel Ausdruck sehr zugespitzter Ideen und politischer Haltungen. Diese hintergründigen Prozesse wollen wir verstehen und reflektieren. Sie sind der Schlüssel für das Verstehen unserer Zeit. Und die Künstler geben ihn uns in die Hand.
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