Am 06. November 2017 versammelten sich rund 200 Akteur*innen der Freien Darstellenden Künste sowie Vertreter*innen aus Politik und von Förderinstitutionen im Podewil Berlin, um im Rahmen des BUNDESFORUM 2017 aktuelle Potentiale und Herausforderungen der gegenwärtigen Förderstruktur zu diskutieren. Das BUNDESFORUM 2017 war der erste gemeinsame Schritt des Bündnisses für die Freien Darstellenden Künste.
Mein Eröffnungsvortrag unter dem Titel «Der Substanzwechsel unserer Theatersysteme» entwickelte Perspektiven einer Künstlerförderung auf Bundesebene, die in einer Art 10-Punkte-Vorschlag mündet. Nachfolgend in Auszügen einige Stichpunkte aus der Rede, die vollumfänglich bei nachtkritik.de veröffentlicht wurde:
Statt von Freien Produzenten und traditionellen Theaterstrukturen schlage ich seit einiger Zeit eine Betrachtung unter anderen Vorzeichen von exklusiven versus kooperativen Produzenten vor, das eine andere Tiefenschärfe der Betrachtung erlaubt. Exklusiv = «feste Häuser» der Stadt- und Staatstheater; Kooperativ = Kompanien, Festivals, Theater Neuen Typs
Hier das dichotomische Schema in einer vorläufigen Übersicht:
Produktion:
exklusiv – kooperativ
Förderung:
Haus – Produzent
Distribution:
Haus am Heimatort – Tour über Festivals und Institutionen neuen Typs
Künstler*innen:
Angestellte – Unternehmer*innen
Ensemble:
Hausensemble – Projektensemble
Institution:
Kunst folgt Struktur – Struktur folgt Kunst
Werkform:
Interpretation – Kreation
Darsteller*innen:
Interpret*innen – Urheber*innen
Budget:
mehrjährig fix geförderte Institution – temporär gefördertes Werk
Evaluierung:
periodisch - ständig
Werdegang:
«Hocharbeiten» - Selbstermächtigung
Spielbetrieb:
Repertoire – En Suite
Vermittlungsprogramme und Diskurs:
selbst gestaltet – von Veranstalter*innen organisiert
Interweaving: Das Prinzip des «Interweaving» rückt die Vernetzung und Verflechtung unterschiedlicher Kulturen, ihrer spezifischen Identitäten und sozialen Situation in den Vordergrund, was die Institutionen stärker öffnet und hybridisiert. Damit verbunden sind Auseinandersetzungen mit Themen wie Gender, Diversity und Postkolonialismus, die nicht mehr der interessante Nebenaspekt künstlerischer Arbeit sind, sondern geradezu unerlässlich eine Bekenntnissituation zu Wertefragen erzeugen. Der Kanon ist heute nicht mehr eine dynamische Shortlist von Werken, sondern von ständig evaluierten Werten. Ihre Verhandlung prägt die Spielpläne und Spielformen mehr als die Tradition des gelernten Handwerks und der adorierten Meistertexte.
Internationalisierung: wurde zum Normalzustand im Sinne eines nicht mehr einseitig begriffenen Kulturtransfers, sondern als kollaborative Arbeitspraxis. «The West and the rest» war die Grundhaltung eines Kulturbetriebs, der die westliche Kultur für «universell» hielt und die nicht-westliche in irgendeiner Weise für spezifisch oder besonders. Aus dieser Haltung heraus konnte man es trotzdem mit allem sehr gut meinen, aber hat doch Rassismus reproduziert. Das ändert sich langsam. Was Deutschland ist, wird zunehmend weniger identitär begründet, durch den Verweis auf eine blonde, weiße und christliche Tradition, sondern reflektiert sich als im Wandel begriffen und zentriert sich durch öffentlich verhandelte Werte wie unsere Erinnerungskultur, eine Geschichte der Solidarität und Diversität der Regionen.
Präambel: Meinen Anregungen für eine kulturpolitische Initiative des Bundes im Bereich der Performing Arts möchte ich folgende Prämisse voranstellen: Es geht, wenn man über künstlerische Arbeiten aus der eher kooperativ produzierenden Sphäre unserer Theaterlandschaft spricht, um Phänomene unserer aktuellen Hochkultur, nicht um interessante Phänomene der «Alternativkultur», sondern um die Werke von Künstlern, die heute im Ausland oft an erster Stelle stehen, wenn man über die zeitgenössische Theaterkunst aus Deutschland spricht. Rimini Protokoll ist heute in Brasilien bekannter als Michael Thalheimer und produziert inzwischen gelegentlich auch teurer. Wir sprechen außerdem zu viel von Kulturförderung und dabei erscheint nur selten das Wort Kunst. Angesichts der immer größeren und systemerhaltenden Rolle der Projektförderung wird über künstlerische Projekte zunehmend von Jurys und Gremien entschieden, doch sind bislang nur sehr selten Künstler*innen in diesen Jurys und Gremien vertreten.
Hinzu kommt, dass wir, die hier im Saal über die Zukunft dieser hybriden Systeme der zeitgenössischen Theaterkunst nachdenken, fast alle «Analog Nativs» sind und einen Kulturwandel erleben, der neue Werk- und Erzählformen mit sich bringt, die sich allesamt eher mit originalen Werken verbinden, Werken, die nicht mehr auf einen vorher festliegenden Text verweisen, sondern auf ein Patchwork von Quellen, die oft erst bei den Proben eine Form finden. Dazu zählt das Entstehen neuer Plattformen wie nachtkritik.de oder Werkformen, die wie Plattformen funktionieren, deren Angebote also nicht mehr nur auf Konsum ausgerichtet sind, sondern auf Prosumenten im Sinne von Alvin Tofler, die mitproduzieren, was sie zugleich konsumieren – jede Arbeit von Tino Sehgal funktioniert so, auch jedes Stück von SIGNA oder machina eX. Michael Schindhelm nannte diese sich um die Erfahrungswelten von Games und sozialen Netzwerken erweiternde Sphäre dieses neuen kulturellen Schatzes «Kulturplasma» und dieses muss heute mit den bestehenden «Kulturlandschaften» der traditionellen Institutionen zusammengedacht werden, wenn man sie entwickeln möchte. Hier also zehn Vorschläge, was da interessant sein könnte:
1) Künstler statt Häuser fördern: Künstler, die Geld mitbringen, sind selbstbewusstere Künstler und in der Lage, viele der für sie notwendigen Bedingungen auch selber durchzusetzen. Künstlerförderung sollte verschiedene Ebenen haben und ein größeres Segment der langfristigen Förderung widmen. Die Kompanie ist das Projekt, nicht das Werk. Einer solchen Künstlerförderung entspräche das Modell des Vertrauensgeldes – vergleichbare Förderstrukturen kennt man aus skandinavischen Ländern und aus Belgien, wo nicht die Entstehung eines Werkes gefördert wird, sondern die Gewährleistung der Arbeitsfähigkeit einer produktiven Konstellation von Künstlern.
2.) Denkzeit-Kurse: Was im Bereich der darstellenden Künste fehlt, sind kontinuierlich stattfindende Labs, etwas wie die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik – mit Lectures, Panels, Think Tanks und selbstorganisierten Open Space-Projekten. Ein anderes Beispiel wären die Experiments in Art and Technology (E.A.T.), eine non-profit Organisation, die 1967 gegründet wurde, um die Verbindungen zwischen Künstlern und Ingenieuren zu fördern. Ihr voraus ging die Zusammenarbeit der Künstler Robert Rauschenberg und Robert Whitman mit den Ingenieuren Billy Klüver und Fred Waldhauer, die gemeinsam die legendären 9 Evenings: Theatre and Engineering veranstaltet hatten – eine Serie von Performances und Wissenschaftlerpräsentationen, die aus der Kollaboration von 10 New Yorker Künstlern und 30 Wissenschaftlern im Bereich neuer Technologien der Bell Telephone Laboratories entstanden. Warum nicht eine Zusammenarbeit zwischen dem Max-Planck-Institut und den Live-Art-Künsten fördern, die ein eigenes Schaufenster auf der Documenta bekommt?
3.) Förderung der Kulturmanager: Wer trainiert eigentlich die Trainer? Weiterbildungsangebote für Kulturpolitiker durch den Bund könnten ein wichtiger Agent des Wandels sein – so die Einladung von lokalen, regionalen Kulturpolitikern zu einem von einer Jury kuratierten Programm, das anlässlich progressiver Formate ausgewählter Festivals und Häuser zur moderierten Diskussion mit den Machern einlädt. Partner könnten die KSB, das HKW oder ZKM sein. Es gab immer wieder Wellen großer Erneuerungen, etwa in Deutschland in den 70er Jahren um die Kompanien von Pina Bausch oder Peter Stein, in den 80ern um Nele Hertling und Ivan Nagel, Orte wie das TAT, Kampnagel und FFT in den 90ern oder die großen Festivalgründungen wie die Ruhrtriennale in den Nullerjahren. Aber es gehörten immer auch jene Kulturpolitiker dazu, die den Managern und Künstlern halfen, diese neuen Strukturen zu etablieren, bzw. die solche Strukturen vorausgeahnt und ihnen den Weg gebahnt haben.
4) Konversions-Studie: Viele Häuser, die heute als Repertoire-Betriebe funktionieren, werden sich über kurz oder lang nach neuen Freiräumen sehnen, die nur entstehen, wenn sie dieses Repertoire-System modifizieren. Eine Alternative ist z.B. die Mischung aus einem en suite-Betrieb mit kleinerem Ensemble und vielfarbigem Programmsegment als einladende Bühne. Welche Verschiebungen innerhalb betrieblicher Strukturen hat das zur Folge? Der Bund könnte diesen Wandel progressiv gestalten, indem er für diese neu entstehenden Strukturen ein Konzept für die Förderung des bundesländerübergreifenden Tourens von Produktionen entwickelt, das in kleiner Form im Modell der Landestheater vorgeformt ist.
5) Pilotinstitutionen: Wenn Institutionen progressive Modelle entwickeln, sollte der Bund diese als Pilotbetriebe unterstützen und sich so ein Cluster zukunftsweisender Häuser oder Kompanien quer über das Bundesgebiet schaffen. Damit wird nicht eine bestimmte Ästhetik belohnt, sondern die exzeptionelle Arbeit im Bereich von Konzept und innovativer Durchführung. Landesweit sind Betriebe mit solch einer außerordentlichen Expertise bereits vorhanden – man kann sie für Förderung von Kulturpolitikerinnen und Einrichtung von Denkräumen nutzen. Es gibt das ZKM, das Schauspiel Dortmund, PACT-Zollverein, Milo Raus International Institut of Political Murder (IIPM), die Bürgerbühne Dresden, Münchner Kammerspiele oder das Theater an der Parkaue, die neue Formate, Kooperationsformen und Residenzen fördern, und davon könnte es weit mehr geben. Modellinstitutionen erkennt man daran, dass sie vor allem das stattfinden lassen, was ins bestehende Aufführungssystem zwischen Repertoire-Theater und Festivalbetrieb nicht hineinpasst. Es gibt solche inspirierenden Institute neuen Typs auch im Ausland: NO99 in Tallinn, Vooruit und Campo in Gent, das Theátre des Amandiers in Nanterre von Philippe Quesne oder das Theater Rotterdam.
6) Big Scale Project: Freie Szene produziert fast immer in kleinen Formen. Eine lohnende Aufgabe, gerade angesichts unserer Tradition großer Häuser, könnte in einem bundesweiten Fond zur Förderung großformatiger Stücke oder Formate fürs große Haus sein. Hier könnte zum Beispiel auch der oft international vernetzte Neue Zirkus wichtige Impulse in der Zusammenarbeit mit lokalen Infrastrukturen setzen. In Ländern mit einer dominanten Koproduktionsszene sieht man oft, dass junge Theatermacherinnen und Kompanien nicht für die große Bühne arbeiten wollen oder es gar nicht (mehr) können. Diese Entwicklung gilt es in Deutschland zu vermeiden. Das Handwerk, mit großen Räumen umzugehen, ist kompliziert und braucht auch außerhalb der großen Theaterinstitutionen die Möglichkeit, sich dieses Metier anzueignen und sich in ihm zu entwickeln. Es ist wichtig, Formate zu unterstützen, die für nur einen Zuschauer gleichzeitig gedacht sind, oder für kleine Gruppen von fünf oder fünfzehn Menschen, aber genauso wichtig ist es, in die Entwicklung von neuartigen Produktionen für tausend Zuschauer zu investieren.
7) Upgrade: Digitale Technologien verändern nicht nur die Erzählweisen der Postinternet-Generation, sondern auch die Mittel und Techniken des Erzählens. Wer schult Video- und Tontechniker*innen von Stadt- und Staatstheatern genauso wie aus der Freien Szene hinsichtlich der sich rasant entwickelnden neuen Geräte und Software und fördert den Austausch von lokal vorhandenem Knowhow? Eine solche Akademie hat Kay Voges vor einiger Zeit angeregt und dieser Digital Turn des Theaters ist nicht nur die Sache eines Bundeslandes.
8) Netzwerkförderung: Wie man Institutionen fördern kann, wissen wir halbwegs. Aber wie kann man Netzwerke fördern? Netzwerke beruhen auf Austausch. Wenn die Künstlerförderung auf absehbare Zeit eine Sache der einzelnen Bundesländer bleibt, könnte der Bund Kooperationen zwischen den Bundesländern fördern: Die jüngst auf den Weg gebrachte Koalition der Produktionshäuser verbindet sechs Spielstätten ist ein zukunftweisendes und notwendiges Projekt. Die KSB hat mit ihren Pilotprogrammen «Tanzplan», «Heimspiel» und «Doppelpass» Akzente gesetzt, die nun von der Projektphase in eine kontinuierliche Netzwerkförderung überführt werden sollten. Dafür scheint mir ein Reisefond sinnvoll, der abgerufen werden kann, wenn eine Produktion z.B. an drei innerdeutschen und einem internationalen Ort zu sehen ist – vergleichbar der Unterstützung, die das Goethe Institut Produktionen gewährt, die ins Ausland eingeladen werden. Netzwerkförderung könnte auch heißen, einfach das Vorhandensein von Räumen zu fördern, die bewusst «offen» gehalten werden – das meint die oben genannten Denkräume, aber Probenräume für Labs, die nicht sofort zu Ergebnissen führen müssen – z.B. als Residenzräume an den erwähnten Pilotinstitutionen oder an den Institutionen neuen Typs. Zur Netzwerkförderung würde ich zudem auch eine Plattform wie das Impulse-Festival zählen, das speziell koproduzierte Arbeiten sichtbar macht, zu denen zukünftig vielleicht auch Koproduktionen mit Stadttheatern und Arbeiten des Neuen Zirkus zählen werden.
9) (St)Art Up: Frei produzierende Künstler*innen sind Kleinunternehmer*innen. Projektgelder decken die Bürokosten ab, die Produktionskosten und, in wenigen Fällen, auch eine selbst organisierte Altersvorsorge. Gibt es im Bereich der Wirtschaftsförderung von Start Ups nicht unterstützende Modelle und gesetzliche Regelungen, die auch für die Förderung freier Kunstproduzenten hilfreich wären? Die o.g. Netzwerkförderung sollte eine solche Unterstützung von Kleinunternehmen, die in der föderalen Struktur überregional wirken, unbedingt mit beinhalten. In Belgien gibt es z.B. ein sogenanntes «Künstlerstatut», das professionell arbeitenden Künstlern, die nicht von den Projektgeldern leben können, die Möglichkeit bietet, sich um ein steuerrechtliches Statut zu bewerben, das ihnen ein Monatsgehalt sichert.
10.) Next Generation: Im Bereich des künstlerischen Nachwuchses besteht ein krasses Missverhältnis zwischen den Etats, die erfreulicher Weise für kulturelle Bildung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung zur Verfügung gestellt werden und den Etats von Nachwuchsfestivals wie Freischwimmer, Junge Hunde oder dem Theatertreffen der Jugend. Zudem fehlt ein HAU für den Bereich des Kinder- und Jugendtheaters – laut ASSITEJ gibt es in Deutschland 80 professionelle Akteure im Kinder- und Jugendtheater, die kein eigenes Haus haben.