«The Rocking Chair»
Ein Gespräch mit Jon Fosse über Peinlichkeit und Wahrheit
20. April 2004, Zürich
Thomas Oberender: Jon, über dich findet man im Netz die unterschiedlichsten Angaben - Geburtsjahr und Ort differieren. Ist das Teil einer Künstlerlegende oder können wir das richtigstellen?
Jon Fosse: Ich weiß nicht, warum das so ist. Aber, ja, geboren wurde ich 1959 in einer kleinen Stadt in Westnorwegen, Haugesund. Dort habe ich allerdings nie gelebt. Meine Mutter hat mich in Haugesund zur Welt gebracht, sie stammt aus einer Kleinstadt in der Nähe. Aufgewachsen bin ich in Strandebarm, einer kleinen Stadt in einer Region, die man Hardanger nennt. In dieser Gegend gibt es viele kleine Farmen. Mein Vater besaß solch ein kleines Anwesen, wenig Land, nicht groß, zwölf Hektar landwirtschaftlich genutzer Fläche und eine Menge unkultivertes Land. Auf diesem Anwesen standen einige Häuser, es war schwer, von diesem Grundbesitz zu leben. Seit dreihundert Jahren gehört das Gut der Familie und mein Vater versuchte sein Glück, indem er dort eine Obstplantage anlegte. Aber das hat nicht funktioniert und er musste einen anderen Weg finden, um Geld zu verdienen.
Für die gesamte Gegend gab es einen kleinen Laden mit Waren für den täglichen Bedarf - von Lebensmitteln bis zum Staubsauger und Werkzeug. Immerhin hatte der Laden vier Etagen, daran erinnere ich mich, und dort wurde mein Vater einer der Angestellten. Er hat ganz durchschnittlich verdient, am Anfang noch etwas weniger. Der Laden war eine Kooperation und als ich dort aufwuchs, war mein Vater Geschäftsführer, sein Gehalt war also nicht schlecht und davon bestritt die Familie ihr Auskommen. An das Geschäft kann ich mich gut erinnern, ich habe dort viel Zeit verbracht. Ich hatte eine schöne Kindheit.
TO: Wenn man deine biografischen Aussagen liest, dann fällt einem zuerst dieser Unfall ein, eine Nahtoderfahrung, von der du gesagt hast, ab da hättest du gewußt, du seist ein Schriftsteller, mit sieben Jahren. Und später eine Art religiöses Erlebnis, du sagst, du warst zwölf, und dann der Austritt aus der norwegischen Kirche mit 16 - recht markante Erlebnisse für eine Kindheit.
JF: Oh, dieser Anschein trügt. Ich hasse diesen Eindruck von Düsternis und Verzweiflung, der da vermittelt wird. Es war das ganze Gegenteil - ich hatte viele Freunde. Wir waren viele Kinder, nicht in meiner Familie, ich habe zwei jüngere Schwestern, aber in der Gegend und wir haben den ganzen Tag miteinander gespielt, wir konnten tun und lassen, was wir wollten, sehr frei, immer zusammen. Eine Kindheit auf dem Land, sehr schön.
TO: Dieser Unfall spielt also keine bedeutende Rolle.
JF: Nein, meine Kindheit verlief wie gesagt vollkommen normal und glücklich. Es stimmt, es gab diesen Unfall. Und, wie soll ich sagen, eine damit verbundene Erfahrung. Durch diesen Unfall spürte ich das erste Mal: Du stehst abseits. Das war die Erfahrung, auf die ich mich später bezogen habe, wenn ich über meine Existenz als Schriftsteller nachgedacht habe: Dass man plötzlich auf das Leben wie von außen schaut. Mit Abstand und einer Art Verständnis oder Einblick. Aber nach diesem Erlebnis fühlte ich mich weder einsam noch abgesondert. Ich meine, ich bin sicher eine Art Einzelgänger, zugleich hatte ich aber immer viele Freunde und habe sie noch. Das ist etwas anderes. Es gibt beiden Seelen in mir - der Sonderling oder loner, sicher, und zugleich den Gemeinschaftsmenschen, ich brauche die anderen und genieße das.
TO: Wie würdest du diesen Zustand, Schriftsteller zu sein, beschreiben?
JF: Ich weiß nicht. Einer Art Traurigkeit, die hat wahrscheinlich mit dem Unfall zu tun - er hat mich damit in Berührung gebracht, ohne dass ich sagen würde, mein ganzes Leben habe sich verdüstert. Nein, es ist diese Art Traurigkeit, die sich einstellt, wenn man das Leben mit Abstand betrachtet. Schwierig zu beschreiben. Ibsen hat einmal gesagt: Ich bekam das Geschenk der Traurigkeit, und das machte aus mir einen Dichter. Das trifft es ganz gut. Es ist eher ein Daseinszustand - kein Empfinden, das sich durch das einstellt, was man sieht. Eher dadurch, wie man das Leben sieht. Damit hat es etwas zu tun: Mit dem Abstand. Aber es ist lächerlich, darüber zu sprechen, denn diese Erfahrung macht mehr oder weniger jeder, der schreibt, nichts Besonderes: Man steht mitten drin und sieht dennoch auf das Leben, als stünde man darüber. Für meine Stücke wurde das sehr wichtig, sie funktionieren genau so - in ihnen hat nicht der eine oder der andere Recht. Wenn man die Sache von innen und jede Figur für sich betrachtet, hat sie natürlich Recht. Aber so sehe ich das nicht. Ich sehe das von beiden Seiten, aus einer dritten Position heraus, mit Abstand und diese Distanz setzt jeden ins Recht. Ich denke, diese dritte, ganz undefinierte Position ist für das dramatische Schreiben sehr wesentlich. Als Romancier betrachtet man die Sache zum Beispiel eher von dem einen oder anderen spezifischen Standpunkt aus, oder als eine Mischung dieser oder jener Perspektiven.
TO: Warst du ein guter Schüler?
JF: Ich hasste die Schule, es war furchtbar, ich war furchtbar. I must have been a pain in the ass of my teachers. Ich machte nichts, was verlangt wurde. Ich erinnere mich an einen Englischlehrer - wir schrieben wöchentlich Arbeiten und er hat ein Jahr lang nichts von mir bekommen. Ich war aufsässig und einfach unausstehlich, ein grauenhafter Schüler.
TO: Du hast dennoch studiert und später sogar Unterricht an der Akademie für Kreatives Schreiben in Hordaland gegeben, wie kam das?
JF: In meiner Familie gab es zwar eine Art von intellektueller Tradition, aber es hat nie jemand studiert oder versucht, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Wie gesagt, ich hasste die Schule, aber liebte es zu schreiben. Nur habe ich das aufgeteilt: Was ich in der Schule zu schreiben hatte, empfand ich als etwas anderes - nicht als Schreiben, denn das war etwas, das ich ausschließlich für mich selbst tat. Schon von frühester Kindheit an und später begann ich zu lesen. Ich las sehr wenig von dem, was sie von mir in der Schule als Lektüre verlangten, aber ich las andere Sachen! Es gab ein Lesen neben der Schule, nur für mich, um mich selbst zu bilden. Es war diese Lust am Lesen, die mich aufs Gymnasium führte. Nur in der Tat war es so, dass ich zuerst mit dem Schreiben begann und erst danach fing ich an zu lesen – ich vermute, weil ich sehen wollte, wie die großen Autoren geschrieben haben. Nach den neun Jahren Grundschule hatte ich jedoch so miserable Noten, dass mich kein Gymnasium nehmen wollte. Daher besuchte ich einen Kurs, mit dem man sich aufs Gymnasium vorbereitete, damals gab es das noch. Ich verbesserte meine Noten in diesem Sonderjahr und wurde schließlich aufgenommen. Von da an war alles anders. Ich wurde ein guter Schüler und hatte in den drei Jahren auf dem Gymnasium hervorragende Noten.
TO: War das der Beginn des Erwachsenwerdens?
JF: Um aufs Gymnasium zu gehen, habe ich mit sechzehn meine Familie verlassen. Es wurde eine harte Zeit. Ich hatte Streit mit meiner Mutter und habe sie drei Monate nicht besucht. In diesem Herbst fühlte ich mich sehr einsam. Während des ersten Jahres auf dem Gymnasium schrieb ich meinen ersten Roman. Ich habe ihn nie jemanden lesen lassen und er liegt noch immer in der Schublade. Er entstand nur fürs eigene Wohlbefinden. Mit siebzehn bin ich mit einem Mädchen zusammengezogen. Wir blieben viele Jahre zusammen und haben später geheiratet. Als ich zwanzig wurde, bekamen wir ein Kind, meinen ältesten Sohn, er ist heute zweiundzwanzig. Als meine Freundin schwanger wurde, waren wir beide noch Schüler. Wir mussten uns eine Wohnung suchen und alles war sehr schwierig. Nach dem Gymnasium sind wir nach Bergen gezogen und haben studiert. Meine Freundin kam aus der Nähe von Bergen. Ich studierte zunächst ein Jahr Soziologie.
TO: Warum Soziologie?
JF: Am Gymnasium habe ich viele soziologische Bücher gelesen und ich empfand, dass sie mir eine Perspektive eröffneten, die das Leben transzendiert. Darüber wollte ich mehr lernen. Aber ich muss gestehen, dass ich enttäuscht wurde. Ich mochte es, die Klassiker zu lesen, Max Weber und die anderen, aber deren empirische Geisteshaltung wirkte auf mich weniger und weniger traszendierend, sondern eher konformistisch. Ich glaube, ich wollte keine Methoden gebrauchen müssen, um mit Texten zu arbeiten. Danach begann ich, Philosophie und Literaturwissenschaft zu studieren. Zur gleichen Zeit schrieb ich. Als ich mit dem Studium anfing, fing ich auch an, für eine kleine Tageszeitung in Bergen alle möglichen journalistischen Texte zu verfassen. Mein Sohn kam zur Welt, ich musste Geld verdienen. In dieser Zeit entstanden bei mir überhaupt keine literarischen Texte mehr. Doch dann schrieb ich eine Kurzgeschichte, beteiligte mich an einem Literaturwettbewerb, den eine Studentenzeitung in Bergen organisierte und gewann den ersten Preis. In dieser Geschichte habe ich erstmals in jenen repetativen Stil verwendet, der später für mich so typisch werden sollte. Von diesem Erfolg ermutigt, setzte ich mich nieder, mit zwanzig Jahren, und schrieb meinen ersten Roman. Ich war mir sicher, dass ihn niemand veröffentlichen würde, aber zu meiner großen Überraschung wollte der Verleger, dem ich das Manuskript geschickt hatte, ihn tatsächlich herausbringen. Doch es dauerte einige Jahre, bevor das dann wirklich geschah. Der Roman heißt Rot, schwarz und erschien 1983 und ich war inzwischen dreiundzwanzig. Nach fünf Jahren Studium musste ich schließlich zum Zivildienst. Danach studierte ich für zwei weitere Jahre Literaturwissenschaft und schrieb dann meine Abschlußarbeit. Alles in allem studierte ich insgesamt sieben Jahre, für Norwegen eine normale Studienzeit und man lebt in dieser Zeit ein sehr freies Leben. Auch wenn ich gelesen habe und meine Prüfungen machte, ging ich nur selten zu den Lehrveranstaltungen. Seit mein erster Roman erschien, um ehrlich zu sein, seit ich zwanzig Jahre alt wurde, war ich in erster Linie ein Schriftsteller. Meine Abschlüsse musste ich allerdings machen, denn wir lebten in einer Studentenwohnung, mein Sohn besuchte einen Kindergarten für Kinder von Studenten und ich war von der finanziellen Unterstützung abhängig, die ich als Student erhielt. Aber ich würde mich dennoch nicht als einen besonders cleveren Studenten bezeichnen, in keinerlei Hinsicht.
TO: Welche Philosophen wurden für dich wichtig?
JF: Am meisten hat mich Heidegger beeindruckt, ihm fühle ich mich am nächsten. Mit der Lektüre von Heidegger begann auch das Erlernen der deutschen Sprache, denn obgleich ich Heidegger zunächst in englischen und schwedischen Übersetzungen kennen lernte, ist es doch so, dass er sich eigentlich nicht übersetzen lässt. Ich habe ihn ein Jahr lang intensiv gelesen und dadurch deutsch gelernt, später las ich dann auch Adorno in deutscher Sprache, seine Ästhetische Theorie las ich allerdings in englisch. Während dieser Zeit habe ich mich zudem mit der französischen Postmoderne beschäftigt, insbesondere mit Derrida aufgrund seiner besonderen Verbindung zu Heidegger.
TO: Hatte dieses Studium Einfluß auf dein Schreiben?
JF: Ich habe mit dem Schreiben sehr jung begonnen. Es besitzt eine Kontinuität in meinem Leben, die immer vorhanden war, also lange vor dem Studium. Seit ich zwölf war, habe ich zudem sehr viel musiziert, geradezu exzessiv, bis ich damit aufhörte. Aber das Musizieren prägte mein Schreiben - mein Schreiben kommt von der Musik. Diese Kontinuität war die Grundlage. Wenn ich also während des Studiums geschrieben habe, hatte das vor allem eine Verbindung zur Musik. Mein Schreiben hat mit Rhythmus, mit Gefühlen und Musik zu tun und ist nicht intellektuell bestimmt oder vorbestimmt. Mein Konzept als Künstler ist davon sehr geprägt - ich schreibe in einer simplen Sprache, mit einfachen Worten und einer starken Musikalität. Die Kunst gehört einer anderen Sphäre an als der Intellekt. Beide Sphären sind zwar verbunden, sie haben eine Beziehung zueinander, aber sie sind nicht dasselbe. Aber wie du gesehen hast, habe ich mich für einige Jahre sehr in die Sprache der Theorien und Konzepte vertieft und ich schrieb auch mehr oder weniger theoretische Essays. Mein erster Essayband mit Texten, die fast alle bereits in anderen Zusammenhängen publiziert wurden, erschien 1989. Zehn Jahre später veröffentlichte ich eine zweite Sammlung, Gnostische Essays, die nach meiner Meinung die Geschichte eines Menschen erzählen, der es aufgibt, in dieser Art zu schreiben.
Seit drei Jahren schreibe ich keine Essays mehr. Überhaupt keine, denn ich glaube, dass ein Gedicht oder ein Stück ebenfalls eine Art zu denken darstellen. Jedoch ein Denken, das mir näher liegt und mich auch mehr beschäftigt als das Denken in der analytischen Form. Ich denke in Stücken. In Gedichten. In der Form des Romans.
TO: Das klingt, als sei Literatur eine Form von Widerstand?
JF: Oh, ich liebte es, in der Opposition zu sein. Oder zumindest liebte ich es, als ich jünger war. Aber um ehrlich zu sein, das beschäftigt mich kaum noch. Ich tue, was ich will. Ja, oder nein, wie es einem gefällt. Aber ich schätze, das ist auch eine Art von Opposition, oder? Man muss wissen, dass es in Norwegen seit den fünfziger Jahren eine sozialdemokratische Regierung gab und die 68er-Bewegung sehr, sehr stark und einflussreich war, besonders an den Universitäten und im kulturellen Leben überhaupt. In den siebziger Jahren waren es die Maoisten, die an den Universitäten den Ton angaben und wer damals zu sagen wagte, dass die Literatur ein Wert an sich sei, d.h. ihren Wert in sich trägt und nicht aufgrund einer politischen Stellungnahme erlangt, der irrte sich halt und machte sich unmöglich. Es war eine extrem polemische Situation und ich lehnte dieses Diktat der Politik von Grund auf ab. Es war schwierig, wenn man damals, in der Beschäftigung mit der Literatur, Raum für etwas anderes suchte. Als Autor mochte ich es immer, in der Opposition zu sein. Während der achtziger Jahre haben ich und andere norwegische Autoren versucht, einen Raum für Literatur als Literatur zu schaffen – auch deshalb habe ich in den Achtzigern Essays geschrieben. Inzwischen muss man das, zumindest wegen solcher Gründe, nicht mehr tun.
TO: Trägst du schon immer langes Haar?
JF: Es wurde mit den Jahren kürzer und jetzt fällt es aus. Eine Stimme sagt, es wird kürzer und kürzer… Mit vierzehn war ich eine Art Hippie und jetzt, jetzt ist es nicht kurz und nicht lang. So dazwischen.
TO: Wie hieß die Band, in der du gespielt hast?
JF: Die Namen haben mehrmals gewechselt. Am erfolgreichsten waren wir als «Rocking Chair». Wir spielten am Wochenende in kleinen Gemeindesälen, die man für die verschiedensten Anlässe genutzt hat, u.a. für Tanzabende am Wochenende. Ich war damals dreizehn oder vierzehn.
TO: Hast du dich als Musiker genauso gefühlt wie später als Autor?
JF: Ich war kein guter Musiker, auch deshalb habe ich damit aufgehört. Beim Schreiben funktionierte das anders. Ich habe zwei Seiten in mir - die Schreibmaschine, die unentwegt arbeitet, mich am Laufen hält, mir die entscheidende Energie gibt und mich euphorisiert, wenn eine Art Fluss entsteht, wenn es läuft. Und andererseits gibt es Phasen absoluter Passivität und Verdüsterung. Es ist ein Pendeln, hin und her. Ich fühle mich nicht krank, keineswegs, aber wenn ich eines Tages krank werden sollte, so ganz sicher aufgrund einer Depression. Nur ist das keine besonders mitteilenswerte Feststellung, das kannten Autoren der ganzen Welt zu jeder Zeit, denn viele Leute, die schreiben, sind so. Recht typisch, eigentlich langweilig. Die glücklichsten Momente sind die, wenn Gott mit dir ist, wenn du - schreibst, die Magie, wenn es funktioniert. Ich denke, ich weiß sehr genau, was ich tue, wenn ich schreibe. Natürlich nur in einer bestimmten Weise, nicht als Wissen im üblichen Sinne, aber als eine Art von Gewissheit, selbst wenn natürlich nicht alles gut ist, was ich schreibe. Meine schlechten Texte sind Gott sei Dank nicht veröffentlicht. Aber grundsätzlich hatte ich immer ein großes Vertrauen in mein Talent. Und normalerweise, wenn ich schreibe, plane ich überhaupt nichts, ich setze mich hin und beginne zu schreiben. Und dann, wenn es mit dem Schreiben gut läuft, weiß ich an einem bestimmten Punkt, dass der ganze Text da ist, es ist alles da, in jeglicher Hinsicht, und ich muss es nur niederschreiben, so schnell wie möglich, bevor es verschwindet. Es ist seltsam. Und weil das so ist, bin ich durch das, was die Kritiker sagen, auch nicht sonderlich verletzbar. Wenn ich das gewesen wäre, glaube ich, hätte ich mit dem Schreiben schon in jungen Jahren wieder aufgehört, denn die Kritiken zu einigen meiner frühen Arbeiten waren teilweise grauenhaft. Wenn ich daran geglaubt hätte, was meine Lehrer mir über meine literarische Begabung gesagt haben, hätte ich mit dem Schreiben nie begonnen. Meine Arbeiten haben die Kritiker immer polarisiert, einige lieben sie, andere hassen sie. So ist das, seit mein erster Roman erschienen ist. Aber ich weiß, was ich weiß.
TO: Als du zu Beginn der neunziger Jahre begonnen hast, Stücke zu schreiben, war das für dich Neuland. Was hat dich am Theater interessiert?
JF: Ich hatte zu Journalisten oft gesagt, dass mich das Theater nicht interessiert. Und so war es auch. Ich ging nicht gerne ins Theater und im Kopf hatte ich diese typischen Klischees von Theaterleuten, von Schauspielern, die auf Partys zu laut lachen, all so was, furchtbar. Dann begann ich Stücke zu schreiben und lernte Schauspieler kennen. Und entdeckte das genaue Gegenteil, alles war anders. Ich bin sehr schüchtern und bemerkte, auch Schauspieler sind schüchtern. Die wirkliche Theaterwelt war das Gegenteil meines Klischees. Doch um ehrlich zu sein, ich gehe nicht sehr oft ins Theater, auch wenn die Gründe, die mich heute ins Theater führen, inzwischen andere sind als früher.
TO: Ich dachte, dass es noch eine andere Verbindung gab, denn ich habe gesehen, dass du Wedekinds «Frühlings Erwachen», Thomas Bernhards «Am Ziel» und auch einen Text von Botho Strauß, den «Brief zur Hochzeit», für das Theater übersetzt hast. Auch Stücke von David Harrower und Lars Norén.
JF: Ich habe übersetzt, um Geld zu verdienen. Da ich nie einen normalen Job hatte, musste ich natürlich eine Menge unterschiedlicher Sachen schreiben. Und ich mag es, zu übersetzen. Ich muss dabei nicht alles selbst erfinden. Das ist erholsam. Und wenn man einen großen Text übersetzt, geht man eine sehr innige Verbindung zu ihm ein, man kommt der Magie seiner Form sehr nahe. In dieser Hinsicht ist das schon ein wenig so, als würde man seinen eigenen Text schreiben, obwohl es immer mein Ziel ist, im Norwegischen dem Original so nah wie möglich zu kommen. Es hat eine Menge damit zu tun, wie man die Überführung einer Form bewältigt – wenn ein Text groß ist, besitzt er immer eine große, verborgene Form. Und auch wenn ich nicht so geschickt im Umgang mit anderen Sprachen bin, mag ich es, dabei zu lernen. Aber natürlich beherrsche ich nicht jede Sprache gut genug, um aus ihr zu übersetzen. Oft denke ich, dass ich überhaupt keine Sprache kenne, nicht einmal meine eigene.
TO: Und die Übersetzungen von Georg Trakl? Deine Texte haben für mich eine Verbindung zu Georg Trakl und Thomas Bernhard - beide waren zunächst Lyriker und schrieben eine musikalische, soghafte Prosa und ähnlich wie bei dir gibt es immer einen Sound.
JF: Georg Trakl war der erste Dichter, der mich wirklich erwischt hat. Er hat viel Atmosphäre. Ich habe Rimbaud gelesen, weil ich wusste, dass er ein großer Poet ist und verstehen wollte, warum er so gut ist. Als ich Trakl las, verstand ich alles ganz unmittelbar und sofort, zumindest war das mein Gefühl und vielleicht war es falsch, aber er war mir selbstverständlich und es entstand eine direkte Kommunikation zwischen seinen Texten und mir. Ich war jung, als ich ihn entdeckte, vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Zuerst hatte ich einzelne Gedichte auf Schwedisch gelesen, einige gab es auch auf Norwegisch. Große Poesie, große Musik! In meinem ersten Gedichtband, er ist 1986 erschienen, habe ich Paraphrasen auf seine Gedichte veröffentlicht, keine wirklichen Übersetzungen, ich hatte sie zwar Zeile für Zeile mit dem Wörterbuch übersetzt und dann versucht, sie auf meine Art neu zu schreiben, aber es entstanden Versionen seiner Gedichte - Transformationen nach Georg Trakl habe ich sie genannt. Es ist zwanzig Jahre her, dass ich ihn gelesen habe; er war der erste Dichter, den ich liebte. Als ich das erste Mal Thomas Bernhard las, hatte ich bereits vier Romane und zwei Gedichtbände veröffentlicht. Ich werde nie irgendeinen größeren Einfluss von seiner Seite auf mein Schreiben eingestehen. Denn dieser von Wiederholungen geprägte Schreibstil und all das kann man in meinen Texten seit jener ersten Kurzgeschichte entdecken, mit der ich 1981 diesen Wettbewerb gewann.
Als ich Thomas Bernhard zum ersten Mal las, fühlte ich, dass ich einen Freund gefunden hatte. Und wenn du mich fragst, so ziehe ich seine Romane den Stücken vor. Bei Beckett ist das zum Beispiel genau andersherum.
TO: Es gibt mehrere Texte von Georg Trakl, die scheinbar direkt auf dein Stück «Winter» verweisen, etwa sein Gedicht «Winternacht», oder das plötzliche Erkennen, das er in «Einer Vorübergehenden» beschreibt.
JF: Nein, es gibt keinen direkten Bezug. So etwas mache ich nie. Eine Journalistin hat mir unlängst gesagt, mein Stück Winter besitze eine gewisse Ähnlichkeit mit Koltès Die Einsamkeit der Baumwollfelder, aber ich habe das Stück nie gelesen, obwohl ich andere Stücke von Koltès kenne. Später ist mir eingefallen, dass ein befreundeter Regisseur mir von dem Stück erzählt hatte, weil er sich gerade mit dem Gedanken trug, es zu inszenieren. Er hat es mir detailliert und auf eine sehr berückende Art beschrieben und nun frage ich mich, ob das nicht doch einen Einfluss gehabt haben könnte. Sicher hat alles, was man irgendwann einmal mit einer gewissen Intensität gelesen hat, eine heimliche Wirkung auf das eigene Schreiben. Aber ich habe bei Winter ganz gewiss nicht an Trakl gedacht, nicht im Entferntesten, obwohl ich, ja, ich erinnere mich an Winternacht. Es kann immer sein, dass man etwas kopiert, ohne es zu bemerken, diese Angst bleibt. Wobei - Angst würde ich das nicht nennen: Ich denke, Literatur ist Literatur, sie gehört zu etwas Größerem als den individuellen Texten und die individuellen Texte der Literatur sprechen auf diese oder jene Weise immer miteinander, selbst wenn diese Texte nichts voneinander wissen, in dieser Hinsicht stimme ich mit der postmodernen Lehre überein. Literatur, oder das, was ich Literatur nenne, ist das, was mich eigentlich interessiert – viel stärker als der eine oder andere Text. Und aus diesem Grund, das ist die Wahrheit, kümmere ich mich in einem bestimmten Sinne gar nicht so sehr um mich selbst. Das Paradox besteht darin, dass es sich bei guter Literatur zur gleichen Zeit um etwas sehr Universelles und zugleich um etwas sehr Besonderes handelt, immer idiosynkratisch. Aber diese Idiosynkrasie gehört als Eigenart einer tieferen Ebene an als das Individuelle oder Persönliche. Diese spezifische Qualität, die Literatur zur Literatur macht, hat keinen Namen. Und ich denke, das kommt daher, weil es unmöglich ist, sie zu benennen – sie befindet sich immer dazwischen, ist nicht individuell und nicht universell, ist nicht konkret und ist nicht abstrakt.
TO: Dein literarisches Verfahren hast du als eine «Annäherung an das Schöne durch das Negative» beschrieben. Du erzeugst Leere, damit etwas anwesend wird und einer deiner Aufsätze heißt dementsprechend «Negative Mystik». Kannst du dieses Verfahren etwas näher beschreiben?
JF: Es gibt ja dieses amerikanische Sprichwort: Think positiv. Dieses Motto ist die größte Dummheit, die man sich denken kann. Man muss den anderen Weg gehen, genau entgegengesetzt. Es gibt keinen direkten Weg zur Schönheit oder zur Wahrheit. Auch in der Politik nicht. Das ist die Agonie des Lebens, du kannst nicht auf das Positive zugehen. Man muss diese Leere erzeugen, dann geht es vielleicht. Die Politik sollte sich um Wohnungen kümmern, Straßen und Kindergärten, sollte allen Menschen ein anständiges Leben ermöglichen, sich um ihre Grundbedürfnisse sorgen und auch um all die Dinge, die besondere Werte und Qualitäten besitzen, Kunst zum Beispiel. Wobei sich die Politik nicht mit Utopien beschäftigen sollte. Doch wenn ich mich selbst so sprechen höre, habe ich das Gefühl, ich könnte etwas Falsches sagen. So einfach ist es eben nicht und ich sollte nicht über etwas sprechen, von dem ich nichts verstehe. Ich bin bloß ein einfacher Autor. Und ich will nichts anderes sein. Ich will mich nicht einen Christen nennen, genauso wenig wie ich mich einen Nicht-Christen nennen möchte, ich will mich nicht einen Sozialisten nennen, genauso wenig einen Nicht-Sozialisten. Ich bin lediglich ein Autor.
TO: Du nennst dein Stück «Winter». Woran denkst du dabei?
JF: Das ist mehr oder weniger ein Zufall. Das Stück heißt Winter, Schluss aus, ohne Begründung. Meine letzten Stücke hießen Sommertag - im Original heißt das Stück eigentlich Ein Tag im Sommer - in der deutschen Übersetzung entfällt die Anspielung auf Shakespeare, die es im Englischen besitzt, dann Traum im Herbst und nun Winter. Das einfache Wort «Winter» hat gepasst. Winter, alles ist weiß, es ist kalt, Schnee, die Schönheit des Schnees. Mit dem Titel habe ich nicht viel gewollt. Das Spiel ist aus. Aber es gibt noch ein verborgenes Feuer, das Leben ist noch da. Und dieser Titel bezieht sich auf die anderen zwei Titel. Die drei Stücke gehören für mich zusammen und erzählen jedes auf seine Weise eine Art Love-Story, und sicher kann man diese Titel metaphorisch verstehen. In meinen Stücken gibt es aber sehr wenige Metaphern. In Winter gibt es keine einzige, mit Sicherheit nicht. Ich mag keine Metaphern, auch wenn ich sie in den Werken anderer Autoren schätze. Ein gutes Stück ist seine eigene Metapher, deshalb enthalte ich mich gerne aller Metaphorik, genauso auch in meinen Gedichten und Romanen. Doch der Titel ist eine Metapher und das Stück als ganzes ebenfalls.
TO: Wenn du sagst, jedes deiner Stücke erzeuge eine eigene Welt und für jede dieser Welten gelten eigene Regeln – könntest du dann diese Regeln für «Winter» beschreiben?
JF: Ganz sicher nicht. Vielleicht können das andere, klügere als ich, ich bin sicher, es gibt dieses Reglement für jeden meiner Texte, aber ich kann die Regeln nicht benennen. Ich glaube, sie haben sehr viel mit dem zu tun, wovon ich bereits gesprochen habe – wenn der Text plötzlich da ist, vollkommen fertig geschrieben, irgendwo anders. Jeder Text erzeugt einen eigenen Kosmos und folgt seinen eigenen Regeln. Als ich davon sprach, dachte ich an Wittgenstein, seine Theorie der Sprachspiele und der sie bestimmenden Regeln, aber ich kann sie nicht bestimmen. Und dieses Konzept der «Regeln» ist etwas, das ich schon als Wort wirklich nicht mag. Im Schreiben habe ich lediglich ein Gefühl für Grenzen. Wie Adorno sagt - da sind eine Menge von «Neins», ich treffe Entscheidungen und normaler Weise fallen sie nicht bewusst, sondern eher halbbewusst – ich habe einmal gesagt, schreiben ist träumen in wachem Zustand, und auf diese Weise komme ich also vor allem zu Entscheidungen, was ich nicht machen will und versuche, diese und jene Fehler zu vermeiden, aber es läuft eben eher auf diese Weise, von einem «Nein» zum nächsten, blind und trotzdem einer bestimmten Struktur gegenüber völlig gewiss. Deshalb schreibe ich auch in einer Form, die ständig mit der Grenze kämpft. Es sind keine ausgeschriebenen oder «gekonnten» Texte. Sie haben diesen Widerstand und zugleich ihre eigene Musik. Zum Beispiel in meinem Stück Der Name, da gibt es diesen Monolog des Jungen, ziemlich in der Mitte, ziemlich lang. Das war eine Ausnahme, denn das ist ein vollkommen ausgeschriebener, in seiner Art oder im Kontext meiner Stücke absolut virtuoser Text. Das mache ich nie wieder. Ich bin sehr froh über diesen Monolog, doch ich erlaube es mir sehr selten, so etwas zu schreiben. Das Gutgeschriebene verbiete ich mir, es ist lediglich eitel, man will zeigen, wie geschickt man ist. Vielleicht könnte man tatsächlich sagen, dass ich meine Arbeit für eine gescheiterte oder verhinderte Sprache geöffnet habe. Doch selbstverständlich ist dann das Kunstwerk als solches nicht gescheitert. Für manche Menschen ist das sicher schwer zu verstehen. Wenn man für ein Kunstwerk eine schlechte Sprache verwendet, sagen sie, Gott, wie schlecht er schreibt.
TO: Interessiert dich «Peinlichkeit» als Kategorie?
JF: Ich wollte nicht peinlich sein, es ist furchtbar, wenn man im Theater etwas Peinliches sieht, peinlich - aber es ist eine Last, die man auf sich nehmen muss. Man muss es tun, wenn man diese Zone nicht streift, dringt man nicht weit genug vor. Doch wenn ich ihr nahe komme, möchte ich mich jedes Mal verstecken, aber man muss sie streifen - man kann nicht die Wahrheit schreiben, ohne die Peinlichkeit mitzunehmen, sie hat etwas damit zu tun. Peinlichkeit und menschliche Wahrheit gehören zusammen, das eine ist ohne das andere nicht zu haben, es sind zwei Seiten einer Medaille. In meinem Roman Melancholie geht es um sehr viele peinliche Dinge und im Leben ist es oft klug, über Peinlichkeiten nicht zu sprechen. Die Kunst aber sollte sie nicht aussparen.
Als ich André Jung in der Züricher Aufführung von «Winter» sah, fiel mir noch ein anderes Wort ein, das ich oft mit den Figuren in deinen Stücken verbinde - «Erbärmlichkeit». Die Schwierigkeiten dieses Mannes, seine Unbeholfenheit in der Begegnung mit der jungen Frau - alles, was er tat, war zu viel oder zu wenig und wirkte zugleich erbärmlich im Sinne von erbarmenswürdig.
Wenn man von der Perspektive aus schreibt, die ich einnehme, urteilt man nicht. Ich schreibe nur ein «Bild», um es so zu nennen. Es ist nicht der Versuch, beispielsweise ein «erbärmliches» Bild zu schreiben, ich bevorzuge es vielmehr, mich beim Schreiben darum zu bemühen, nichts erreichen zu wollen; wenn ich mir jedoch ansehe, was ich geschrieben habe, sozusagen von draußen, kann ich entdecken, dass davon etwas in dem, was ich geschrieben habe, enthalten ist. Und wenn ein Stück gut inszeniert ist, gibt es sicher Momente des Mitgefühls. Und großer Traurigkeit. Genauso wie es auch Momente komischer Erleichterung gibt, die damit ebenfalls verbunden sind. Wenn ein Stück gut gemacht ist, ist auch das Lachen «erbärmlich».
TO: Womit hat man Erbarmen?
JF: Etwas, das zu uns gehört. Etwas, das man beschützen oder behüten will. Es hat mit Liebe zu tun.
TO: Wenn du sagst, dass dich der «bourgeoise Kontext» deiner Figuren nicht interessiert, dass du ihn deshalb weglässt, genauso der «bourgeoise Konsens», den du mit dem Theater verbindest, was meinst du mit «bourgeois»?
JF: Wenn ich im Theater war, insbesondere in Bergen, wo ich noch immer lebe, obgleich ich, wie du weißt, in einer anderen Kultur aufgewachsen bin und also einer von denen war, die von den ländlichen Gebieten außerhalb der Stadt gekommen sind und deshalb von den Leuten aus Bergen mit Herablassung betrachtet wurden, obgleich sich das inzwischen aus den verschiedensten Gründen geändert hat, dann hatte ich das Gefühl, diese Menschen sind im Theater, um zu zeigen, dass sie «dazugehören». Die Leute wollten keine Erfahrung machen, sondern sich ausstellen, demonstrieren, dass sie zu einer kleinen sozialen Gruppe der besseren Menschen zählen und mit dem Theaterbesuch legen sie dafür ein Zeichen an. Man geht ins Theater, um - mit Pierre Bourdieu gesprochen - einen kleinen Unterschied zu markieren. Andere Leute gehen Golf spielen, wieder andere kaufen sich eine Galerie. Und das Theater spielt in diesem Spiel einer Rolle.
Wenn du Stücke schreibst, verwendest du eine große Aufmerksamkeit auf die soziale Position der Figuren. Genau wie das Publikum. Auch das bourgeoise Publikum rastert sein Gegenüber auf soziale Statusmerkmale ab. Doch diese Zuordnung wollte ich nicht mitmachen, dieses Spiel wollte ich unterbrechen: Ich wollte nicht, dass die Frau, deren Mann der Chef der Bank ist auf der Bühne eine Frau sieht, deren Mann der Chef einer Bank ist. Genau das, eins zu eins, bedient das Theater, wenn das Theater dieses Spiel mitspielt: Sieh das, lies das, verstehe das Zeichen, du bist gemeint, du bist bezeichnet. Ich fand es so dumm, dass jener Mensch bedeutend ist, ein anderer jedoch nicht. Viel lieber wollte ich jene Bereiche zeigen, in denen wir alle gleich sind. Wo es «peinlich» für uns alle ist. Ein paar Leute aus der «besseren Gesellschaft» darüber zum Lachen zu bringen, wie dumm die «einfachen Leute» sind, ist ziemlich dämlich und oft läuft der sozialen Realismus genau darauf hinaus. Tatsächlich spielen ein paar meiner Stücke in einem Milieu, das man Arbeiterklasse nennen könnte, andere wiederum nicht, denn die soziale Verortung an sich war für mich nie das Entscheidende. Ich wollte eher zeigen, seht: so sind die Leute der Arbeiterklasse, und so sind auch bürgerliche Leute. Natürlich hat all das etwas mit Qualität zu tun. Ich bin sicher, es gibt gute und schlechte Kunst, doch das ist eine Frage der Qualität, nicht der sozialen Position.
TO: Trotzdem haben deine Figuren eine klare soziale Position. Wie entkommt man der Komplizenschaft mit der bourgeoisen Gesellschaft?
JF: Vielleicht kann ich es so sagen: Als Dramatiker schreibe ich darüber, wie sich Menschen gegenseitig kreieren, ich beschreibe die soziale Dynamik des Lebens. Und vielleicht war mein Interesse daran auch der Grund dafür, dass ich vor langer Zeit anfing, Soziologie zu studieren. Aber normalerweise lege ich, während ich schreibe, keinen besonderen Wert auf soziale Zeichen – sie sind da oder nicht da. Im Allgemeinen reduziere ich die individuelle soziale Charakteristik meiner Figuren sogar derart, dass ich meinen Figuren nicht einmal Namen gebe. Ich bevorzuge eine soziale Schicht, in der die soziale Schicht keine Rolle spielt. Vielleicht hat das etwas mit dem hohen Lebensstandard in Norwegen zu tun. Norwegen ist eine Wohlstandsgesellschaft. Es gibt eine breite Mittelschicht, die spielt dieses Spiel, aber es gibt auch Menschen, die betrifft das nicht. Die sehr reichen Leute sind ja zum Beispiel dahingehend auch viel gleichgültiger. Wer sehr viel Geld hat, kauft sich zerrissene Jeans und nimmt Drogen wie die Armen. Ich selbst bin nie wirklich arm gewesen, aber natürlich, da ich, seit ich erwachsen bin, versuche, meinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben zu verdienen, gab es Zeiten, in denen ich ziemlich arm war.
TO: Diese Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen sozialen Position fällt mir zum Beispiel auch an den Stücken von Marguerite Duras auf - alle sind wohlhabend. Man hat Geld, das Leben verläuft äußerlich betrachtet erfolgreich dennoch sind diese Leute mit nichts anderem beschäftigt, als mit ihre Beziehungen und dem ungelebten Leben darin. Botho Strauß sprach einmal von der Not, die vom Wohlstand an aufwärts beginnt. Warum sind deine Stücke bei diesen Leuten so erfolgreich?
JF: Ich fühlte mich nie und war auch nie das, was man wohlhabend nennt, genauso wenig war ich ein armer Künstler. Und ich habe auch nie das Bedürfnis gehabt, zu den Begüterten zu gehören. Das liegt an der Art und Weise, wie ich aufgewachsen bin. Und ich weiß auch nicht, ob meine Stücke bei den Leuten erfolgreich sein, von denen du sprichst. Ich weiß nicht, wer meine Stücke mag. Sicher ist, dass es auch wieder anders kommen wird. Aber selbst dann werde ich der gleiche Autor sein. Oft werde ich gefragt, warum meine Stücke so erfolgreich sind und wenn ich die Antwort geben sollte, die für mich die treffendste und aufrichtigste ist, würde ich sagen: Weil sie gut sind. Das ist zunächst das Entscheidende. Doch Qualität, das weiß ich natürlich, hat nicht allzu viel mit Erfolg zu tun. Es gibt eine Menge großartiger Literatur, die nie in irgendeiner Weise erfolgreich wurde. Der Erfolg hat auch mit vielen anderen Dingen zu tun - dem Zeitgeist zum Beispiel, wir leben nach den großen Ideen, sie haben ihre Kraft verloren. Wahrscheinlich reflektieren meine Stücke diesen Zustand, obgleich ich nicht denke, dass sie das tatsächlich der Zeit verdanken, in der sie entstanden. Aber wir leben jetzt in einem Zustand, in dem etwas anderes an Bedeutung gewinnt. Man ahnt etwas. Ohne es genau benennen zu können. Ich denke, das ist in meinen Stücken genauso. Vielleicht hat es etwas mit einer bescheidenen Ahnung von Religiosität zu tun. Das Leben ist größer als unsere Vorstellung davon. In meinem Schreiben habe ich das manchmal so empfunden - es gibt eine andere Präsenz, die in dieser Tätigkeit plötzlich spürbar wird.
TO: Du hast wirklich einmal gesagt, der Atheismus «sei ein zu einfacher Glaube», als dass du ihm anhängen könntest?
JF: Ich bin ein moralischer Schriftsteller. Was heißt es, Mensch zu sein - das ist, was mich als Moralisten beschäftigt. Es ist eine Moralität ohne politische Ausrichtung. Wenn man diese Moralität verstanden hat, gibt es eine Zone, in der Menschen sich begegnen können und auf der auch die Politik basieren könnte, ohne dass ich irgendwelche praktischen Anwendungen zu empfehlen hätte. Wie gesagt, ich bin nur ein Schriftsteller. Das mag nicht sehr viel sein, doch mir ist es genug. Das ist, was ich zu geben habe. In meinem Schreiben waltet eine große Freizügigkeit. Als Person kann ich hingegen sehr intolerant sein. Nur als Autor bin ich tolerant - jede Figur hat Recht. Doch wenn ich mich selbst so etwas sagen höre, höre ich, dass das nicht die Wahrheit ist, nicht die ganze. Und schon sind wir wieder unterwegs, vielleicht zu einem Stück.
Aus: «Ich will kalt und klar sein /2», Bochumer stücke 32, Bochum 2005