«Plötzlich entsteht da etwas Großes»
Nadin Deventer, die neue Leiterin des Jazzfest Berlin, im Gespräch mit Thomas Oberender
Thomas Oberender: Warum haben Sie eigentlich an so vielen Orten studiert?
Nadin Deventer: Mein Studium der Literaturwissenschaften habe ich in Paris angefangen. Nach einem Jahr habe ich erfahren, dass man in Berlin Frankreichstudien belegen konnte, einen interdisziplinären, relativ neuen Studiengang – um dann nach einem Semester festzustellen, dass Europawissenschaften in Amsterdam vielleicht doch noch interessanter wäre. Als ich 1997 Abitur gemacht habe, wurde das Thema Europa nur sehr peripher behandelt. Darüber wollte ich mehr wissen. Letztendlich bin ich fünf Jahre in Amsterdam geblieben und habe meinen Master in Europawissenschaften gemacht und parallel Musik studiert.
Ihre Schwester, Kathrin Deventer, leitet heute die European Festivals Association – wo kommt in Ihrer Familie diese Europabegeisterung her?
Die ist uns nicht in die Wiege gelegt worden, aber neugierig und reiselustig waren wir schon immer. Bei meinem ersten längeren Auslandsaufenthalt war ich sechzehn. Ich hatte am ersten Tag der Sommerferien zufällig eine Französin kennengelernt und am letzten Tag der Ferien hatten wir die Eltern, die Schule und alle überzeugt, dass ich jetzt ein Jahr in Paris wohnen und dort zur Schule gehen werde. Das war sehr aufregend und ich hätte nicht gedacht, dass es klappen könnte. Aber irgendwie habe ich diese Chance einfach ergriffen und hatte keine Angst davor.
Und so machen Sie heute Festivals. Ihre ersten großen Projekte haben Sie 2008 im Ruhrgebiet verwirklicht. Wie hat das angefangen?
Aus privaten Gründen hat es mich nach nur einem Jahr beim Festival van Vlaanderen in Brüssel im Jahr 2008 überraschend ins Ruhrgebiet verschlagen. Da musste ich wieder ins kalte Wasser springen und mein Leben umgestalten.
2008, das war die Zeit, als auch ich noch in Bochum war – wir sind uns aber nicht begegnet. Wie haben Sie Anschluss gefunden in der Region?
Ich habe mich zum Glück noch in die Kulturhauptstadtdebatte einklinken können. Man konnte sich für RUHR.2010 mit eigenen Projekten bewerben, und das jazzwerkruhr, das ich von 2007 bis 2016 freiberuflich geleitet habe, wurde für mich der Anker, mit dem ich loslaufen konnte. Ich konnte mir die Szene ansehen, die ich von Holland aus schon ein bisschen kannte, und habe dann festgestellt, dass es genug spannende Projekte gibt, um sie international zu vernetzen und in der Kulturhauptstadtmaschinerie zu etablieren. Also gründete ich das internationale Koproduktionsnetzwerk jazzplayseurope, das über fünf Jahre bestehen sollte.
Was genau haben Sie da gemacht?
Ich habe für die Formate von jazzplayseurope Partner aus sieben Nachbarländern akquiriert – da kam es mir sehr zupass, dass ich durch mein Studium schon ein internationales Netzwerk hatte. Die ersten Projekte waren klein und abenteuerlich, mir war sehr wichtig, dass die ausgewählten Musiker*innen maximale künstlerische Freiheit hatten bei der Entwicklung ihrer Musik. Das jazzplayseurope-lab zum Beispiel tourte mit jeweils einer*m Musiker*in aus jeder Partnerstadt durch eben diese Städte. Diese Labore hatten eine intensive und spezielle Energie und waren künstlerisch sehr interessant. Sie haben uns Veranstalter*innen genauso zueinander gebracht wie natürlich auch die Musiker*innen, die nach einer mehrtägigen Probenzeit bis zu 14 Tage zusammen durch Europa reisten. Einige Musiker*innen sind immer noch in Kontakt miteinander.
Sie kennen die verschiedenen Jazzlandschaften, in den Niederlanden, in Belgien, in Deutschland, in Polen … Wie entwickelt sich die Szene und damit die Kunstform des Jazz? Mein Eindruck ist, dass Jazz wieder cool wird. Wie Lyrik. Was passiert da?
Es gab noch nie so viele gut qualifizierte Musiker*innen wie heute. Und, ja, obwohl wir natürlich noch vor großen Herausforderungen stehen, und die oftmals prekären Arbeitsverhältnisse von Musiker*innen und Veranstalter*innen nicht übersehen dürfen, habe ich auch den Eindruck, dass der Jazz eine größere Wahrnehmung erfährt. Jüngere Menschen interessieren sich wieder mehr für diese Kunstform, und ich glaube, das liegt daran, dass diese Musik so unglaublich vielfältig ist. Diese Bandbreite wird momentan verstärkt wahrgenommen, vieles ist in Bewegung, es entstehen ständig neue Initiativen, Allianzen und Netzwerke. Aber das Interesse ist nicht an allen Orten gleich ausgeprägt. Die Gründe dafür sind sicher vielschichtig, haben aber auch mit individuellen Macher*innen zu tun, die an den jeweiligen Orten wirken. Ich habe gerade einen Artikel über die Jazzszene in Helsinki gelesen, der die Frage stellte, warum hippe junge Menschen sich so sehr für diese Kunstform interessieren, und zwar nicht nur für die mainstreamigen, zugänglicheren Varianten, sondern auch für die komplizierteren Spielarten. Und auch dort war die Erklärung, dass es in Helsinki einzelne Akteur*innen sind, die ihre Chance ergreifen und ein Netzwerk bilden, zum Beispiel mit kleinen Clubs, und plötzlich entsteht da etwas Großes. Das habe ich persönlich schon einige Male erleben können und auch in Berlin begegne ich dem in den letzten Jahren vermehrt.
Es braucht ja oft Brückenfiguren, die Wege in andere Bereiche öffnen. Sind Sie selbst so eine Figur? Neben Konzerten in Clubs und Konzerthäusern haben Sie in Brüssel und im Ruhrgebiet unter anderem auch Konzerte in Trinkhallen, Wohnzimmern, an Bahnhöfen und in Galerien organisiert und eine Popularisierung des Jazz-Erlebnisses befördert, die für eine Art Empowerment gegen alles Elitäre steht.
Naja, wenn man feststellt, dass die Musik und die Künstler*innen mehr ins Rampenlicht gerückt werden sollten, da Publikum fehlt, sollte man auch kreativ handeln und sich trauen, seine Komfortzone zu verlassen. Ich dachte: Wenn die Leute nicht zu uns kommen, kommen wir zu ihnen. Dann müssen wir halt raus aus unseren Spielstätten, um zu signalisieren: Wir sind da und wollen mit unserer Kunst Teil dieser Gesellschaft sein. Das sind allerdings Prozesse und Projekte, die ich nur gemeinsam mit Musiker*innen entwickeln würde, um Akzente zu setzen.
Sie haben ein Projekt «No blah-blah!» genannt. Was bedeutet das? In der Musik gibt es doch kein Blah-Blah.
Das war mein Kulturhauptstadtprogramm für RUHR.2010, das ich für den Jazz entwickeln durfte. «No blah-blah!», weil ich wegen der knappen Vorbereitungszeit von nur gut einem Jahr keine Zeit zu verlieren hatte, ich konnte mich nicht mit unnötigen Bedenken oder Hindernissen aufhalten, sondern musste einfach die Beine in die Hand nehmen und rennen. Wir haben in wahnsinnig kurzer Zeit ziemlich viel mobilisiert, Verbündete gefunden, und plötzlich entstand auch dabei eine Dynamik, die so nicht zu erwarten war. Letztendlich haben sich daraus 15 internationale Kooperationsprojekte mit knapp 40 Partner*innen und 250 Musiker*innen entwickelt, die im Jahr 2010 im Ruhrgebiet und in über 20 europäischen Städten unterwegs waren.
Was wollten Sie mit diesen anderen Formen von Musikerfahrung erreichen?
Ich glaube, ich suche nach Herausforderungen und Möglichkeiten, besondere Momente zu kreieren, aber natürlich wollte ich auch Wahrnehmung erzeugen. Mit «No blah-blah!» waren wir recht viel im öffentlichen Raum unterwegs. Dazu fällt mir der «Flying Grass Carpet» ein, ein Projekt, bei dem der triste Willy-Brandt-Platz in Essen in eine Wiese verwandelt wurde, auf der Hunderte von Menschen gemeinsam zu Livemusik picknickten, als es plötzlich 50.000 Blumen von einem riesigen Kran regnete. Dieses besondere Projekt zum Beispiel wurde nur durch die Zusammenarbeit mit einem niederländischen Künstler*innenkollektiv möglich. Ich finde es nicht falsch, dabei auch event-technisch zu denken, um mehr Menschen für den Jazz zu begeistern. Das tut der Kunst keinen Abbruch, im Gegenteil: Ein gutes Konzert in einem geöffneten Kiosk, einem Bahnhof oder bei Nachbarn im Wohnzimmer zu spielen, ist eine besondere Herausforderung für die Musiker*innen. Im Jazz geht es ja um Interaktion, Kommunikation und Improvisation – die Musik entsteht im Moment, und das Umfeld spielt dabei eine große Rolle und fließt in die Musik ein. Wenn Kinder zum Beispiel anfangen, hinter den Gardinen zu Avantgarde Jazz zu tanzen oder ein Guerilla-Act die Menschen animiert, ihre Stühle raus auf die Straße zu stellen und zuzuhören, dann bewegt und berührt Musik und es entstehen besondere Momente. Ein anderes Beispiel ist der 24-hour-run «What’s in the fridge?» in Wroclaw, den ich 2011 kuratiert habe. Anlässlich eines NRW/Polen-Austauschs sollten Musiker*innen beider Gebiete zusammengeführt werden. Durch mein Netzwerk kannte ich in Wroclaw Piotr Turkiewicz mit seinem Jazztopad Festival, den habe ich angerufen und gesagt: Piotr, jetzt haben wir die Chance, etwas Einmaliges zu machen. Wir haben eine 24-stündige Reise für Musiker*innen und Zuschauer*innen kreiert, die von Konzerten und Begegnungen in Wohnzimmern bis zur Clubnacht reichte, dann durch verschiedene Cafés führte, mit einem gemeinsamen Frühstück und Debatten mit internationalen Journalist*innen weiterging und schließlich mit einem großen Abschlusskonzert in der Philharmonie endete; erschöpft aber glücklich sind wir am nächsten Tag mit unzähligen Eindrücken in unserem vollgepackten Nightliner und mit 30 Musiker*innen an Bord wieder in Richtung Heimat gefahren.
Was bedeutet Kuratieren für Sie?
Suchen, forschen, Fragen stellen, zuhören, ein- und abtauchen in Städte, Materien, Lektüre, die Musik; Chancen und Potenziale erkennen, Möglichkeiten und Freiräume für Künstler*innen schaffen; Begegnungsräume öffnen, thematische Bezüge schaffen, Impulse setzen; Stellung beziehen, Grenzen überwinden, Vorbehalte abbauen, überraschen, mutig sein, voranschreiten, begeistern und die Kraft der Kunst und Künstler*innen sichtbar machen.
Wenn Sie Wohnzimmerkonzerte als nicht-elitär schätzen – was wäre für Sie eine elitäre Haltung im Jazz?
Elitär wäre für mich, dazusitzen und zu sagen: Ich mach doch alles richtig, verdammt noch mal, warum kommt heute wieder keiner? Deshalb versuche ich immer, sehr früh mit allen Beteiligten, Künstler*innen, Veranstalter*innen, Partner*innen oder anderen Kurator*innen in einen Dialog zu treten und nicht mit einem fertigen Paket anzukommen. Ich arbeite ziemlich intuitiv, ich komme an einen Ort, lasse ihn auf mich wirken, und suche Verbündete. Es gibt aber kein Patentrezept, letztendlich beginnt man immer wieder von vorne, nach Möglichkeiten und Sinnvollem zu forschen.
Wie wirkt nach all den europäischen Stationen Berlin auf Sie? Sie sind seit 2013 in der Stadt …
Berlin ist krass. Ich habe ja in verschiedenen Städten, auch größeren Städten, gelebt und gearbeitet, aber Berlin ist noch mal eine andere Nummer. Vielleicht im Jazz noch mehr, weil hier die Szene sehr dezentral agiert. In Berlin gibt es keinen zentralen Spielort, um den herum sich vieles konzentrieren oder ansiedeln würde, so wie das in anderen größeren Städten der Fall ist. Ich kenne keine andere Stadt, in der diese Art von Musik so selbstverständlich, vielleicht auch bedingt durch das Fehlen eines starken Ortes, quasi überall stattfindet.
Können Sie uns Beispiele für besondere Jazzorte in Berlin nennen?
Zum Beispiel das sagenumwobene Berghain, da finden regelmäßig auch Jazzkonzerte und Festivals statt, die MaerzMusik war dort ebenfalls schon zu Gast. Natürlich gibt es auch hervorragende Jazzclubs, aber auch viele andere Spielstätten, besonders in den Bezirken, in denen sich die Kreativität sammelt. Jede Szene in Berlin scheint ihren eigenen kleinen Ort zu haben, und gleichzeitig programmieren viele Clubs auch Jazz. Dazu kommen noch die diversen Kirchen, Probenräume, ehemalige Fabriken …
Ist ein Festival für Sie eher ein Ort der Prozesse oder eher ein Ort der Ergebnisse?
Beides. Ein Festival ist für mich ein kleiner, quicklebendiger Mikrokosmos und Teil einer vielschichtigen Kulturlandschaft und Stadtgesellschaft. Prozesse sind für mich sehr wichtig, um eine Geschichte zu kreieren mit einem Festival, das neben dem Repräsentativen, den Konzerterlebnissen, auch immer Freiräume für kreativen Austausch und Innovation bieten sollte. Da trifft sich dann wieder beides – Ergebnis und Prozess.
Was wäre für Sie ein modernes Festival?
Es gibt so viele verschiedene Festivals, und ich bin die letzte, die sie bewertet. Das ist alles sehr kontextgebunden, daher gibt es auch keine Pauschallösung wie das «Superfestival». Aber was mich reizt und womit ich gute Erfahrungen gemacht habe, ist, den Ort, an dem man sich bewegt, zu verstehen und zu respektieren, und dialogisch darin zu arbeiten. Ich habe 2013 die große Freude gehabt, das Festival n.a.t.u.r – Natürliche Ästhetik trifft urbanen Raum zu kuratieren.
Der Slogan war: «Wie wollen wir leben?»
Genau. Dieses Festival war schon immer sehr partizipativ und offen. Im Laufe des Machens entschied sich, wohin die Reise ging – wenn man da von vornherein eine fixe Idee gehabt hätte, hätte dort nichts wachsen können. Das ist das Prozesshafte, das ich so schätze, und manchmal entsteht etwas Einmaliges dabei, das man alleine gar nicht ersinnen hätte können: In diesem Fall ein Konglomerat an kollektiver Energie und Kreativität, das die ganze Stadt zwölf Tage lang mit über 170 Veranstaltungen in Atem gehalten hat.
Sie haben für das Festival n.a.t.u.r. Christopher Dell eingeladen – warum wurde er wichtig für Sie?
Christopher Dell hat im Grunde zwei professionelle Hüte auf, er ist zum einen Forscher für Stadtentwicklung und lehrender Professor, und zum anderen ein versierter Jazztheoretiker und ausgezeichneter Vibraphonist. Die Liebe zur Improvisation ist für ihn in beiden Feldern die treibende Kraft. Er war also mit seiner philosophisch-musikalischen Lecture Performance der ideale Eröffnungskünstler für ein urbanes Kunstprojekt.
Kann man in der Wissenschaft improvisieren?
Absolut. Es ist alles immer im Fluss, Stadtentwicklung und Gesellschaft sind immer in Bewegung, wer da noch statisch denkt, ist verloren. Das habe ich zum Beispiel von Christopher Dell gelernt.
Improvisation ist ja das zentrale Element des Jazz. Sie haben einmal gesagt, Improvisation sei für Sie der Kontrapunkt zu gesellschaftlichen Entwicklungen, die Sie für nicht wünschenswert halten. Improvisation als Therapeutikum für unsere Gesellschaft. Warum glauben Sie das?
Wir improvisieren alle. Immer. Angela Merkel genauso wie wir hier im Interview. Gewisse Dinge kann man lernen, klar, Ausbildung, Schule, Studium durchlaufen, um sich auf das Leben vorzubereiten. In der Praxis kommen die Dinge dann meistens doch anders, als man dachte. Eigentlich weiß man nie, wie etwas geht. Wir stünden ganz woanders, wenn die Menschen nicht jeden Tag so viel Mut an den Tag legen würden, zu improvisieren.
Sie wirken in Ihrer Arbeit sehr durchlässig für Impulse, die auf Sie einwirken. Könnte das kennzeichnend sein für eine neue Generation von Kurator*innen, die gemeinsam zu Festivals fahren und sich austauschen? In meiner Generation gibt es eher diese Eifersuchtshaltung: Ich sage meine Entdeckung niemandem weiter …
Ich glaube, dass das gerade einen sehr schönen Weg geht. Auch im Jazz gibt es natürlich alle möglichen Persönlichkeiten und Haltungen, aber ich habe in den letzten zwölf Jahren zu schätzen gelernt, was alles durch mein Netzwerk läuft. Der Austausch ist elementar, um wieder auf Ideen zu kommen – warum sollte ich reisen, wenn ich alles, was ich erlebe, für mich behalte? Natürlich gibt es auch Einzelgänger*innen, und es ist ein Wettbewerb, aber es gibt zum Glück viele Kolleg*innen, die das Miteinander für ihre Arbeit brauchen – und das ist keine Generations-, sondern eine Mentalitätsfrage. Ich habe wahnsinnig viel von älteren Kolleg*innen lernen können und kluge Ratschläge und Tipps geschenkt bekommen.
War das in Ihrer Arbeit von Anfang an so, dass Sie so viel Wert auf Austausch gelegt haben?
Ich habe in keiner großen Institution angefangen zu arbeiten, sondern habe die freien Projekte und die Engagements bei Institutionen kombinieren können. Aber ich war viele Jahre lang Einzelkämpferin und deshalb auch auf Partner*innen angewiesen, um meine Ideen realisieren und finanzieren zu können.
Haben Sie es als Frau schwerer?
Sagen wir mal so: Die Genderdebatte wird endlich auch im Kultur- und Jazzbereich immer lauter geführt. Ich komme gerade aus New York vom winterjazz Festival, dort standen ein paar Hundert Menschen an, um am Panel «Gender & Jazz» teilzunehmen. Dieses Thema wurde jahrzehntelang vernachlässigt, ist mittlerweile aber unüberseh- und unüberhörbar geworden. Die fehlende Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern hält auch im Jazzbereich Einzug ins kollektive Bewusstsein, das ist der erste Schritt zur Veränderung.
Ist Jazz eine Männerwelt?
Auf Seite der Veranstalter*innen, Kurator*innen, großen Labels, Journalist*innen, Institutionen und auch auf Musiker*innenseite sind die Männer nicht nur numerisch gesehen das dominante Geschlecht. Das ist aber auch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Ich weiß allerdings gar nicht, ob es im Jazz schlimmer ist als in anderen Kulturbereichen. Das Verblüffende ist vielleicht eher, dass es gerade auch im Jazz stattfindet, weil das doch die Kunst der Freiheit sein soll.
Beim vorletzten Jazzfest Berlin, das Richard Williams kuratiert hat, und bei dem auch Sie mitgearbeitet haben, waren 50 Prozent der Bandleader*innen Frauen. War das Zufall?
Das Bewusstsein für eine größere Diversität, nicht nur im Gender-Bereich, sondern auch für verschiedene Spielarten und Kulturen im Jazz, das war natürlich kein Zufall. Und ich werde mich dafür einsetzen, dass dem weiterhin Rechnung getragen wird.
Können Sie beschreiben, welche Entwicklung Ihre Planung für Ihr erstes eigenes Jazzfest Berlin 2018 gerade nimmt? Wie gehen Sie in der Programmarbeit vor?
Ein kleines Beispiel aus vielen: Das legendäre Art Ensemble of Chicago setzt im Herbst diesen Jahres nach mehrjähriger Pause seine Wiedervereinigungstour fort. Diesen Anlass nutze ich auch, um einmal genauer nach Chicago zu schauen und eine Brücke zu schlagen zwischen der Historie und dem, was dort heute passiert, um gegebenenfalls auch anderen Künstler*innen aus Chicago die Tür nach Berlin zum Jazzfest zu öffnen. Außerdem beschäftigen mich natürlich die großen Herausforderungen unserer Zeit, wie das politisch brisante Klima und die gesellschaftliche Spaltung. Festivals haben gesellschaftliche Relevanz, sie können Beschleuniger sein, Debatten befeuern oder die Zeit für einen Moment stillstehenlassen. In jedem Fall aber sollten sie Orte für Auseinandersetzung und Diskurs sein.
ist ab 2018 künstlerische Leiterin des Jazzfest Berlin, für das sie schon seit 2015 als Produktionsleiterin tätig war. In Ibbenbüren geboren, in Paris, Berlin und Amsterdam studiert, in Brüssel, Bochum und Berlin tätig, hat sie für das Festival van Vlaanderen, die Ruhrtriennale und RUHR.2010 – Kulturhauptstadt Europas gearbeitet.Zehn Jahre leitete sie das jazzwerkruhr, war Kuratorin des Festival n.a.t.u.r. und engagiert sich seit fünf Jahren im Vorstand des Europe Jazz Network. Formate, die sie geprägt hat, waren zum Beispiel das europäische Koproduktionsnetzwerk jazzplayseurope, das Programm «No blah-blah!» und der binationale 24-hour-run «What’s in the fridge?» in Wroclaw.
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