«Der Einbruch der Realität»
Gespräch mit Ronald Pohl
Ronald Pohl: Sie zeigen 2009 «Die Bakchen»: Pentheus, der Hüter abendländischer Herrschaftstechniken, der die zweckrational eingerichtete Ordnung der Polis mit guten Gründen zu verbürgen sucht, wird von den Mänaden zerrissen. Ist vielleicht gerade Salzburg, ein Feier- und Weiheort der (szenischen) Künste ein solcher Ort der Zerreißung?
Thomas Oberender: Was passiert, wenn Gott kommt? Euripides schrieb ein an brutaler Destruktivität einmaliges Stück, das sich zugleich durch äußerste Eleganz und Perfektion auszeichnet. Es ist die letzte der uns erhaltenen klassischen Tragödien und ihm wohnt nichts Beschwichtigendes oder Versöhnliches inne. Denn was passiert, wenn Gott kommt? Nichts, sagt Euripides, das wir erwartet haben. Weder erscheint Gott so, wie wir ihn uns vorstellen, noch lässt sich seine Macht begreifen oder sich mit ihr verhandeln. Der Mächtige, das ist Dostojewskis Gedanke, wie er hier im letzten Jahr durchgespielt wurde, ist der, der sich selbst das Gesetz gibt, der nicht zum Material der Geschichte wird, sondern Geschichte macht. Raskolnikow wollte sich durch seine mörderische Tat beweisen, dass er über dem Gesetz steht, dass er ein Außergewöhnlicher ist, ein Napoleon, der in einer gottlosen Welt als Auserwählter an seine Stelle tritt.
Dostojewski schrieb einen Auferweckungsroman, weil er diesen Gedanken für verderblich hielt, und entwarf eine leidvolle Bekehrungsgeschichte, ein russisches Alternativmodell, dessen zentrale Aussage lautet: Nimm das Leid an. Überlass dich dem Fluss des Lebens, vergiss deine «Ideen», dann wird dir Gnade zuteil, und so wirst du auch die Liebe entdecken, die dich trägt. Aber diese Erkenntnis wird dich treffen wie ein Schock – Raskolnikow muss regelrecht zur Kreatur werden, ein Erniedrigter im Straflager, bevor ihn eines Nachmittags diese Eingebung an einem Flussufer verwandelt. Und um eben diesen Schock geht es bereits zweieinhalbtausend Jahre früher bei Euripides: Zum Glauben und der Anerkenntnis des Gottes führt kein Argument, kein sanftes Zureden und mildes Beispielgeben. Der knabenhafte, lächelnde Gott Dionysos erschüttert uns durch seine Gewalt, seine Unbegreiflichkeit und Maßlosigkeit: Er stürzt die Türme Thebens zu Boden. Er verwandelt einen Herrscher in eine Kreatur, die mit bloßen Händen von der eigenen Mutter zerrissen wird. Theben war der Ursprungsort der attischen Kultur. Denken Sie an die einstürzenden Twintowers, an das Foto der Teufelsfratze in den Rauchwolken des brennenden Nordturmes – von einem Augenblick auf den anderen war die westliche Welt mit dieser unbegreiflichen, menetekelhaften Gewalt konfrontiert, die für uns keinen Sinn ergibt. Es sei denn, sie würde uns bekehren und als ein solches Zeichen sollten die Anschläge wirken. Es waren die mörderischen Taten von selbsternannten Stellvertretern eines uns fremden und verstörenden Gottes. Auf diese Zeichen blicken wir wie Pentheus – frappiert, trotzig, ungläubig. Wir versuchen unsere Ordnung zu retten, unsere Finanzmärkte, unsere Lebensversicherungen, Häuser, Ersparnisse, staatsbürgerlichen Errungenschaften. Von einem Augenblick auf den anderen sind wir mit einer anderen Ordnung konfrontiert. Sind schockiert über den Einbruch der Realität – im doppelten Sinne des Wortes, also von der Verletzlichkeit einer Realität, die wir für unerschütterlich hielten, und zugleich mit dem Durchbruch einer anderen Realität, über dessen Konsequenzen wir nichts wissen. Vielleicht führt die Finanzmarktkrise zu einer ganz neuen Form von Weltregierung, einer neuen Weltordnung mit neuen Supermächten, wir aber spüren vor allem nur eines – die Erschütterung. Euripides Stück ist hierbei von unglaublicher Komplexität. Es ist ja nicht nur ein Einbruch einer göttlichen Realität in eine irdische oder staatliche. Es ist auch ein Kampf zwischen Stadt und Land, zwischen Mann und Frau, jung und alt, der sich hier Bahn bricht.
RP: Welche Räusche sind einer «Assekuranz»-Gesellschaft wie der unsrigen überhaupt zumutbar? Wie stark darf und kann dergleichen auf die legitimen Repräsentationsbedürfnisse einer überwiegend affirmativ gestimmten Gesellschaft durchschlagen?
TO: Euripides hat die Dionysischen Feste gegen Ende seines Lebens in ihrer ursprünglichen Gestalt in Makedonien erlebt – ein orgiastischer Kult, der in seiner wilden Ungezügeltheit in Hellas längst nicht mehr stattfand. Und doch verdankt sich ihm als Ursprung die klassische Kultur, wie Euripides und wir sie bewundern. Die Dionysien waren der Ursprung des abendländischen Theaters und Euripides lässt, auf dem Theater, inmitten einer sublimierten Hochkultur, den Blitz dieser ursprünglichen Realität einschlagen. Gerechtigkeit gibt es in diesem Stück nicht – weder auf Seiten der Menschen, noch bei Gott. Dieser Gott erzwingt Anerkenntnis, die all unsere Erkenntnisse umgeht. Indem er Mitvollzug seiner Riten und einen Ausnahmezustand erzwingt. In der antiken griechischen Kultur waren dies die Wochen der Dionysien, der rauschhaften Feste und Spiele und genau sie sind bekanntermaßen auch die Urform aller Festspiele, wenngleich diese natürlich eine zivilisierte Form darstellen. Aber auch sie markieren im Idealfall eine Ausnahmezeit, eine besondere Zeit innerhalb der Zeit. Die Festspiele suspendieren alle Verpflichtungen außerhalb ihrer selbst. Man geht nicht nebenher zur Arbeit. Die Festspiele, um auf Ihre Frage zurückzukommen, haben, zumindest potentiell, den Charakter einer Weiheveranstaltung – in Bayreuth wie in Salzburg, das ja ausgesprochen katholische, regionalkulturelle Gründungsideen besitzt. Natürlich ist es eine sanfte Weihe, aber eine gewisse Asozialität wohnt auch ihr inne. Nicht nur wegen der Kartenpreise, des Snobismus oder ihrer Exklusivität, sondern auch weil die Festspiele einen anderen Kulturraum innerhalb der Kultur - zumindest der Idee nach - anstreben. Dem versuche ich in meinem Programm in verschiedener Hinsicht Rechnung zu tragen. Am deutlichsten vielleicht durch ein drastisches Passionsspiel wie den Molierezyklus, das den Autor Moliere im Spiegel jener Figuren, die er zu Lebzeiten selbst gespielt hat, als eine Art «Jedermann» zeigt; oder in der großen Reise durch die Zeit, auf der die Needcompany in ihrer Trilogie nach dem Wesen des Menschen suchte. Oder eben in Andrea Breths Adaption von Dostojewskis «Verbrechen und Strafe». Wir können in Salzburg Werkformen kreieren, die noch immer einer spirituellen Suche Ausdruck verleihen, der uns zu einer anderen Hingabe zwingt: Über viele Stunden hinweg begeben wir uns in eine alles andere ausschließende Zeit. Solche Großformate sind kein Selbstzweck, sondern Einübungen in eine andere Weltsicht, und wenn sie uns ergreifen soll, nicht nur amüsieren, obgleich auch das ein Glück sein kann, das keiner weiteren Rechtfertigung bedarf, dann gehört dazu ein Moment der Erschütterung und Verstörung. Und diese Zumutung, weil Sie danach fragten, muss sein.
RP: Krapps Schwelgen in der Erinnerung («Spuuu-le!») markiert den Triumph des real Ohnmächtigen: Am Ende der Tage bleibt ihm die Wiederholbarkeit der Erinnerung, über die er, wenn auch nur unter der Zuhilfenahme von Technikprothesen, verfügen kann. Welche Haltung nimmt Handkes Stück zu Becketts Ur-Text ein?
TO: Peter Handkes neues Stück ist, wie er es selbst nennt, ein Echo dieses großen, kurzen Textes von Beckett. Es ist ein durchaus eigenständiges Werk, in dem allerdings die Setzung eines anderen Stückes widerhallt. Die Existenz dieses einsamen und, vermittels seiner Tonbänder, in sein früheres Leben zurücklauschenden Mannes findet in Handkes Antwortmonolog einer Frau ihren Niederschlag. Es ist, das ist wirklich ein wunderbarer Einfall von Peter Handke, eben jene Frau, die als Krapps Geliebte ihre Spur auf seinen Tonbandspulen hinterlassen hat. Diese verpasste oder geopferte Liebe, das begreift der alte Krapp, hat sein Leben entscheidend in jene Bahnen gelenkt, an deren Ende er nun steht und, wie jedes Jahr an seinem Geburtstag, zurücklauscht in sein altes Leben. Wobei es diesmal das letzte Mal ist, dass Krapp, durch das Besprechen des Bandes, eine Art Bilanz zieht, die rituelle Jahresbilanz, und die Spreu vom Weizen seines Lebens trennt. Erfolg, Liebschaften, die Extasen seiner Erkenntnisse, die Verwöhnungen durch Gewohnheiten – all das ist die Spreu. Das Fruchtbare, der Weizen seiner Tage, das erkennt er nun, waren jene wenigen Momente der Liebe, die er mit dieser namenlosen Frau erlebt hat, die er verließ. Nur das bleibt. Und so tritt sie bei Peter Handke auf – die von ihm Verlassene, die bei ihm Gebliebene, die von ihm Tyrannisierte, die von ihm Beschenkte, die Frau, in der sein Sein eine Spur hinterließ. Sie rechnet ab mit ihm, sie schaut zurück auf ihn, sie kommt zu sich durch ihn, sie durchschaut ihn und kann sich, gegen Ende Ihres Monologs, dann doch zu etwas sie Verbindendem bekennen. Es ist sicher auch ein Stück über Peter Handke selbst – den Schriftsteller Handke, der sich in dem gescheiterten Schriftsteller Krapp spiegelt, genauso wie er Krapps Liebeskatastrophe als Geschichte seines, Handkes Lebens betrachtet. In seinem Stück jedenfalls verlässt die Frau ihren Krapp am Ende nicht, und es ist nicht einfach zu beschreiben, was sie bei ihm bleiben lässt. Vielleicht das Geschenk einer Freiheit, die sie ohne ihn nie erfahren hätte? Trotz aller Tortouren? Und sicher macht sich Peter Handke auch selber frei von Beckett, indem er sich lustig macht über das Weihevolle und Zeremonielle und Klischeehafte, das sich heute mit Becketts Ur-Stück verbindet. Es ist für mich daher auch Handkes lebensbejahende Antwort auf etwas so Endgültiges wie Becketts «Das letzte Band». Das Verhältnis der beiden Stücke zueinander ist also ein Machtkampf ganz eigener Art: Zwischen Daseinsformen und Literaturstilen genauso wie zwischen Mann und Frau in einem metaphysischen Sinne. Während Beckett eine Zumutung beschreibt, die Krapp vor allem für sich selbst darstellt, als die Zumutung des Lebens für einen Lebenden, der alle Illusionen über das Leben verloren hat, bezeugt Peter Handkes «Band» jene Zumutungen, die dieses Leben für andere bedeutet. Für die Frau an der Seite Krapps zum Beispiel. Aber er erfasst auch den Mut, der Krapps Leben innewohnt, das sich so radikal über sich selbst ernüchtert. Und das so zu einem Moment der Freiheit gelangt. Peter Handke versucht herauszufinden, ob dieser Funken der Freiheit nicht auch auf das Leben der Frau übersprungen ist. Als die Kehrseite der Zumutungen. Von Herrn Krapp strahlt in jedem Fall ein Licht aus. Und vielleicht hat sich diese Frau in diesem Licht selbst entdeckt. Als ebenso Scheinende.
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