«Aus dem Raum die Zeit lesen»
Über «Narrative Spaces»
von Thomas Oberender
Berlin, 26. Februar 2015. «2 + 2 = 4. Das ist so. Zum Glück und zum Ganzen», das steht von Hand geschrieben auf einem Blatt mit dem Firmenlogo «IFM». Als ich in Mona El Gammals «Haus Nummer Null» diese Zeilen auf einem mit Dokumenten übersäten Tisch las, bekam ich unmittelbar eine Empfindung für die Einsamkeit jener Figur, die hier ihren Dienst getan haben muss. Scheinbar ist sie vor kurzem aus den Räumen gelaufen, die ich nun durchschweife. Überall blinken noch die Geräte, seltsam futuristisch wirkt die Einrichtung, wie aus einem dunklen Science Fiction von Andrej Tarkowski, modern, aber gleichzeitig alt. Ich höre Regierungsdurchsagen aus den Lautsprechern an der Wand. Auf den Arbeitstischen liegen Tabellen mit Zahlen, Bilder sind an die Wand gepinnt, Ausrisse aus Nachrichten, ein Anrufbeantworter springt an. Aus all dem ergibt sich bruchstückhaft der Eindruck, dass in diesen Räumen jemand eine bedrohliche Entdeckung gemacht hat. Aber wer? Wo ist diese Person? Was hat sie aufgedeckt?
Mona El Gammal nannte ihr «Haus Nummer Null» eine «Zeit- und Rauminstallation». Zwar war die dystopische Zukunftsphantasie der jungen Szenografin im Mai 2014 beim Berliner Theatertreffen zu sehen, hätte so aber auch Teil einer Kunstausstellung sein können. Keine Schauspieler treten auf. Der Darsteller ist ein Haus, eine Überlebensstation. Gemeinsam mit ihrem Team hat Mona El Gammal einen geräumigen Kiosk aus den 1960er Jahren an der Ost-Berliner Karl Marx Allee in das letzte Refugium einer mysteriösen Frau N. verwandelt. Obgleich der Besucher ihr nie begegnet, ist sie durch verschiedene Objekte, die von ihrer Biografie künden, ständig anwesend. Aber nicht nur sie. Tatsächlich entdeckt der Besucher Belege für die Präsenz eines totalitären Regimes mit dem obskuren Namen «Institut für Methode» (IFM) und zugleich auch einer geheimen Untergrundorganisation («Das Rhizomat»), die am Ende mit ihm Kontakt aufnimmt.
Wenn man sich Mona El Gammals Geschichte als herkömmliches Theater vorstellen würde, so zeigt die erste Szene eine efeubewachsene Gartenmauer und darin eine unscheinbare Tür. An der Tür klingelt jemand. Dieser Jemand ist man selbst. Und alles, was jetzt passiert, kann nur geschehen, weil diese Installation kein Theaterstück ist. Die Tür öffnet sich. Statt aber im Theatersessel darauf zu warten, dass die Szene wechselt, kann man nun durch das Tor hindurchgehen. Danach passiert man einen dahinter liegenden Hof und an dessen Ende kommt man zur Eingangstür eines Gebäudes, durch die man ein frei begehbares Set betritt: Da ist zunächst eine Desinfektionsschleuse, für die es genaue Benutzungsanweisungen gibt, eine Aufbewahrungsstation für Schutzanzüge, danach kommen Lichtkorridore, Dusch- und OP-Räume, Büros, Labore mit rätselhaften Testanordnungen, hinter einem Mauerdurchbruch wird ein scheinbar privater Arbeitsraum sichtbar, etwas weiter eine Schlafkammer und durch eine fast unsichtbare Tür betritt man dann unvermittelt wieder die Welt draußen und steht etwas benommen und verwirrt auf der Straße, im grellen Sonnenlicht und ist unsicher, welche Welt unwirklicher ist.
Tastende Annäherung
Räume, so zeigt Mona El Gammals Installation, können Geschichten erzählen wie Schauspieler. Die Räume selbst sind Darsteller eines Geschehens, das sich in ihnen über Atmosphären und Indizien zu erkennen gibt, ganz so als würde man nicht Kunsträume betreten, sondern Tatorte. In ihnen wird alles, was hier unverdächtig und achtlos an seinem Platz liegt, zum Schaustück und Indiz. Ich fühle mich an die szenische Installation Nächte unter Tage von Christian Boltanski erinnert, die er für die Ruhrtriennale 2005 eingerichtet hat. Allerdings spielten in ihr Darsteller kafkaeske Szenen, oft wortlos in der Regie von Andrea Breth. Auch diese Räume erzählten eine Geschichte durch Artefakte, ähnlich wie in Bret Baileys Ausstellung Exhibit B, die stumme Menschen wie Skulpturen in «sprechenden» Environments präsentierte. Mona El Gammal zeigt die Geschichte ihrer Figur wie der Schriftsteller W.G. Sebald es tat – sie läßt den Besucher deren Lebenswege abgehen, seine Hinterlassenschaften in die Hand nehmen und ihre Zeit anhand der physischen Dinge begreifen. Es ist ein melancholisches Verfahren – alles wird konstatiert, aber an dem, was sich vollzieht, ist nichts zu ändern.
Ist das noch Theater? Mona El Gammal hat alle 20 Minuten je einen Besucher in ihre verlassene Raumstation gelassen – die Erfahrung der tastenden Annäherung an die Geschichte einer Frau, die uns immer näher rückt, je mehr sich ihre fremde Welt erschließt, braucht den Fährtenleser, der sich mit aller Aufmerksamkeit in einer verwirrenden, unklaren Situation orientiert. Die Theaterwissenschaftlerin Barbara Gronau hat beschrieben, dass einer der wesentlichen Unterschiede zwischen einer Aufführung und einer Ausstellung der ist, dass in einer Ausstellung die Zeit dem Besucher gehört, hingegen sie im Theater durch die sukzessive Entfaltung der Handlung in ihrem Vergehen vom Werk bestimmt wird. Durch die Räume von Mona El Gammal kann der Besucher so frei wie durch eine Ausstellung gehen. Aber er wird doch ständig überwacht und ermahnt, wenn er z.B. fotografiert. Sein selbst gesuchter Weg wird durch leichte Manipulationen der Geräuschkulisse und Beleuchtung dezent gelenkt. Denn hinter den Kulissen sitzt ein dreiköpfiges Team in einem Steuerraum, das alle zufälligen Ereignisse wie Radioansagen oder Telefonklingeln punktgenau einspielt. Auch wenn es keine Schauspieler gibt, ist das Ein- und Vorspielen einer ganzen Reihe von narrativen Elementen vielleicht doch ein Hinweis darauf, dass es sich hier um eine Performance handelt, ein «Theater der Dinge», um ein Konzept von Claes Oldenburg zu zitieren.
Das Besuchen der Ausstellung wird so wirklich zu einem Suchen. Da unklar ist, was hinter der nächsten Ecke des Indizienparcours lauert, aber bei allem mit einer verborgenen Absicht zu rechnen ist, suchen die Besucher nach Orientierung und Wegzeichen und zugleich nach Zeugnissen eines heimlichen Geschehens, das die Figuren aus diesem Environment vertrieben hat. Welche Entdeckung hat Frau N. gemacht? Bekam sie Hilfe von den Rebellen? Narrative Spaces inszenieren Geheimnisse. Sie bezeugen dramatische Vorgänge, von denen wir nur noch ihren Abdruck im Raum sehen können, ihre sprechenden Hinterlassenschaften. Narrative Spaces sind insofern archäologische Felder – inszenierte Ausgrabungen. Von dem, was früher einmal das Leben war, zeugen heute nur noch versprengte Artefakte. Die sprechenden Räume Mona El Gammals sind «negative» Ausgrabungen und Versuche, eine gewesene Geschichte, selbst wenn sie in der Zukunft spielt, durch Ausstattungsstücke, durch eine raffinierte Amalgamierung authentischer Fundstücke mit fiktionalen Botschaften imaginärer Akteure zu einer großen Weltgeschichte zu verbinden. Die Mitglieder des Projekts «Haus Nummer Null» verstehen sich, so heißt es in ihrem Konzeptpapier, «als Kartografen einer inneren und als Architekten einer äußeren Welt.»
Manchmal ist es, wie bei Gregor Schneiders 2014 gezeigter Arbeit «Kunstmuseum», auch ein ganz konkretes Weltgeschehen, das zu diesen menschenbereinigten Sachorten führt. Die Erinnerung an die in einer Duisburger Tunnelpassage zerquetschten Menschen führte zur Installation des labyrinthischen, unterirdischen Röhrenzugangs ins Bochumer Kunstmuseum, samt der Blindtüren, verwaisten Büros mit einsamen Kakteen und Notizblöcken. Auch hier wird nur alle zwei Minuten einer einzelnen Person Zugang zu einer inszenierten, unpersönlichen Welt gewährt. Die Installation spielt mit Momenten der Desorientierung und Indiskretion. Inmitten eines kleinen Flures mit drei identischen Türen treffe ich auf einen älteren Mann, der mich fast panisch fragt, wo es denn weiter ginge. Ich sagte ihm, dass wir ja nicht so eilig zum Ende kommen müssen, da wir doch eben noch recht lange angestanden haben. Er lacht, aber hastet dann doch weiter. Auch hier gibt es einen Überwachungsbildschirm, auf dem die Besucher andere Besucher sehen, jeder bleibt allein oder soll es zumindest bleiben. Gregor Schneiders Orte sind seltsam anonymisiert – sie erinnern an die menschenfreien Räume von Thomas Demand, die Echokammern von Geschichtsräumen sind, deren Storys über die Medien tief in unser Unbewusstes Eingang gefunden haben. Die gleiche Schönheit unpersönlichen Geschmacks. Die Atmosphäre inmitten dieser rätselhaften Ordnungswelt mit ihren engen Fluren und Türen ohne Aufschrift ist unangenehm und animierend zugleich. Man darf Voyeur sein. Die nackten Objekte dieser unbekannten Welt bieten sich frei und schutzlos dar.
Narrative Räume stellen so die Momente einer fast kindlich offenen Erstbegegnung mit der Welt wieder her – ein Staunen, in das eine leise Furcht vor der fremden Ordnung oder Macht eingemischt ist, die hinter diesen Dingen lauert. Wir begegnen dieser Welt jedenfalls allein. Nicht als Kollektiv, wie dies traditionell im Theater der Fall ist, sondern wie Fernfahrer, die an fremden, verlassenen Orten rasten. Das Übriggebliebene wird das Ganze.
Was von der Europäischen Union ungefähr im Jahr 2060 übrig oder in Erinnerung geblieben sein könnte, beschreibt Thomas Bellinck in seiner Wiener Ausstellung Das Haus der Geschichte Europas im Exil. Auch hier betritt der Besucher die Räume einzeln nach einer gewissen Wartezeit in einem dämmrigen, zeitlosen Raum gleich hinter der Pförtnerloge. Die Ausstellung, die der belgische Theaterregisseur 2014 in das leerstehende Gebäude des kaiserlichen Postamtes hineingebaut hat, ist eigentlich die Ausstellung einer Ausstellung. Sie passt wunderbar an diesen morbiden, nutzlos gewordenen Ort vergangener Macht und Glorie, zeigt sie doch über mehrere Etagen hinweg eine Erinnerung an unsere Gegenwart, die, ähnlich wie die Arbeit von Mona El Gammal, konzeptionell anspruchsvoll ist und, nur vermittels der von Objekten bespielten Räume, eine unerhörte Geschichte erzählt vom Aufstieg und Untergang der Europäischen Union. Dabei begegnen wir der Person erst zum Schluss, die uns letztlich zur Identifikation mit der in den Exponaten verborgenen Geschichte verführt.
Bellincks «Haus der Geschichte Europas» befindet sich, da Europa als neues Reich verschiedenster Nationen 2060 verschwunden ist, lange schon im Exil. Die einst liebevoll zusammengetragenen Exponate und aufwändig recherchierten Schautafeln sind vergilbt und ausgebleicht, Staub hat sich auf die Vitrinen gelegt; der Welt der hier versammelten Dinge ist die Liebe verloren gegangen, die sie einst zusammentrug und pflegte. Wenn das vereinte Europa, wie eine der Schautafeln zeigt, sich 2018 wieder aufgelöst hat, so muss die Ausstellung zum Gedenken an dieses Projekt wohl irgendwann in den 2040er Jahren entstanden sein. Seither kam es in die Jahre. Inzwischen spricht man in Europa eine andere Sprache, Thomas Bellinck hat sie sich als eine Mixtur aus Esperanto, slawischen und romanischen Sprachen ertüftelt, der ehemalige Euro ist einer neuen Währung gewichen («2 Euro = 173 WEM»). Man kann sich eines Schauders angesichts der einzelnen Ausstellungssektionen nicht erwehren. Sie heißen «Magnet Europa», «Die Wiederkehr der Vergangenheit», worunter die große Rezession des Jahres 2013 behandelt wird, oder «Demografische Bulimie». Wir sehen im Kapitel «Richtlinien und Verordnungen» sich bis zur Decke stapelnde Aktenberge und Schautafeln mit Beispielen für die Normierung der Form von Bananen, des Inhalts von Druckerpatronen oder des Bewegungswinkels von Scheibenwischern.
In einem Gespräch mit Thomas Trenkler nennt Bellinck sein «fiktives Museum» einen Versuch, Distanz zur Gegenwart Europas zu finden, «um diese Gegenwart anders sehen zu können.» Die Ausstellung zeigt die neuralgischen Zonen des aktuellen Staatenbundes sehr deutlich: Der Besucher studiert das europaweite Erstarken rechter Nationalbewegungen anhand von authentischem Wahlkampfmaterial unserer Tage, die Welthauptstadt der Lobbyisten anhand einer riesigen Sammlung von Visitenkarten und die Tragödie der «Generation Mauer», die das gefallene Monument der Teilung vom Symbol der Befreiung zum Souvenir und Handelsgut verkommen ließ. Schockierend wirkt auch der Nachbau der erbärmlichen Wohnverschläge illegaler Arbeiter auf den Tomatenplantagen in Südspanien.
Bellinck fiktionalisiert unsere Gegenwart durch die Ausstellung einer Ausstellung, die mit Objekten aus unserer Zeit eine Zeitreise inszeniert, welche direkt in den Untergang der europäischen Ordnung führt, wie wir sie kennen. Er bringt den Besuchern ihre eigene Gegenwart nahe, indem er ihr eine berührende Patina stiftet. Und wieder ist der Besucher wie ein Detektiv unterwegs, wie ein Archäologe, der Indizien sammelt und sich ein Puzzle zusammenfügt. Ist diese Ausstellung einer Ausstellung nur eine Ausstellung? Sie schlägt sich zum Teil auf wilde Art ihren Weg durch die alten Wände des kaiserlichen Postamts, baut grobe Holzstege über aufgelassene Zimmerböden. Enorm aufwändig inszeniert sie ein Erinnern, das aus der Zukunft kommt, um ein Zeichen für die Opfer von heute zu setzen.
Am Ende, im letzten Kabinett der Ausstellung, überrascht sie mit einer Nachricht ihres Erschaffers. Im Dämmerlicht einer nackten Glühlampe liegt ein handgeschriebener Brief im Staub. «Lieber Lucas», heißt es darin, «ich baue gerade ein Museum. / Ein echtes Museum, mit Puppen und Infotafeln und Vitrinen. / Ich weiß nicht, ob das was für dich ist. Aber Tomaten kommen auf jeden Fall auch vor. / Das fändest du doch bestimmt gut. / Im letzten Raum des Museums wollte ich ein Denkmal bauen. / Im Andenken an die, die nie eins kriegen werden. / Ich wusste nicht genau, wie ich das machen sollte. / Also habe ich angefangen, sie zu sammeln. / Den Mann, der sich vor dem Finanzamt selbst in Brand gesteckt hat. / Der Mann, der sich vor dem Parlament in den Kopf geschossen hat. / Im Park. / Auf einem Dachboden. / Aus einem Fenster. / Und dann du. / Total unerwartet. Am selben Tag wie ein Spanier, der seine Wohnung verlassen musste. / Auf dieselbe Art und Weise. […] » Die politische Misere, wie sie die Ausstellung zeigt, zeigt sich in ihrem letzten Abteil als das Drama eines Menschen. Oder genauer gesagt zweier Menschen, denn die Exponate erzählen nicht nur Lucas Geschichte, sondern auch die des Regisseurs, seines Ringens mit den Objekten und seinen eigenen Intentionen.
Die narrative Räume von Mona El Gammal und Thomas Bellinck unterscheiden sich von den Environments Ed Kienholz’, Joseph Beuys oder den Erinnerungsräumen von Ilya und Emilia Kabakov, weil der Besucher in ihnen zu einer Projektionsfigur findet, der man zwar körperlich nicht begegnet, die aber durch die Arbeit und die Spur der Indizien, die sie auslegt, im Inneren des Suchenden entsteht. Das verbindet die Räume dieser Künstler auch mit Situation Rooms, dem «Multiplayer Videostück» von Rimini Protokoll. 2013 erlebte es bei der Ruhrtriennale seine Premiere und tourt seither durch Europa. Dabei wandert nur die Hardware, ein verschachteltes Set von 20 filmrealistisch gestalteten Räumen, von denen je einer das Setting der Geschichte einer Figur ist, deren Haltung und Bewegung der Besucher folgt, sobald er das Zimmer betritt.
Realisiert wird dies durch iPads, die wie eine Kamera oder Sonde funktionieren. Der Besucher folgt der räumlichen Bewegung des Bildes, das er auf dem Screen sieht und durchwandert so Raum für Raum die Lebenswelten von zehn Figuren. Wieder startet man allein an einer Tür und begegnet einem Parcours voller sprechender Details. Thema von «Situation Rooms» ist die Welt der Waffen – alle Figuren, in deren Welten ich als Besucher dieser Räume eintrete, haben eine Beziehung zum Krieg und Töten, sei es als Friedensaktivist, Kindersoldat, Flüchtling, Feinmechaniker oder Kantinenfrau in einem Rüstungsbetrieb, als Waffenhändler oder Arzt. Seltsam ist die Animierung jener Objekte, einfach indem sie «besprochen» werden. Jeder Besucher nimmt von Raum zu Raum die Rollen und Perspektiven anderer Menschen ein und folgt ihren körperlichen Bewegungen bis ins Detail, wenn er sich zum Beispiel auf den Boden eines Schießstandes legt oder ans Steuerpult eines Drohnenpiloten.
Mit großem Tempo vollziehen sich die Wechsel der Positionen und jedes Mal lernt der Besucher die subjektive Wahrheit einer speziellen Person quasi «von innen» kennen, die nur wenige Minuten später von einer anderen auf dem Bildschirm abgelöst wird. Kriege werden über Bilder geführt und auch die Besucher werden mit bewegten Bildern durch das Set geführt. In jeder Stadt wird die wandernde Hardware der Installation mit neuen Menschen besiedelt, Schauspieler braucht es auch in diesen Räumen nicht, es sei denn, man betrachtet die Besucher selber als solche, die auf ihrem Trip durch die Welt der Waffen stets bestimmte Handlungen und Objekte von anderen übernehmen und sich in ihren Rollen untereinander begegnen, ohne jedoch etwas anderes zu spielen als das Skript ihres jeweiligen «Autors» vorsieht: Ironischer Weise ist der Besucher hier der Schauspieler und die fiktive Figur innerhalb realer Räume. Er ist eine Figur, die er nicht erfindet, sondern zu der er gefunden hat, als er das iPad eingeschaltet hat. Von ihr und ihren Nachfolgern wird er nun durch die verwirrenden Gänge, Konferenzräume, Wachtürme, Klassenzimmer, Keller und Werkstätten gelenkt und geleitet.
Wieder ist die Situation der narrativen Räume eine Kippfigur, in der die Oberfläche der Dinge eine Realität preisgibt, die irgendwie unberührt scheint vom Menschen, der sie durchwandert. Was man in diesen Räumen sieht, das bleibt, auch wenn wir längst gegangen oder vergangen sind. Narrative Räume nehmen uns als Passanten auf. Wir gehen durch sie hindurch wie der Wind und stoßen in ihnen auf die Indizien von Geschichten, die eine Ordnung offenbaren, mindestens eine. Narrative Spaces suchen einerseits nach neuen Formen der Immersion – sie machen ihre Besucher dafür dünnhäutig, unsicher, staunend und schockieren sie – wie in den «Situation Rooms» – mit der sinnlichen Wucht fremder Realitäten. Andererseits begeben sie sich zugleich in die Position einer gelebten Spekulation darüber, was das Leben sein könnte, wenn man es von der Seite der inerten Welt aus betrachtet, aus der Position der Steine und der Wolken, vielleicht auch der Pflanzen, wie es die Lunatiks in ihrem Projekt Die Welt ohne uns in Hannover betreiben, oder der Irren, der Kinder und Tiere wie bei Dostojewski.
Für Jeremy Deller gibt es seit archaischen Zeiten zwei Arten von Künstlern: Die einen sind die Trophäenmacher. Sie stellen Objekte her. Die anderen sind die Schamanen, die am Feuer Rituale erfinden. Mit einiger Grobheit ließe sich diese interpersonell agierende Kunst auch Nicholas Bourriauds Feld der «Relational Art» zurechnen: Für ihn ist die «künstlerische Praxis, nach einer Ära der Beziehungen zwischen Menschheit und Gottheit, später zwischen Menschheit und Objekt, nun auf die Sphäre der zwischenmenschlichen Beziehung fokussiert.» («Relational Aesthetics», les presses du réel, 2002, S. 28). Der erzählerische Gesamtraum, den Künstler wie Anri Sala, Philippe Parreno oder Pierre Huyghe in ihren Ausstellungen entwickeln, hat keinen Fluchtpunkt in einer Persona. Wer ihn betritt, wird immer wieder an seine mitgestaltende Präsenz als Besucher erinnert. In einem Narrative Space wie dem «Haus Nummer Null» wäre es undenkbar, dass der Name des Besuchers beim Eintritt in die Ausstellung von einem freundlichen Wärter laut ausgerufen wird, wodurch die Anonymität und Unerheblichkeit des eigenen Dabeiseins auf einen Schlag aus dem Raum befördert würde – Pierre Huyghe hat dies in seiner Ausstellung wunderbar demonstriert.
Narrative Spaces schaffen Erzählungen für Eindringlinge. Sie sind, wie Signa Köstler im Programmheft zum «Haus Nummer Null» schrieb, «menschenleer, und doch durch die Geschichten ihrer Bewohner verdichtet.» Was hat es zu bedeuten, dass diese Zeitreisen, die ja doch die Beziehungswelt der Menschen, aber auch der realen Institution und ihrer Geschichte der Relational Art verlassen, den Besucher aus dem Kollektiv isolieren und in fiktionale Welten beamen, die ihm kein anderes Gegenüber zeigen als eine abwesende Figur und fremde Ordnung der Dinge?
Auf der Kippe zwischen Ausstellung und Aufführung sind die narrativen Räume von Theaterkünstlern wie Mona El Gammal, Thomas Bellinck, Rimini Protokoll und Dominic Huber große Autorenleistungen, die aus dem Raum die Zeit lesen. Sie statten den Besucher mit Erfahrungen aus, die nur im Raum der Ereignisse zu sammeln sind. Insofern überschreiten sie traditionelle Bildgrenzen, indem sie Räume «schreiben» und den Betrachter zum Teilnehmer an einer Situation werden lassen, die auf Entdeckungen hinauslaufen, welche ohne eine aktive Suche und Verstörung nicht zu machen sind. Auffallend ist, dass die Narrative Spaces eine Gesellschaftskritik üben, die von der Gesellschaft nur ihr «Gestell» zeigt. Ihr Abenteuer liegt aber eindeutig in Allan Kaprovs berühmter Aufforderung: «Go in instead of look at.»
«Haus Nummer Null» © Pauline Fabry
«Haus der Geschichte Europas im Exil»: ein Ausstellungsobjekt © Thomas Oberender
«Haus der Geschichte Europas» von Thomas Bellinck © Didi Sattmann
«Situation Rooms» von Rimini Protokoll © Pigi Psimenou