«Seit 1966»
Zwei Listen zum Vervollständigen
Von Thomas Oberender
Was kam im Laufe meines Lebens in die Welt? Was ist verschwunden? Seit meinem 50. Geburtstag führe ich zwei Listen.
Bakelit
, Telegramm,
Berliner Mauer,
Konsumläden,
Ormigpapier / Matritzen, Videorekorder, Diaabende,
Durchschlagpapier
Planwirtschaft
RAF
Palast der Republik
Videotheken mit Videos
das kleine, kippbare Seitenfenster neben den versenkbaren Autoscheiben
D-Mark
Ostblock
Stossstangen aus Blech
Karl Marx Stadt
Hörkassette
Essbestecketui
Poesiealbum und -bilder
Blockfreie Staaten
Rauchen im Flugzeug
Rauchen im Zug
Rauchen im Restaurant
Sowjetunion
Alle Kombinate
Betriebsferienheime
Schlümpfe
Magnetseife
Briefmarkenbefeuchter
Wehrpflicht in D
Tonbanddiktate
die Concord
Weltfestspiele
Zweitaktmotoren
Brieffreundschaften
Aufziehwecker
Leningrad
Wählscheiben
Schnurtelefon
Reisewecker
16mm-Film
Altdeutsch
Schwarzweissfernseher
Deutsch Sowjetische Freundschaft
Zivildienst
Unimog
Hermann-Teig
Nicky-Pullover
Minipli - Dauerwelle für Männer
Schlecker
Raider
Bonanza-Rad
Makramee
Kanzlerbungalow
Horten
Herti
Spaceshuttle
Veteranen WK1
Lederkoffer
Yugi-Oh
Röhrenradio
Schulappell
Exzessive Gitarren-oder Schlagzeugsoli
Floppydisk
Stielkämme in Gesäßtaschen
Private Wetterhäuschen
Schallplatten mit 78er Drehzahl
Kettenbriefe
Tamagochis
Ein Kessel Buntes
Am laufenden Band
Walkman
Tonbandkassetten
Verchromte Teleskopantenne fürs Autoradio
Weltempfänger
Poliklinik
Polytechnische Oberschule
Kursbuch
Schönheitsfleck
Abschnittsbevollmächtigten
Haarnetz
Zwangsumtausch
Pflichtfach Russisch
Nachtzüge
FCKW
DDT
Trevira
Fuchsschwanz
Wählscheibenschloss
Waldsterben
Fondor
Rechenschieber
Handarbeitsunterricht
Pocketkamera
Fleißbilder
Altdeutsch
Postkartenalbum
Sonntagskleidung
Heiermann
Vierstellige Postleitzahlen
Eisblumen an den Fenstern
HB-Männchen
G8
Westsandmännchen, Schreibmaschine, Rohrpost, Leisure Suit Larry, Milchkochtopf, s/w-Fotos selber entwickeln, Klementine (Ariel), Bunte Bordüren an Jeanssäumen zur Verlängerung, Milchkännchen, Engtanzen, um sechs zuhause sein müssen um die Simpsons zu sehen, Strassenbahnschaffner, Busschaffner, Satiremagazine mit Nackten, entspannte unperfekte Mütter, D-Zug, Bandsalat, Kassettenrecorder, Schleiflackmöbel, Gelsenkirchener Barock, Telex, aufziehbare Armbanduhren, Asbest, Nylonhemden, Sendeschluß…
Internet
Videotapes
Spielkonsolen
Haarshampoo mit Conditioner
Tintenkiller
GPS
Email
stonewashed Jeans
Windsurfen
Skateboard
elektronische Einparkhilfe
Überraschungsei
Stalker
Bumsters
Diät Cola
Light-Produkte
E-Zigarette
Navigationssystem
Shampoo, das nicht in den Augen brennt
Videospiele
Videoclips und MTV
Handy
alles was mit «Öko» oder «Bio» zu tun hat
Fax
Mikrowelle
Abgaskatalysator
WLAN
Bootleg
Induktionsherd
Trockenbau
68er
APO;
SUV
Dampfgarer
Textmarker
Genmarker
Dolly
Kopierer
Multikulti
Multimedia
Google
Ebay
Mülltrennung
Drohnen
Ghettoblaster
Fahrerlose Shuttlezüge
ICE
Selfie
Laserpointer
Anthropozän
Billigflieger
Videotext
Paintballgames
Horrorism
Stammzellforschung
Sparlampe
VR
Carsharing
Digitalradio
Geiz ist geil
Raucherzonen
Hundekot in Plastiktüten zu packen
Elektroauto
Hybridmotoren
Postmoderne
Internetplattformen
Luftgitarre
Katalysator
Solarzellen
Funktionskleidung
Techno
Kaffeepads
Sneaker
Leggins
Zahnimplantate
Prophylaxe
Carvingski
Modem
Mülltrennung
Intershop
Selbstreinigender Backofen
Selbstklebende Briefmarken
Teletubby
Prosumerkultur - von Ikea bis zum Fahrkartenautomaten
elektrische Zahnbürste
LED-Bildschirme
Streaming
Telefonkarten
Windkraftanlagen
MP3
Privatfernsehen
Pay-TV
Loveparade
Floppydisk
Cursor
Winkekatzen
Emoji
Hiphop
Extremsport
Inear-Kopfhörer
Sat-Receiver
Aids
Videobeamer
Pokémon
Grunge
Thermostatventile
Bunjeejumping
Mashups
Neutronenbombe
Punk
Laptop
Flatscren
S-Bahn-Surfen
Wäschetrockner
Paraglider
CERN
e-books
Hacker
New Wave
Whistleblower
Darknet
Online
Offline
Burnout
Schuldenbremse
ISDN etc.
DSS
Energiedrinks
Bewegungsmelder
Christopher Street Day
Die Abkürzung «POC»
Stealthbomber
Crystal Meth
Spracherkennung
Schengener Abkommen
Texterkennung
Neue Mitte
Crack
Spaceshuttle
Gentest
Dimmer
Immaterielles Weltkulturerbe
Klimawandel
Fashionweek
Laubgebläse
Neue Deutsche Welle
Haargel
Mähroboter
Art Basel etc.
Soziale Netzwerke
Al Quaida
IS
Binge watching
Samtene Revolution
Klettverschluss
Smoothie
ABS
Die Grünen
Post-its
Geldkarte
Club of Rome
Lichtschutzfaktor
Popliteratur
Recycling
Playmobil
BMX
Botox
Kontaktlinsen
Satellitenfernsehen
Funkuhr
Bürgerinitiativen
Tiefkühlkost
Weiße Schokolade
Airbag
Pager
Hostel
Glasfaserkabel
Bluetooth
Gauckbehörde
Teflon
Halogenlampe
Mitfahrzentrale
Quarz-Uhr
Videotelefonie
Fengshui
Karbon
RAF
Posthumanismus
Kiwi
Kulturkaufhaus
Telebanking
PIN und TAN
iPad
Kreisverkehr
Smartphone
AFD
Zentralverriegelung
Frauenquote
Just in time-Fertigung
Verkehrsinfarkt
Verkehrsberuhigte Zonen
Steampunk
Retrofuturismus
Pfefferspray
Intimspray
Hydrokultur
Augen Lasern
Telefonsex
Bahnhofspassagen
Trimm Dich Pfade
Aerobic
Spartenfernsehen
Surround Sound
Palast der Republik
Websites
Homepages
Künstliche Befruchtung
Grossraumwagon
Tracker
Adblocker
Homeoffice
Start Ups
Euro
InterRail
Flashmob
PRISM
Streichelzoo
Gendern
Alcopops
Gentrifizierung
Blue Ray
Viagra
Glaskorken
Shoppingcenter
Zonenrandgebiet
Wegwerfwindel
Gurtpflicht
Swatch
Fahrkartenautomaten
Endoskopie
Baumärkte
autofreier Sonntag
Endlager
Komasaufen
Solarenergie
Frauenbeauftragte
NSU
Solidaritätszuschlag
Bräunungsstudio
Pillenknick
Gonzo-Prinzip
Flüsterasphalt
Ossi
Wessi
Tetrapack
Greenpeace
Ärzte ohne Grenzen
Die Grünen
Berlinzuschlag
Callcenter
Big brother
Dschungelcamp
Wer wird Millionär
Noisecancelling headphone
Kreisverkehr
Verkehrsinfarkt
Frauenquote
Spielstraßen
Homeoffice
Autokindersitz, Thermomix, Kaffee to go, alles mit »to go», Catering, Latte Macchiatto, Ruccola Salat, handouts, Akkuschrauber, Einkaufscenter, Beachvolleyball, online-Buchung, Techno, Musikvermittlung, «bildungsfern», «Migrationshintergrund», Mediathek, PISA-Studie, Social Freezing, Retro, Latte macchiato, Chillen, Billigflieger, Kulturmanagement, Doku-Soap, Public Viewing, Monchichi, Magnum, Kapselkaffeeautomaten, Vintage, Kontaktlinsen, Bewertungsportale, Off-Shore-Parks, Mähroboter, Glitch
Rollkoffer
Etix
Sneaker
Flexitarier
Carsharing
flat rate
Airbnb
Fingergeste
Download
Shitstorm
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Letztes Jahr im August übernachtete ich in einem kleinen Hotel in der Schweizer Klosterstadt Einsiedeln und wunderte mich beim Aufwachen über zwei kleine schwarze Löcher in der Wand, direkt über den Nachttisch, die mir am Abend nicht aufgefallen waren. Das Zimmer war eingerichtet geblieben wie in den 30er Jahren; die zwei schwarzen Löcher in der Prägetapete waren eine bald hundert Jahre alte Bakelitmuffen, die leicht erhaben als «Steckdose» aus der Wahn hervorstanden. Neben dem Türrahmen sah ich auch noch einen Lichtschalter aus schwarzem Bakelit und wenn man ihn drehte, schnappte der zierliche Flügel mit einem warmen Klackgeräusch in die andere Position. Als ich diese federnde Bewegung spürte, erinnerte ich mich unwillkürlich an solche Schalter im Haus meiner Großeltern, wo sie sich in den Kellerräumen befanden. An sie dachte ich, als ich in Einsiedeln auf die Löcher in der alten Tapete blickte und sah mich als Kind mit dem Hund in den Keller der Großeltern steigen, um Obst oder Ofenholz herauf zu holen. Jedesmal ging ihr Cockerspaniel mit hinunter, er war neugierig und ich glaube, er hatte ein Auge auf mich. Denn der Hund, schrieb W.G. Sebald am Schluss von «Campo Santo», jener «Geheimnisträger, der mit Leichtigkeit über die Abgründe der Zeit läuft, weil es für ihn keinen Unterschied gibt zwischen dem 15. und 20. Jahrhundert, weiß manches genauer als wir.»
Man erinnert nur, was man erzählt. Anekdoten lassen die Zeit gerinnen. Dinge veranlassen uns genauso zum Handeln und Erzählen wie andere Menschen oder Ideen. Derart ausgelöste Empfindungen bilden wohl das, was wir Erinnerungen nennen. Jedes Wochenende streife ich über Flohmärkte. Ich vermag es nicht, mit «Leichtigkeit über die Abgründe der Zeit» zu laufen. Zumindest nicht mehr, seit die Kindheit im Haus meiner Eltern vorbei ist. Stattdessen entwickle ich ein immer stärkeres Gefühl für die andere Zeit der Dinge und das Selbst, das mir in den Augen anderer Spezies entgegenblickt. In mir entstand das Bedürfnis nach einem Echolot. Sein Signal hallt nicht in den Raum, sondern in die dunkle Zeit. Nach meinem fünfzigsten Geburtstag begann ich, vielleicht in Erinnerung an diese Drehschalter aus Bakelit, eine Liste mit Dingen zu führen, von denen ich glaube, dass sie in meiner Lebenszeit erfunden wurden, und eine zweite Liste mit Dingen, die während meiner Lebenszeit verschwunden sind. In meine Listen nicht nur Gegenstände eingegangen, sondern auch Moden, Ideen, Organisationen, Gesetze, Technologien oder Stile - alles, was in meinem Leben Spielregeln verändert hat. De facto sind diese Listen unendlich, da jeder Aspekt von Spezialisten grenzenlos zu vertiefen wäre. Wie sie hier stehen, sind sie wildwüchsige Sammlungen von etwas Neuem, das nun nicht mehr neu ist oder gar nicht mehr da, und wenn sie mir zu etwas dienen, dann eher zur Perspektivierung meiner Erfahrungen hier, auf Erden.
Mit dem fünfzigsten Geburtstag empfand ich erstmals jedes Jahr mehr deutlich auch als ein Jahr weniger. Dass ich dieses Verhältnis empfindlich zu spüren beginne, ist sicher der eigentliche Grund für die Entstehung dieser Listen. Speziell die erste erweckt bei jedem Wiederlesen unwillkürlich Freude, denn sie führt zu Erinnerungen, weil die angeführten Dinge oft banal sind. Es ist vor allem ein Staunen darüber, was ich alles erlebt oder mitvollzogen, beobachtet und entdeckt habe, ohne mir dafür die geringste Mühe zu geben; es geschah in der Regel einfach. Und es freut mich natürlich, dass die Zahl der Dinge, die in meiner Lebenszeit hinzu kamen, zahlreicher und auch fundamentaler zu sein scheinen als jene, die verschwinden. Bei vielem habe ich mich auch getäuscht – Münztelefone gibt es noch, Autozüge, Omas Wachstuchtischdecke und den Fleischwolf auch. Man selber verliert die Dinge schneller als die Zeit.
Douglas Adams hat drei Gesetze für unsere Reaktion auf Technologien beschrieben. Erstens: Alles, das was zum Zeitpunkt unserer Geburt bereits vorhanden war, wird als Bestandteil der natürlichen Ordnung empfunden. Zweitens: Alles, was in der Zeit zwischen dem fünfzehnten und fünfunddreißigsten Lebensjahr erfunden wurde, ist aufregend, revolutionär und fördert vielleicht sogar die eigene Karriere. Drittens: Alles, was nach unserem 35. Geburtstag erfunden wurde, verstößt gegen die natürliche Ordnung der Welt und wird abgelehnt. Ich habe überlegt, meine Liste diesem Muster folgend zu ordnen, aber es wäre mühsam und streitbar, und letztlich nur eine von vielen Möglichkeiten, mit diesen Erinnerungen umzugehen. Die Listen führen auch und vielleicht gerade in all ihrer Unordnung vor Augen, wie schnelllebig die Zeit ist, wie subjektiv sie erlebt wird. Ich bin überzeugt, dass die verschwundenen Dinge interessanter sind, weil man mit ihnen auf eine stille Weise weiterlebt, die immer unteilbarer wird. Diese Liste ist für jemanden aus Ostdeutschland mit Sicherheit länger. Aber Douglas Adams zweites Gesetz wirkte in Ost und West gleichermaßen und schafft mehr Gemeinsamkeiten im Rückblick als man glaubt. Und natürlich ist jede dieser Listen nur ein Anfang. Jeden fordert sie heraus und jeder kann sie fortsetzen.
Ich glaube nicht, dass 1966 ein Wendejahr war oder irgendeine besondere Signifikanz besitzt. In den USA begann die Ausstrahlung von Star Trek und John Lennon sagte in einem Interview, die Beatles seien nun populärer als Jesus. Es war einfach das Jahr, in dem ich zur Welt kam und wie lange das her ist, empfand ich selten stärker als im Nachklang zu eben jenem Geburtstag.
Die Fortschreibung dieser Listen ist durch Zusendung von Vorschlägen per Mail an diese Post-Adresse möglich. Ich werde die eingehenden Begriffe nach und nach einarbeiten, so dass die Liste weiter wächst.
in DIE ZEIT Nr. 14/17 hier.