«Strafe wofür?»
Neil LaBute über seine neuen Stücke, den 11. September, Woyzeck, Brecht, New York und die Hoffnung auf Katharsis.
Ein Gespräch mit Thomas Oberender
Thomas Oberender: Wie würden Sie einem Menschen, der nicht religiös ist, erklären, was eine Sünde ist?
Neil LaBute: Ich würde sagen: Hören Sie doch nicht auf mich… Niemand hindert Sie daran, ein Schwein zu sein, also los! Nein, Quatsch… Das Konzept Sünde ist schwer zu verstehen, selbst für religiöse Menschen. Die Vorstellung, dass wir uns als Sterbliche auf eine Weise versündigen können, die unserem gewöhnlichen Handeln – und selbst unseren Gedanken – widerspricht, oder die zumindest untypisch für uns ist, ist tatsächlich ein herausforderndes Konzept. Ich würde sagen, daß der Zugang zum Verständnis der Sünde in der klaren, leisen Stimme in uns liegt, jener Stimme, die uns eine luzide Erklärung gibt, außerhalb der jeweiligen Umstände und Möglichkeiten. Schlicht gesagt, vermittelt uns diese Stimme eine unmittelbare Empfindung von gut und böse, richtig und falsch. Das ist Moral auf ihrem grundlegendsten, elementarsten Niveau. Demnach ist es Sünde, wenn man etwas tut, das außerhalb jener Parameter liegt, die vorher von der eigenen Moral aufgestellt wurden.
TO: Geht es in ihren Augen im Leben eher um einen Kampf von Gut gegen Böse oder vielleicht eher um die Frage von Recht und Unrecht?
NLB: Ich fühle mich mit dem Konzept von Gut gegen Böse unwohler als mit dem von Recht und Unrecht. Natürlich ist das subjektiv, aber unter dem Gesichtspunkt von gut und böse, richtig oder falsch sind die Sachen persönlich natürlich besser zu handhaben. Ich finde, die Amerikaner sind in diesen Tagen schnell dabei, wenn es darum geht, etwas wie die Geschehnisse des 11. September als «böse» zu betiteln. Das verleiht dem Ganzen gleich eine viel höhere Größenordnung und erleichtert somit das Entstehen von Furcht, Hass und Vergeltung. Wir haben vor 50 Jahren mit ihrem Land und dessen Alliierten während des Krieges dasselbe getan; als Teufel konnte man Hitler und Mussolini weitaus leichter hassen, als wenn man sie als Menschen betrachtet hätte. Ich persönlich muss in ihnen den Menschen sehen – Menschen, die sowohl gute als auch schlechte Entscheidungen in ihrem Leben getroffen haben, aber dennoch Menschen und nicht nur Inbilder für das Reich des Bösen, wie es die Geschichte und die Sieger nahelegen.
TO: Macht das Wort »Freiheit” noch Sinn in einer Gesellschaft, in der »alles möglich” ist?
NLB: Semantik spielt in unserem Leben heutzutage eine große Rolle: also Worte wie «Subjektivität», «Umstand» usw. »Freiheit” als Konzept macht für mich immer noch Sinn, aber welche Bedeutung hat es eigentlich noch? Und wessen Freiheit, und zu welchem Preis? Das Wort »Freiheit” wurde längst vom Staat okkupiert und soll dennoch eine ganz persönliche, individuelle Sache bezeichnen. Unseren Sinn für das, was «Freiheit» in der heutigen Gesellschaft bedeutet, haben wir größtenteils verloren, weil wir das Individuum weniger beachten als das «große Bild». Gut, aber sehen Sie sich ein großes Bild an – sagen wir, ein Bild von Bosch – und sehen Sie, wie viele einzelne, individuelle Geschichten dieses eine Bild erst ausmachen.
TO: Hat Sie das an Georg Büchners Stück »Woyzeck” interessiert, von dem Sie eine eigene Fassung geschrieben haben?
NLB: So weit ich es beurteilen kann, begann die Entwicklung des modernen Dramas mit Woyzeck. Als ein Meisterstück dramatischer Literatur ist Büchners Werk noch immer lebendig, auch im Werk der meisten Dramatiker, die ich bewundere. Es ist frisch und lebendig und schreit vor Wut. Zudem ist es unvollendet, was wahrscheinlich jeden Autor dazu reizt, es fortzuschreiben und seiner Selbstüberschätzung reichlich Nahrung gibt, indem er denkt, dass gerade er der Gesalbte sei, der es vollenden wird. Ich war da keine Ausnahme.
TO: Was Sie zum Konzept der Sünde sagen, klingt sehr einleuchtend. Sie sagen, es sei eine innere Stimme, die uns in direkter Weise sagt, was gut und böse ist. Aber »Woyzeck” hört auch eine Stimme in seinem Kopf. Verweisen Ihre Stücke nicht darauf, dass der Mensch sich in seinem Handeln in einer Weise vergeht, die das Fehlverhalten im Sinne menschlicher, juristischer Gesetze übersteigt?
NLB: Naja, nur weil uns diese »stille kleine Stimme” sagt, was wir tun sollen, heißt das noch lange nicht, dass wir auch auf sie hören. Überhaupt nicht. Manchmal schreien Leute uns direkt ins Gesicht und wir hören nicht auf sie; also welche Chance hat schon diese winzige Stimme des Gewissens? Unsere Moral ist ein Gefüge aus so unzählig vielen Splittern – Vorstellungen, die wir von unseren Eltern übernommen haben, Konzepten aus dem Fernsehen, aus Büchern etc. –, dass wir sie ständig neu definieren und dauernd eine andere Haltung einnehmen. Ich denke, meine Stücke verweisen auf dieses moralische Minenfeld, das die meisten Leute zu überqueren versuchen. Jede beliebige Landschaft kann von Minen übersät sein – ein Sonnenblumenfeld genauso wie eine kahle Gegend. Mein Interesse daran beruht auf der Frage, wie wir – abhängig von unseren verfügbaren Information und persönlichen Interessen - diese Minenfelder meistern. Manche von uns schaffen es, andere nicht. Ich bin sehr fasziniert von diesem Vorgang, insbesondere ob wir in dessen Verlauf unserer selbst erschaffenen Moral treu bleiben, oder ob wir bereit sind, alles, woran wir glauben, über Bord zu werfen, nur um zu überleben. Was Woyzeck betrifft: Er war schon ziemlich verrückt… Aber das passiert eben, wenn man ständig Erbsen ißt. Egal, wie die meisten verrückten Menschen hat auch er großartige Momente vollkommener Klarheit.
TO: Interessiert Sie Peinlichkeit als Kategorie?
NLB: Falls Sie fragen, ob ich in meinem Werk gerne peinliche Momente verwende, dann ist die Antwort «ja». Ich denke, Peinlichkeit ist ein wichtiges Instrument - sowohl für das Schreiben von Charakteren wie auch für die Einbeziehung des Publikums. Mir macht es nichts aus, das Publikum und einen Schauspieler sich winden zu sehen, wenn die Dinge ungemütlich werden. Aus dieser Empfindung kann ebenso leicht eine Katharsis entstehen, wie aus dem Erlebnis einer Tragödie.
TO: Das Summen des Absauge-Gerätes in der Abtreibungsklinik verbindet sich in »Land der Toten” mit dem Summen des Großstadtverkehrs in New York. New York ist nicht nur in »Land der Toten” der Ort eines Verbrechens, sondern auch schon in »bash”. Ist die Stadt ein modernes Babel?
NLB: Für mich ist New York noch immer ein geheimnisvoller Ort, ein großer, wunderschöner, beängstigender Ort unendlich vieler Möglichkeiten. Möglichkeiten zum Guten wie zum Schlechten. Wie David Mamets Edmond neige ich dazu, New York als eine Stadt zu betrachten, in der einem Menschen das Schlimmste wie auch das Beste widerfahren kann, was das Großstadtleben überhaupt bereithält. Als Autor jedoch suche ich meist nach dem Schlimmsten, da es für ein Drama das größere Potential in sich birgt. Ob New York ein modernes Babel oder das Sodom der letzten Tage ist – ich weiß es nicht. Es ist ein einzigartiger, wunderbarer, einschüchternder Ort, den ich sowohl liebe als auch fürchte, und zwar zu nahezu gleichen Teilen.
TO: Betrachten Sie die Attacken des 11. September 2001 als eine Strafe, die Amerika getroffen hat?
NLB: Nein, nicht als Strafe. Strafe wofür? Dafür, mächtig und unverschämt und blind und selbstsüchtig und wunderbar zu sein? Wir sind ein Land unglaublicher Vielfalt und absoluter Gegensätze, aber ich glaube nicht, dass wir bestraft wurden, weil wir «schlecht» sind. Der 11. September konnte sich ereignen, weil eine Gruppe ziemlich einfallsreicher Terroristen eine Lücke im Sicherheitssystem des Landes entdeckte und ausnutzte. Es war ein Vorfall, der nur mit wenig mehr als diesem Verhältnis von Ursache und Wirkung zu tun hat. Sie waren die Ursache und was passierte, war die Wirkung. Es war grauenhaft und jenseits unserer Vorstellungskraft und öffnete uns die Augen. Aber ich glaube, dass der größte Teil der übrigen Welt – trotz aller Anzeichen von Schock und Trauer – insgeheim dachte, dass wir als Land jetzt lediglich mit den tragischen Fakten der Weltpolitik vertraut gemacht wurden. Denn ist das, was am 11. September geschah, schlimmer als der Tod von zwei oder drei Menschen in Tel Aviv oder der West Bank? Ist ein Massengrab an der Elfenbeinküste weniger wichtig als Ground Zero? Wenn das der Fall ist, haben wir als Nation aus all dem nichts gelernt.
TO: Empfinden Sie Amerika als ein Imperium, etwa im Sinne des Römischen Reiches?
NLB: Nein. Es hat nie wieder etwas existiert, das dem Römischen Reich entsprochen hätte, noch wird es aller Wahrscheinlichkeit nach je wieder etwas Ähnliches geben. England könnte das nicht leisten, Deutschland auch nicht, und selbst in Amerika deutet wenig darauf hin, dazu in der Lage zu sein. Sollte es auch nicht. Die Tage der Imperien sind gezählt. Amerika ist einfach nur ein Land des Wohlstands, der Meinung und des Einflusses. Ein Ort, gleichermaßen geprägt von Schönheit, Frustration und Gefahr– ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben.
TO: Die Frau in »Einordnen” sagt nach ihrer Beichte, dass sie noch mal von vorne beginnen könnten. Das Stück lässt es nicht mehr dazu kommen. Haben Sie es, wie »Land der Toten”, nach dem 11. September geschrieben?
NLB: Nein, Einordnen entstand lange vor dem 11. September. Ich glaube, das Konzept des »von vorne Beginnens”, des «Neustarts», ist eines, das in meinem Werk immer wieder auftaucht. Die Vorstellung, dass eine Person sich nach etwas Neuem sehnt und dafür bereit ist, so viel aufzugeben, fasziniert mich ziemlich. Selbst mein neuestes Stück, The Mercy Seat, handelt davon – mit direktem Bezug auf die Geschehnisse des 11. September.
TO: Wie empfinden Sie das Leben in New York ein Jahr nach den Anschlägen?
NLB: Nachdem ich nur vier Tage nach dem 11. September in der Stadt war, um an einem Stück zu arbeiten, und ich heute, über ein Jahr danach, wieder hier bin und dasselbe tue, kann ich leicht sagen, dass sich das Leben jetzt wieder viel normaler anfühlt. Nicht, dass sich nichts verändert hätte, aber abgesehen von der enorm angestiegenen Zahl nationalistischer Memorabilien, die in den meisten Schaufenstern hängen, erinnert mich die tägliche Routine der Leute sehr an meine Zeit als Student in New York. Wer kann schon sagen, wie verändert sich die Leute wirklich fühlen? Aber das äußere Erscheinungsbild der meisten New Yorker und der Stadt selbst lässt New York wieder so angenehm wie vor dem 11. September erscheinen. Die Ereignisse veränderten uns als Nation zwar sowohl auf eine ganz offensichtliche wie auch auf subtilere Art, aber nicht unbedingt an der Oberfläche.
TO: Gibt es tatsächlich keine versteckte Verbindung zwischen den drei Stücken »Einordnen”, »Ausflug” und »Land der Toten”? Z.B. eine Aufforderung zur »Umkehr”?
NLB: Ich denke, dass eine der Hauptverbindungen zwischen diesen drei Stücken die Hoffnung auf einen Neubeginn ist. Es gibt dieses Greifen der Figuren nach dem, was gerade geschieht, weil sie glauben – auch wenn es sich dabei nur um Lippenbekenntnisse handelt –, daß nun in ihrem Leben etwas Neues und Wertvolles beginnt. Wenn man die Natur ihrer Beziehungen bedenkt, erscheint mir dieser Gedanke von ihnen recht verdächtig, aber ich glaube, dass sie es glauben, und das ist, was das Zusehen oder Anhören so interessant macht.
TO: Die Helden der ersten beiden Stücke in »bash”, Evelyn in »das maß der dinge”, der »Gewinner” in »In the company of men” – all diese Helden sind mit ihren Taten im juristischen Sinne davongekommen. Ihre Stücke stellen sie dennoch vor Gericht. Wie lautet die Anklage?
NLB: Ich versuche, meine Figuren nicht anzuklagen. Das ist nicht meine Aufgabe. Meine Aufgabe ist es, Fragen zu stellen, nicht unbedingt, diese zu beantworten. Ich halte alle meine Figuren insofern für schuldig, als sie interessant sind. Das ist alles, was ich von ihnen verlange. Nicht gut oder böse oder Publikumslieblinge zu sein. Denn ich finde es viel besser, eine interessante Figur zu haben als eine liebenswerte. Doch manchmal ist das Publikum darüber verstört, dass so viele meiner »bösen” Figuren mit dem davonkommen, was sie geplant und umgesetzt haben – Betrug oder Schmerz oder Selbstbereicherung. Ich aber fühle mich nur diesen Figuren gegenüber dazu verpflichtet, loyal zu sein, nicht dem Publikum. Die Geschichte muss um jedem Preis erzählt werden, ob wir als Zuschauer sie nun mögen oder nicht.
TO: Sie haben vorhin im Zusammenhang mit Ihren Stücken von Ihrer Hoffnung auf eine »Katharsis” gesprochen, die sie bewirken sollen. Durch welche Mittel versuchen Sie, dies herzustellen?
NLB: Ich hoffe, dass die Zuschauer manche meiner Werke mit einer angemessenen Distanz ansehen und sie mitnehmen und später, an einem anderen Tag oder wann auch immer nochmals betrachten können. Ich hoffe, dass sie ebenso die Lektionen darin erkennen können, wie sie das Stück genießen. Ich denke, dass die meisten guten Dramen es erlauben, daß wir uns als Publikum gut unterhalten fühlen und gleichzeitig (oder etwas später) realisiert man, dass einem auch etwas beigebracht wird. Brecht traf den Nagel diesbezüglich genau auf den Kopf. Er traf ziemlich viele Nägel genau auf den Kopf.
Wenn ich mir eine Theateraufführung ansehe, dann möchte ich, dass sie mehr mit mir macht, als mich nur zu unterhalten. Ich möchte, dass sie mich bewegt, mich aufrüttelt, meine Denkweise herausfordert. Wenn sie dies nicht tut, dann kann ich ebenso gut zu Hause bleiben und fernsehen.
TO: Welches Verhältnis haben Sie zum antiken Drama? »bash” bezieht sich ja stark auf antike Vorlagen und auch Ihre Vorliebe für Monologe erinnert daran. Ist es die Form der Tragödie, die Sie interessiert?
NLB: Ich liebe die Darbietungsform des griechischen Dramas, die Art, wie die Information dem Publikum vermittelt wurde. Gewaltakte z.B. wurden von der Bühne ferngehalten und erzählt – in jedem einzelnen grausamen Detail. Und da das Publikum ohne Frage mit den Geschichten vertraut war, lag die eigentliche Kunst im Erzählen selber.
Ich liebe zudem die harten Bedingungen, unter denen, wie wir annehmen, die Dramatiker damals gezwungen waren zu arbeiten. Beispielsweise die Vorstellung, dass Zeit, Ort und Handlung derart kontrolliert und festgelegt waren. Ich erlege mir häufig die selben Regeln auf und empfinde es als extrem befreiend, mich derart zu beschränken. Bei Bash wollte ich wissen, ob es mir gelingt, die Leute zu erreichen und zu bannen, indem ich die Schauspieler dazu zwinge, den gesamten Abend dazusitzen und zum Publikum einfach nur zu sprechen.
TO: In »Einordnen” und »Land der Toten” passieren die Katastrophen genau dann, wenn man glaubt, es sei gerade noch mal gut gegangen. Folgt diese Dramaturgie nur dem Muster der »scary movies” oder der Struktur von Geschichte?
NLB: Mir ist wiederholt vorgeworfen worden, dass ich psychologische Horrorfilme und -stücke schreibe und ich nehme an, das stimmt wohl. Ich stelle häufig fest, dass die Menschen und Dinge, die uns am vertrautesten sind, auch am ehesten dazu neigen, beängstigend zu wirken. Ein Elternteil, ein Liebhaber, ein vertrauter Freund, eine Stadt, von der wir meinen, sie zu kennen. Wenn es zum Betrug zwischen Freunden, innerhalb der Familie oder zwischen Liebenden kommt, interessiert mich genau das, denn in diesem Moment ereignet sich so etwas wie Geschichte. Etwas wird aufgegeben, das Fremde nicht auch nur im Ansatz verstehen können. Und die Katastrophe ereignet sich häufig gerade in einem Augenblick voller Verständnis, einem Moment von absoluter Klarheit. Halten die Versprechen, die wir zu Friedenszeiten gaben, den Druck aus? Das bleibt eine faszinierende Frage für mich.
TO: Waren Sie in der Gerhard Richter-Ausstellung in New York? Richters »Vorhang”- oder RAF-Bilder spielen mit der Unschärfe der Abbildungen und sie erinnern mich an das zweite Stück aus »Bash”, bei dem man sich fragt, ob die Menschen den selben Raum teilen während sie sprechen oder nicht. Das ist sehr einfach und elegant, zugleich sehr avanciert. Gibt es Künstler, die Sie explizit für ihr Spiel mit der Wahrnehmung bewundern?
NLB: Ich glaube, niemand bewegt mich mehr als Beckett, wenn es darum geht, das, was wahr ist, mit dem zu kontrastieren, was wahrgenommen wird. Er war besonders genial darin, Realität aus allen möglichen Blickwinkeln zu betrachten und eine Art Menschlichkeit dort zu finden, wo zunächst keine zu existieren schien. Sein Stück bleibt die erschütterndste Darstellung von Liebe, die ich mir vorstellen kann.
Zudem beschäftigen mich bildenden Künstlern ziemlich stark und suche ich für meine Arbeit bei ihnen häufig nach Inspiration. Alex Katz ist jemand, zu dem ich ständig zurückkehre. Seine prächtigen, einschüchternden, riesigen Leinwände voller Männer und Frauen mit leeren Blicken finde ich sehr faszinierend.
TO: Was war für Sie der Beginn des Erwachsenwerdens?
NLB: Der Moment, als ich realisierte, dass ich eine Stimme hatte. Eine Stimme in meinem Kopf, die mein Schreiben lenkte. Eine Stimme, die ich benutzen konnte, um die Dinge, wie sie waren, zu ändern, in der Schule, in der Gemeinschaft usw. Der Moment, in dem du realisierst, dass deine Meinung zählt und dass du mitbestimmen kannst – das war für mich der Moment, in dem ich mehr war als ein Kind. Mädchen halfen natürlich ebenfalls, den Prozess zu beschleunigen…
TO: Was bedeutet es, Autor zu sein?
NLB: Ich bin mir nicht sicher, was es bedeutet, weil es das Einzige ist, was ich kann. Es ist das einzig Wertvolle, das zu vollbringen ich scheinbar in der Lage bin und daher tue ich es. Ich versuche nicht, das Schreiben zu glorifizieren oder als etwas anderes als meinen Beruf darzustellen. Ich mag es, ich arbeite hart daran, unterwerfe mich ihm sogar. Aber ich mache keine große Sache daraus. Ich habe Glück, etwas tun zu können, was ich gerne mache und auch kann. So einfach und so tiefgründig ist es.
Das Gespräch entstand Anfang Dezember 2002, Abdruck im Tagesspiegel, Berlin, 18. Dez.2002