«Ich will kalt und klar sein»
Portrait des norwegischen Nobelpreisträgers für Literatur Jon Fosse
Von Thomas Oberender
Der in Oslo und im niederösterreichischen Hainburg lebende Schriftsteller Jon Fosse, der gerade den diesjährigen Nobelpreis für Literatur erhielt, wurde in Deutschland mit seinem Roman «Melancholie» über den norwegischen Landschaftsmaler Lars Hertervig bekannt.
Mitte des 19. Jahrhunderts nahm Hertervig in Düsseldorf privaten Malunterricht und stürzt durch seine unglückliche Liebe in eine tiefe Krise, verliert den Verstand und wird in seine Heimat abgeschoben, wo viele Jahre in einer psychiatrischen Klinik verbringt, in der man ihm bis zu seiner Flucht das Malen verbietet.
Jon Fosse beschreibt das Leben des Künstlers nicht als Biografie im eigentlichen Sinne, sondern aus der Ich-Perspektive eines Menschen, dessen Verstand auf eine gefährliche Reise in die Einsamkeit geht, in eine andere, für uns wahnhafte Realität der Liebe, der Natur und Ekstase der Farben. Er schildert Hertervigs Erfahrungen von Ausgrenzung und elender Armut und nähert sich mit seinem Roman einem Außenseiterkünstler, der mit seinen Gemälden und Zeichnungen Meisterwerke der nordischen Naturmystik schuf.
Dass Fosse seinen Roman «Melancholie» nannte, wirkt wie ein Leitmotiv oder die zentrale Perspektive seines eigenen Schaffens. Wie Hertervig ist auch Fosse das Kind einer Quäker-Familie und empfand sich seit seiner Jugend als ein Außenseiter oder loner, wie er die meisten Figuren seiner Stücke und Romane nennt. Armut, sehr bedrängte finanzielle Verhältnisse waren auch für Jon Fosse eine frühe Erfahrung.
Sehr jung, noch in seiner Studienzeit der Literaturwissenschaft, Soziologie und Psychologie in den achtziger Jahren, wurde er Vater und verdiente den Lebensunterhalt seiner Familie durch Schreiben für Tageszeitungen und Übersetzungen. Kaum bekannt in Deutschland ist seine damals entstandene, sehr enge Beziehung zur deutschsprachigen Literatur und Philosophie. So übersetzte er Gedichte und Texte von Georg Trakl, Thomas Bernhard, Botho Strauß, Franz Kafka, Peter Handke oder Georg Büchner und wurde nach eigenem Bekunden tief geprägt von der Philosophie Ludwig Wittgensteins und Martin Heideggers.
In seinen Essays «Gnosis des Schreibens» und «Negative Mystik», von denen er später sagte, dass dies seine letzten reflexiven Texte bleiben würden, formulierte er sein Credo als Autor:
«Das Schreiben hat mir das Religiöse eröffnet und mich zu einem religiösen Menschen gemacht; einige meiner tiefsten Erlebnisse kann man, so wurde mir mit der Zeit klar, als mystisch bezeichnen. Und die mystischen Erlebnisse sind ans Schreiben geknüpft. Für mich ist es also so, dass weder das, was ich an Leben erlebt habe, noch das, was ich an Tod erlebt habe, mich aus meinem selbstgewissen Atheismus geholt hat, sondern das hat das Schreiben getan, viele Tage und Jahre eigenen Schreibens, Tage und Jahre, in denen ich mich mit Schreiben beschäftigt habe und in glücklichen Stunden mich sozusagen nicht nur damit beschäftigt habe, sondern darinnen war, im Schreiben.»
Was Jon Fosse an Tod erlebt hat, war tatsächlich ein dramatisches, ihn tief veränderndes Ereignis. Als siebenjähriger Junge stürzte er und schnitt sich dabei an zerbrechenden Glasflaschen die Adern auf. Er spürte, wie das Blut aus seinem Körper rinnt und hätte man ihn nicht in letzter Sekunde gefunden, wäre er gestorben. Seine Geburt als Schriftsteller verbindet er mit diesem Nahtod-Erlebnis, von dem er mit Henrik Ibsen sagt, dass er damals das «Geschenk der Traurigkeit» empfing. Fortan sah er auf die Welt von beiden Seiten, des Todes und des Lebens und diese Durchdringung bildet den Zauber oder Mystik all seiner Texte.
Wer Jon Fosse, der 2013 zum Katholizismus konvertierte, für einen im unguten Sinne esoterischen Autor hält, täuscht sich allerdings. «Wenn ich schreibe,» sagt er über sich, «versuche ich nichts zu wissen. Ich habe keine Absicht, keinen Plan. Ich will so leer sein wie möglich. Ich schreibe nie abends. Dann bin ich weich in der Seele und sentimental. Ich will kalt und klar sein.»
Berühmt wurde der 1959 geborene Autor vor allem durch den weltweiten Erfolg seiner Theaterstücke, die Anfang der 2000er Jahre auch in Deutschland großes Aufsehen erregten. Stücke wie «Der Name», «Traum im Herbst», «Todesvariationen» oder «Winter» sind kalt und klar und zugleich berührend. Sie schufen einen neuen Ton auf der Bühne, einen neuen Sound, in dem die Menschen sprechen, eine lakonische Alltagssprache, die sich immer am Rande des Schweigens, Stockens oder Verstummens bewegt.
Wie der Titel seines Schlüsselromans andeutete, ist Fosse selbst ein melancholischer Dichter, melancholisch im Sinne Dürers, Bacons oder W.G. Sebalds. Vielleicht führt das wahrscheinlich berühmteste Stück über einen Melancholiker, Shakespeares »Hamlet”, am tiefsten in Jon Fosses Werk.
Denn Hamlet ist das Drama des Wissens, das in Welt kommt. Wie spricht es sich aus, wie wird es zur Tat. Es ist bei Shakespeare ein Wissen, das durch den Geist des toten Vaters den Sohn ergreift und zum Melancholiker werden lässt. Durch das, was ihm der Geist offenbart hat, die Ermordung seines Vaters, verändert sich Hamlets Blick auf die Welt. Dieses Wissen lässt sich nicht rückgängig machen. Er kann es aber auch mit niemandem teilen. Und so entsteht durch dieses Wissen und den Auftrag des Vaters eine Aufforderung zur Rache, die durch jene Reflexionen, die das Wissen in Hamlet auslöst, jedoch sofort ins Stocken gerät.
Es ist dieses vom Geist offenbarte Wissen, das Hamlet seiner Umwelt entrückt und sie aus einer dritten Position heraus betrachten lässt – aus der Perspektive des toten Vaters, der anderen Welt. Er entdeckt in allem Lebendigen das Vergängliche, Vanitas-Gefühle überkommen Hamlet. Seine Beziehungen zu anderen Menschen sind durch dieses Wissen blockiert und er erscheint ihnen fremd und rätselhaft, so wie sie ihm überklar und entsetzlich. Jon Fosses Figuren sind diese Zauderer und Zögerer auf der Schwelle zur Tat.
Diese Melancholie, die jeden ergreift, zu dem die Geister der Toten sprechen, ergreift auch sie. Ihre Unfähigkeit zur unmittelbaren Tat raubt ihnen die Möglichkeit, Helden eines Dramas im klassischen Sinne zu werden. Daher schuf Jon Fosse eine neue Form von Stücken, eine moderne Art des drame lyrique, in der die Sphäre des Todes sich in der Poesie der Situation entfaltet, d.h. weniger in der Handlung als in der lyrischen Komposition einer Sprache voller Anklänge und Symbole innerhalb der unmittelbaren Welt, die sich auf eine transzendente Sphäre dahinter beziehen.
Eine melancholische Perspektive einzunehmen, wie Hamlet, bedeutet nicht zahm und sanft zu sein. Im Hintergrund jedes Stückes von Jon Fosse steht ein skandalöser Plot, der handfest, provozierend und sozial genau verortet ist. Seine Plots könnten genauso gut einem Hollywoodthriller zugrunde liegen, oder einem Dogma-Film. Doch die eigentlichen dramatischen Ereignisse finden bei Fosse fast nie auf der Szene statt, denn hier dehnt der Autor jene Momente ins Unerträgliche, in denen sich die Folgen des Dramas enthüllen.
Nicht durch die Worte, sondern zwischen ihnen ereignet sich bei Jon Fosse das Unausgesprochene – choreografiert von ihm als Schweigen zwischen den Figuren, das sie durch ihr körperliches Verhalten beantworten müssen. In wortlosen Gesten müssen die Darsteller entscheiden, wie sie zueinander stehen und wie es weitergeht, weil die Sätze abbrechen, sich wiederholen, die Worte fehlen. Kein Dramatiker hat diese Pausen sensibler und brutaler gesetzt als er. Ohne Anleitung gelangen die Darsteller an diese Klippe der fehlenden Worte und müssen springen. Wie immer im Drama, ja, aber bei Jon Fosse ist diese Klippe riesengroß. Diese Bewegung der Gemüter, zwischen Lebenden und Toten, die Zeit brauchen und diese wieder anwesend werden lässt.
Jon Fosse spielte als Teenager exzessiv Gitarre und Violine und seine Band hieß ironisch «The Rocking Chair». Dieser Bezug zur Musik wirkt emotional tiefen Komposition seinen Stücken weiter. Fosse wurde damals als verschlossen und angriffslustig beschrieben und das sind seine Stücke auch. Man kann sie kaum kürzen. Die Schauspieler brauchen außergewöhnlich lange, um diese brüchigen Partituren zu lernen. Es ist qualvoll, das zu beobachten. Aber Fosses Dramen belohnen die Schauspieler und das Publikum dafür mit der Gegenwart von etwas, das sich auf der Bühne sonst kaum mehr ereignet – einer Erfahrung tiefer Empathie mit Menschen und tatsächlichen Spiritualität, dem Hinübergleiten des Lebens in die Welt der Toten oder der Toten in unsere Welt. Dieser Blick des Siebenjährigen auf die Welt, inmitten der Scherben auf der Treppe hinterm Haus, hat den Künstler nie verlassen.
Es sind keine beiläufigen Kalamitäten, die Jon Fosse, dieser Prinz aus dem Norden schildert, obgleich er in seinen Stücken die Geste der Beiläufigkeit kultiviert wie kein anderer Autor zuvor. Die Erfahrung der unverschuldeten oder vorbestimmten Schuld, der Präsenz des Todes und der Toten, wie sie Jon Fosses Texte zunehmend kennzeichnen, führte ihn zu einer Bearbeitung von Sophokles Ödipus-Trilogie, die das Kondensat der antiken Stücke mit dem Kondensat seiner Lebenserfahrung verbindet: «Man muss mehr an die Toten denken / als an die Lebenden», heißt es in König Ödipus in Theben, «denn mit ihnen / werden wir ewig leben.»
Auch hier hat Jon Fosse die skandalöse Grundgeschichte der Stücke herausdestilliert, und zugleich übersetzt in den Fluss seiner immer wieder stockenden, mit den Konsequenzen der Erkenntnis ringenden Sprache übertragen. Seine Trilogie steigert die Empfindung für die übergreifenden und sie verbindenden Motive und zugleich erfindet sie in der Gestalt des alten Mannes eine Figur, die der unparteiische Freund der Figuren ihr Schicksal bezeugt und begleitet. Jon Fosse zeigt große Tragödien, indem er auch hier die kleinsten Zusammenhänge sehr genau beobachtet: «Ich bin ein moralischer Schriftsteller.», sagt er mir einmal in einem Gespräch. «Was heißt es, Mensch zu sein - das ist, was mich als Moralisten beschäftigt. Es ist eine Moralität ohne politische Ausrichtung. Wenn man diese Moralität verstanden hat, gibt es eine Zone, in der Menschen sich begegnen können und auf der auch die Politik basieren könnte, ohne dass ich irgendwelche praktischen Anwendungen zu empfehlen hätte.»
Henrik Ibsen war 100 Jahre tot, bevor man in Oslo ein nach ihm benanntes Festival gründete. Jon Fosse ist wahrscheinlich der einzige zeitgenössische Dramatiker, dem, ebenfalls in Oslo, schon zu Lebzeiten ein regelmäßiges Festival gewidmet wurde. Auch das muss man erst einmal überleben. Durch ihn wurde Nynorsk, eine norwegische Kunstsprache, die die regionalen Dialekte überbrückt und in der Jon Fosse schreibt, wirklich zur Kunst und in der Welt bekannt. Auch dank eines genialen Übersetzers wie Hinrich Schmidt-Henkel, dessen Übersetzungen der Romane «Morgen und Abend» und «Das ist Alice» vielleicht die beste Erstbegegnung mit dem Schriftsteller sind, der mit dem Nobelpreis nun eine bfreitte Aufmerksamkeit erfährt.
Wenn ich ihn recht verstanden habe, ist Jon Fosse ein Mann der Provinz geblieben, ein Bohémien, der sich als ein Fremder am Stadtleben reibt und das Establishment provoziert. Wie sein Künstleridol, der Landschaftsmaler Lars Hertervig, stammt auch er aus Hertervigs Provinz und blieb ein Mensch jener Landschaft – kein Fosse-Stück ohne Fjord, keine Geschichte ohne Meer. Dramen wie Traum im Herbst, Todesvariationen oder Sommertag und auch die in diesem Zusammenhang entstandenen Romane wie Morgen und Abend oder Das ist Alise entwickelten eine Traumspiel-Dramaturgie, eine literarisch-mystische Durchdringung von modernem oder gesunkenem Puritanismus und Musik, in der sich die Zeit und der Raum und der Umriss der erzählten und erzählenden Figur nahezu auflösen. So entsteht ein Strömen, ein literarischer und zugleich existenzieller Sog, der sehr dicht an die letzten Dinge des menschlichen Lebens heranführt.
Und da diese Partitur immer die letzten Dinge des Lebens zum Klingen bringt, des Menschen Angst vorm Einsamsein und genauso vorm Zusammensein, vorm Sterben wie vorm Leben, und insofern keines seiner Stücke eine tagespolitische Polemik entfaltet, sondern das Spiel und Dilemma des Lebens wie von einem anderen Stern aus sieht, überspringen seine Texte auch die Grenzen der Politik und Nationen und wirken wie eine dritte Sprache. Eine dritte Sprache, die überall auf der Welt vom Unaussprechlichen zeugt.