«Als ob Kirkes und Calypsos Lieder hier nie verstummen»

Interview mit Ulrich Deuter

 

 

Ulrich Deuter: Die »Odyssee Europa« ist eines der zentralen Schauspiel-Ereignisse der Kulturhauptstadt Essen/Ruhrgebiet. Nun kann es nie falsch sein, sich an Säulen anzulehnen, deren Fundament die Götter selbst gelegt haben. Doch bei der Treue der unbestechlichen Penelope gefragt: Was hat das profane Ruhrgebiet des 21. Jahrhunderts mit den Irrfahrten des Königs von Ithaka vor 2.800 Jahren zu tun?

Thomas Oberender: Es waren in den letzten hundert Jahren sicher nicht die Könige, die im Ruhrgebiet gestrandet sind, sondern Menschen, die Arbeit suchten. Odysseus war ein unfreiwilliger Migrant, jemand, den es wider Willen in die Ferne verschlagen hat und der selber verschlagen war, listenreich und vielgewandt. Er musste sich durchschlagen und ist von all denen, die mit ihm aufgebrochen sind, der einzige, der überlebt und er beweint sein Schicksal bitterlich, bevor ihn die schöne Königstochter der Phaiaken reich beschenkt zurück nach Ithaka reisen lässt. 

UD: Aber eben nicht ins Ruhrgebiet…

TO: Dass es im Kulturhauptstadtjahr das Projekt »Odyssee Europa« gibt, war eine Idee der Theaterleute des Ruhrgebiets – scheinbar empfinden sie selbst eine gewisse Analogie. Das Ruhrgebiet ist etwas Künstliches und Reales zugleich, ein unübersichtlicher Großraum, der einen ständig mit der Frage nach Herkunft und Heimat konfrontiert. In seinem Autobahngewirr, Verkehrsverbund und den ineinanderfließenden Vororten, Siedlungen und Industriegebieten kann man wie Odysseus leicht verloren gehen. Zugleich verführt das Ruhrgebiet wie keine andere Region Deutschlands zum Bleiben. Und noch immer gibt es hier einen ganz besonderen Stoffwechsel zwischen dem Eigenen und der Welt. Es ist das Land der stählernen Riesen, der Ort, an dem wir von verbotenen Früchten essen und die Erinnerung an die Vergangenheit und Heimat verlieren, mit einer Unterwelt, aus der die Rückkehr fraglich ist – es bedarf nur einer leichten Verschiebung der Perspektive, und wir sind mittendrin.