«Die Leute halten Frontalunterricht nicht mehr aus»
Augmented Reality im Theater
von Oliver Kranz
Partizipatives Theater ist keine neue Erfindung. Doch heutzutage geht es bei der Teilnahme der Zuschauer nicht - wie in den 70- und 80er-Jahren - um politische Mitbestimmung, sondern um einen spielerischen Ansatz. Zum Beispiel muss das Publikum aktiv werden, damit die Handlung überhaupt weitergeht. Thomas Oberender, der Intendant der Berliner Festspiele, beobachtet das seit einigen Jahren: »Ich glaube, dass es eine Veränderung nicht nur im Bereich des Theaters, sondern auch der Bildenden Kunst gibt, auch der Musik, die immer mehr dazu führt, dass wir Werkformen beobachten, die nicht dafür gedacht sind, dass man ihnen gegenüber sitzt, sondern dass man in sie eintritt.»
Dabei geht es - im Gegensatz zum partizipativen Theater 70er- oder 80er-Jahre – nicht in erster Linie um politische Mitbestimmung, sondern eher um eine spielerische Aneignung der Welt. Thomas Oberender glaubt, «dass das nicht nur andere Werke und Erzählformen hervorbringt, sondern über kurz oder lang auch andere Architekturen – vom Museum bis zum Theater – gebaut werden und bespielt werden.»
Denn die alte Guckkastenbühne ist für Produktionen, die das Publikum nicht nur anschauen, sondern auch betreten soll, alles andere als ideal. Performancegruppen spielen in Fabriketagen oder Klubs, Stadt- und Staatstheater richten Studiobühnen ein. Dieser Prozess ist nicht neu, doch er wird durch das Internet und die sozialen Netzwerke, in denen man immerzu etwas bewerten oder kommentieren soll, verstärkt.
«Ich erlebe es immer öfter, dass zum Beispiel Leute Frontalunterrichtssituationen nicht mehr aushalten – also dieses berühmte Glas Wasser, Stehpult und dann verkündet jemand die Weisheit – das wird immer weniger akzeptiert. Ich habe das Gefühl, dass die Menschen Feedback verlangen, dass sie die Möglichkeit haben wollen, sich einzubringen und dass diese hegemonialen Positionen, also die reine Sendebetriebe sind und die gar nicht auf Empfang gehen, dass die als unangenehm empfunden werden und zwar intuitiv.»Neue Erzählweisen sind Bereicherung, keine Gefahr. Theaterproduktionen, die allein nach dem Schema «A spielt B und C schaut zu» laufen, werden daher seltener. Schon eine einfache Videoprojektion kann einer Aufführung eine neue Realitätsebene hinzufügen, dem Zuschauer Informationen zugängig machen, die er sonst nicht hätte. Im neuen Technikdeutsch könnte man das als «Augmented Reality» bezeichnen – erweiterte Realität. Thomas Oberender sieht die neuen Erzählweisen als Bereicherung des Theaters, nicht als Gefahr:
«Wir haben ja oft erlebt, dass alte Medien auf das Entstehen neuer Medien zunächst mit Angst reagieren. Wird das Kino das Theater abschaffen? Oder die Erfindung vom Fernsehen. Was hat das für eine Wirkung aufs Kino? Also diese Ängste schwingen immer mit und am Ende hat es sich herausgestellt, dass es eher eine Differenzierung gibt – dass man sagt, durch Virtual Reality entsteht ein Pan-Medium, das Kino, Theater und Computerspiel zusammenzieht. Das ist ein völlig offenes Feld, wo Erfinder unterwegs sind, die Technologien entwickeln, die nach Erzählweisen suchen, die für dieses Panmedium noch nicht fertig sind.»
Doch auch wenn noch offen ist, wie das neue Theater aussehen wird – an einem Grundsatz wird sich wenig ändern: Im Zentrum steht der lebendige Schauspieler. Theater kann nur live stattfinden und nicht in virtuellen Computerwelten.