«The Audience Takes Over»
Narrative Spaces und Artist’s Games – Rimini Protokoll geht neue Wege des Erzählens
von Thomas Oberender
Arbeiten wie «Situation Rooms» oder «Hausbesuch» von Rimini Protokoll haben eine Werkform hervorgebracht, die, wie auch ihre Titel sagen, auf einer besonderen Örtlichkeit beruhen. Ihre szenischen Einrichtungen dienen zu nichts, wie dies in der Regel ein klassisches Theaterbühnenbild tut, sondern generieren Situationen, zugespitzt: sie handeln selbst. Es sind Erfindungen generativer Orte, die eine Handlung nicht aufnehmen, sondern hervorbringen. Was hier während der Stücke zu erleben ist, kommt nicht durch die Durchführung einer vorbereiteten Aufführung zu Stande, obgleich das Geschehen in hohem Maße auf strikten Verabredungen und klaren Regeln beruht. Aber mehr noch als eine Wiederholung vorgeprobter Vorgänge sind Situation Rooms und Hausbesuch Europa Arbeiten, deren Geschehen am Ort des jeweiligen Stückes erst entsteht. Es sind beides Darbietungen ohne Darsteller, zumindest ohne anwesende Schauspieler oder reale Personen, die anderen etwas vorspielen. Und in diesem Sinne sind beide Arbeiten auch Stücke ohne Zuschauer, denn die im Feld des Theaters übliche Trennung zwischen Produktion und Konsumtion ist in den Spielsets dieser Produktionen nicht möglich. Beide Stücke kennen nur Involvierte.
Beschreiben ließen sich diese Arbeiten auf der Ebene der Hardware und der dafür von Rimini Protokoll erfundenen Software. Für die Situation Rooms ist diese Hardware groß und komplex wie das Filmset eines imposanten Fernsehstudios, oder klein und komplex wie das Handgepäck eines brillanten Zauberkünstlers für seine Hausbesuche bei Geburtstagspartys. Die «Software» ist in beiden Fällen ein Skript essentieller Spielregeln, die vor dem Beginn der jeweiligen Vorstellungen im Stil einer kurzen Besucherschulung durch die Spielleiter den Gästen mitgeteilt werden. Hinzu kommt eine Menge tatsächliche Software, die für die drahtlos vernetzten Tablets und Rechner vom Produktionsteam speziell entwickelt wurde. Jene immaterielle, für die reibungslose Kommunikation entwickelte Komponente der Einrichtung gehört also genauso essentiell zur Produktion wie die temporäre Architektur des Szenografen Dominic Huber. Diese speziell entwickelten Software-Programme machen es überhaupt erst möglich, dass sich innerhalb der temporären Spielräume tatsächlich Beziehungswelten zwischen dem Ort und den Besuchern und insbesondere auch zwischen diesen selbst etablieren können.
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