«Alles ist Regietheater»
Reaktion auf Daniel Kehlmanns Festspielrede
Peter Michalzik: Herr Oberender, wie schätzen Sie Daniel Kehlmanns sehr emotionales Pamphlet gegen das Regietheater ein?
Thomas Oberender: Was er über das so genannte Regietheater sagt, halte ich für ein Phantasma, das sich mehr vom Hören und Sagen nährt als von einer mir teilbaren Erfahrung. Seine Festspielrede gleicht über weite Strecken dem Kampf von Hamlet. Und bei genauerer Betrachtung ist die Rede Daniel Kehlmanns ja weniger eine Abrechnung mit dem Regietheater als eine Warnung vor einem repressiven kulturellen Klima. Es ist eine Abrechnung mit dem so genannten «Progressiven». Die Rede ist, das verliert man leicht aus den Augen, ein Plädoyer für Offenheit, eine Ermahnung, sich jenseits ideologischer Lager den Blick frei zu halten und nicht zum Gesinnungsrichter zu werden. Das hat sich bei Daniel Kehlmanns Rede auf oder gegen Bertolt Brecht, die er vor einem halben Jahr nahezu unbemerkt in Augsburg hielt, als furioser Protest gegen eine unreflektierte Auffassung vom «Fortschrittlichen» bereits angedeutet. Insofern steht seine Festspielrede eigentlich der Debatte ums Ekeltheater weitaus ferner als Botho Strauß´ «Bocksgesang» oder Peter Handkes Konsensverweigerung im Nato-Krieg gegen Serbien. Fatal ist nur, dass Daniel Kehlmann selbst so gesinnungsrichterlich wirkt.
PM: Es gab bei der Rede vor etwa 1500 Leuten nur Applaus. Sind in Salzburg alle gegen Regie?
TO: Nein, man ist gegen den Schmerz. Man möchte die Freude gratis. Man möchte Festspiel sein, und nicht Festival. Und das verstehe ich sogar in einem gewissen Sinne. Mit Regie hat das aber nichts zu tun. Max Reinhardt, einer der Mitbegründer der Festspiele, war der Erfinder des Regietheaters. Er wechselte die Stile und Formate und erfand genauso die Idee des Kammerspiels wie des Rundhorizonts, der Drehbühne wie des Massentheaters oder Mysterienspiels. Daniel Kehlmann bezieht sich da auf einen genius loci, der ihn im Grunde widerlegt.
PM: Wissen Sie eigentlich, was Herr Kehlmann unter Regietheater versteht?
TO: Vermutlich, so wie er die Arbeit seines Vaters beschreibt, der im Dienst des Autors die Rolle eines diskussionslosen Allbestimmers annimmt, etwas Paternalistisches. Sein Blick auf den Regisseur kommt dem Bild des Autors, im Sinne des Schriftstellers, in verquerer Weise sehr nahe. Von Kleist über Büchner bis hin zu Heiner Müller, Elfriede Jelinek oder Mark Ravenhill entstand eine Form von dramatischer Literatur, die uns keine Anleitung mehr gibt, wie das auf der Bühne geht. Sie braucht den Regisseur als Erfinder. Und das sind Entwicklungen, die von der Literatur ausgehen. Sie sind an sich nicht progressiver oder besser als die Leistungen von Tschechow oder Tom Stoppard. Nur ist das Regietheater, nach dem Sie fragen, eigentlich eine Erfindung dieser, am real existierenden Theater uninteressierten, Autoren. Aber um es noch einmal zu sagen: In dieser Rede von Daniel Kehlmann geht es viel weniger um das Regietheater als um einen Angriff auf ein vom Autor diagnostiziertes und angefeindetes Gesinnungsklima. Es geht um Angriffe auf einen dummen Begriff von Progressivität und moralischer Selbstgefälligkeit, der ihn beunruhigt, und den Kehlmann mit dem Symptom des vom Feuilleton geschätzten Regietheaters identifiziert. Es wäre wohltuend, wenn etwas mehr von der hamletschen, spielerischen Balance in diesem Text zu spüren wäre.
PM: Die Rede Kehlmanns wirkt auf mich wie der Einstimmungstext für die neue Intendanz von Alexander Pereira und den Schauspielchef Sven-Eric Bechtolf, der Ihnen im Jahre 2012 nachfolgen wird. Werden die Salzburger Festspiele jetzt so konservativ, wie sie es seit Karajan nicht mehr waren?
TO: Das Problem ist nicht Alexander Pereira, der macht, was man von ihm kennt, und integer ist. In Erinnerung bleiben von den Salzburger Festspielen doch ohnehin nur die Betriebsunfälle auf hohem Niveau. Der «Jedermann» vor dem Dom war 1920 eine Notlösung, die Legende wurde. Max Reinhardts irrwitzige «Fauststadt» in der Felsenreitschule, Steins Ausgrabung der «Libussa» in der schrundigen Halle in Hallein oder Baumbauers Geniestreich mit Percevals «Schlachten», um von Gerard Mortiers Opernprogramm zu schweigen, dies alles sind Triumphe für Salzburg, die, einer gewissen Intuition folgend, trotz Salzburg entstanden.
PM: Sind Sie selbst für oder gegen Regietheater?
TO: Nennen Sie mir ein Beispiel dafür, was kein Regietheater wäre! Die Entmachtung und Entmündigung der Schauspieler als der eigentlichen Produzenten der Aufführung ist vollzogene Sache. Mitbestimmungsmodelle wie in Frankfurt oder Berlin sind nostalgische Schnurren. Wenn Sie ein Theater suchen, an dem Schauspieler wie erwachsene Menschen behandelt werden, müssen sie nach Antwerpen oder Riga reisen. Natürlich gibt es Ausnahmen Regisseure wie Jürgen Gosch, die um sich eine Schauspielerfamilie erwachsener Leute versammeln, oder Ensembletheater wie Baumbauers Kammerspiele oder Ulrich Khuons Thalia Theater, die einen guten Stil pflegen. Aber all das bleibt am Ende Regietheater. Denn unser in der Welt einzigartiges Theatersystem ist eine riesige Repertoiremaschinerie, die ohne diese zwischen verschiedensten Häusern vagabundierenden Stückeeinrichter gar nicht zu betreiben wäre, die ihre Arbeit gut machen. Zu fünfundneunzig Prozent beruhen ihre Aufführungen noch immer auf geschriebenem Text, und der schlechte Geschmack unserer Zeit ist auch nicht schlechter als der schlechte Geschmack der alten Zeit. Dabei werden nur sehr wenige Regisseure wirklich zu den Autoren ihrer Abende. Regietheater ist heutzutage alles. Doch dass uns Regisseure als die eigentlichen Schöpfer des Abends überzeugen, ist die Ausnahme. Aber auch ich bin gegen Regietheater. Allerdings in einem ganz anderen Sinne als Daniel Kehlmann. Was uns fehlt, ist Kollektivtheater.
PM: Was hat Sie bewogen, Daniel Kehlmann dieses Jahr als Ihren «Dichter zu Gast» nach Salzburg einzuladen?
TO: Er ist ein früh Vollendeter. Und schreibt mit Mitte Dreißig im Grunde schon ein Alterswerk, von dem ich sicher bin, dass es spannend bleibt. Lesen Sie «Berholms Vorstellung», «Mahlers Zeit» oder «Der fernste Ort» Bücher, die er als Zwanzigjähriger geschrieben hat, denen eine literarische Auflösung von Raum und Zeit gelingt und die zugleich eine Erfahrung von Vergeblichkeit und Einsamkeit vermitteln. Seine vaterlosen Helden stehen in all seinen Büchern am Rand. Wo sonst?, würde Botho Strauß sagen. Daniel Kehlmann schrieb jenseits der Tendenz und setzte sich durch. Er hat Wut auf ein Gesinnungsklima, das dazu führte, dass ein Autor wie Sebald eigentlich erst postum angemessen gewürdigt wurde. Und wenn er in der Festspielrede über seinen alten Vater spricht, spricht er über sich.
(Frankfurter Rundschau / Peter Michalzik)