«Der Moderator»
Die Kanzlerfigur Gerhard Schröders bei seiner Regierungserklärung im Bundestag. Eine Theaterkritik.
von Thomas Oberender
Die Situation des Schauspielers ist oft ambivalent und vertrackt. Spielt der Darsteller gut, geht das Lob an die Rolle (»großartiger Hamlet”). Spielt er schlecht, geht der Tadel an ihn. In seltenen Fällen kehrt sich das um - dann wird der Darsteller so groß (»der große Minetti”), daß er spielen kann, was er will, er bleibt immer er selbst und bisweilen ermüdet auch das. Das Wort »Schauspieler” umgibt in der Umgangssprache oft der Ruch des Unzuverlässigen und Windigen, das im besten Falle clever und charmant erscheint, wenngleich ein wenig unseriös. Von »Schauspielern”, und das meint in der Regel die durchschaubaren, läßt man sich gerne verführen, aber scheut das Vertrauen. Ein Schauspieler hat es also nicht leicht mit dem, was er tut.
Das Verhältnis von Darsteller und Figur ist eine aufschlussreiche Problemgeschichte. Zeigt der Künstler seine Rolle auf der Bühne als etwas »Gemachtes”, als Spiel und Behauptung, oder läßt er das vergessen? Genauso wie es ein Theater gibt, das seine großen Darsteller für die erfolgreiche Ausblendung dieser Differenz liebt und feiert, gibt es auch ein Theater, das den Schauspieler genau diesen Vorgang einer scheinbar unkomplizierten Repräsentation nicht gestattet und seit dem späten 19. Jahrhundert viele Wege gefunden hat, sie zu vermeiden. Der Dichter Maeterlinck wünschte sich eine Aufführung seiner symbolistischen Stücke durch Marionetten. Die Körperlichkeit und Subjektivität der Darsteller verschmutzt in seinen Augen nur die Idee des Werkes. Dieses Problem hat die meisten Theaterkünstler der Moderne vor und nach Maeterlinck beschäftigt. Läßt sich eine Idee heute noch in der Erscheinung des Menschen verkörpern oder muß man das Darstellen «verfremden», bis Idee und Mensch sich scheiden. Das Starkino Hollywoods hat hingegen die innere Technik von Stanislawskis Schauspielermethode zur Vollendung gebracht und zeigt uns Menschen, die Menschen spielen, ohne daß wir es bemerken - sie «sind» einfach wie das Leben, sie spielen, als würden sie nicht spielen.
Auch im zeitgenössischen Theater gibt es noch eine Tradition, der zufolge der Darsteller sich mittels mentaler und körperlicher Disziplinierung die Rolle zur Haut seiner eigenen Person macht. Dieser Vorgang, an dessen Ende eine lebensechte Figur steht, ist keinesfalls weniger kunstvoll als eine Darstellungsweise, die das Gemachte und Artifizielle der Rolle ausstellt und von der Person löst. Klaus Kinski versus Martin Wuttke. Zwei große Darsteller, zwei Welten. Tiefe Einfühlung und offene Verwandlung - beides ist zauberhaft: Der eine ist der rasende Narziss, der andere baut vor unseren Augen das Bild des Arturo Ui zusammen und verwandelt seinen Körper zum Hund oder Hakenkreuz, in etwas, das er nicht ist, sondern auf das er zeigt.
Auf den Bühnen des Staatstheaters wie auch auf den Bühnen der staatlichen Politik erhält im Idealfall die Macht ein Gesicht. Wie ein Schauspieler ist auch jeder Politiker das Medium einer Idee, die er verkörpert und er kann das auf verschiedene Weise tun. So verdankt sich der Wahlerfolg Gerhard Schröders nicht nur einer neuen Idee, sondern auch seiner Gabe, sie darzustellen. Was an Gerhard Schröder als Politiker zunächst auffällt, ist das offensichtlich »Gemachte” seiner Erscheinung. Dies nicht nur vor dem Hintergrund der innerparteilichen Absprachen, auch seine Erscheinung entwickelte sich im Wahlkampf geradezu zur Hohlform jener Ideen, die das Phantom der »Neuen Mitte” umgeben. Der neue Kanzler ist ihre Personifizierung. Sein Projekt ist die Projektionsfläche. Genauso synthetisch und phantomhaft wie die Neue Mitte wirkt der neue Kanzler selbst. Was sollte sie auch sein: Die Mitte? Ist sie nicht das Unspezifische selbst? Und ist Schröder nicht auch?
Gerhard Schröder hat sich einige Attribute zugelegt, die für die »neue Mitte” stehen könnten, und je mehr er sein will, wie man sich die neue Mitte vorstellt, um so unspezifischer wirkt er. Vergleicht man die Bilder von Gerhard Schröder als Vorsitzendem der Jungsozialisten mit dem Redner bei seiner Regierungserklärung zwanzig Jahre später, so fällt auf wie stark er früher Politik aus der ‘Mitte seiner Person’ heraus verkörpert hat. Heute, in einem Moment, da seine Politik im wesentlichen Zeichen für einen Wandel setzt, den er auch in seiner eigenen Partei zunächst nur beschwören kann, stellt er als Person vor allem eine Fiktion dar, etwas höchst Fragiles, hinter dem vorallem zunächst einmal der Entwurf selbst steht, wenngleich ein vielversprechender. »Vielversprechend” ist in der Politik aber etwas eher Gefährliches, wer viel verspricht muss auch viel halten und so verweist die Medienfigur Gerhard Schröders vor allem auf neue Möglichkeiten, deren Erfüllung sich bislang eher anderswo ereignet. Die Person hinter der Kanzlerfigur, wenn man beides überhaupt noch trennen kann und will, wirkte in den letzten Jahren immer maskenhafter und was man von ihr vor allem sah, war ein »Schauspieler”, der diese Trennung nicht mehr macht. Gute Mimen stolpern auch mal. Gerhard Schröder nicht mehr. Er wurde zum unerschütterlichen Moderator all jener Impulse und Zeichen, deren Summe und Mittelmaß er bildet.
Was immer er darstellt, es verweist auf etwas anderes: Wenn er bei seinem Besuch in London mit schmunzelnder Genugtuung die Freundschaft zwischen ihm und Tony Blair bekanntgibt, adoptiert er die Geste Kohls im Verhältnis zu Mitterand. Wenn er bei einer früheren Reise in die USA sich mit einem Straßenpolizisten fotografieren läßt, adoptiert er das New Yorker Konzept der inneren Sicherheit von Rudolph Giuliani in sein eigenes Imageprogramm. In den demonstrativen Begegnungen mit Unternehmern, Kulturintellektuellen oder dem Pförtner des Kanzleramts machte er sich zur Schnittstelle und zum Moderator dessen, wofür jeder einzelne dieser Menschen steht. Und im Wahlkampf, wenn er seine Hände in Siegerpose über dem Kopf schüttelte, wirkte er oft wie das Kleinstadtdouble seines Kollegen von New Labour. Doch hat es ihm nicht geschadet.
Seine Reden wirkten breiig und doch schufen sie eine rhetorische Oberfläche, die eine neue Stimmungs- und Sachlage nach sechzehn Jahren Kohl glänzend umschloß und den Redner selbst verbarg.
Der Wahlkämpfer Gerhard Schröder blieb sich auch bei der Vorstellung seines Regierungsprogrammes treu. Ans Rednerpult trat ein Mann, der entschlossen, aber nicht verkrampft erschien, der seinen eigenen Worten bisweilen genießerisch nachschmeckte und im jovialen Ton seine Nebensätze an Freunde verteilte, die seine Meinung ja kennen. Im Grunde ist er weniger ein mitreißender Redner, denn ein geübter Rezitator seiner Vorlage. So betonen denn auch die wiegenden Bewegungen seiner Hände den Rhythmus der Sprache, und das viel stärker als ihren Inhalt. Und was die Stimme betont, ist häufig das Verbindende - das bedeutungsvolle »und” zwischen den Sachverhalten (»Notwendigkeit und Berechtigung”), sowie jenes kleine Wörtchen »eine” im Gegensinn zu »viele” oder »verschiedene”, wenn er beispielsweise über Ost- und Westdeutschland als einer Nation spricht. Gerhard Schröder betont die integrativen Momente seiner Politik und es ist klar, daß dies zur Politik der neuen Mitte gehört. Doch apropos - was war eigentlich die alte Mitte? Ist sie nicht zuletzt in Botho Strauß Stück »Schlußchor” aufgetreten - als jener große, ahnungslose Chor von Menschen, der kurz vor dem Fall der Mauer noch einmal zum Klassentreffen des mittleren Mittelstandes angetreten waren, um als Gruppe »Individualität” zu buchstabieren? Und jetzt singt dieses Ensemble einstimmig »WIR”?
Vielleicht wird die neue Mitte irgenwann von selbst erscheinen und sich in die Zeichenwelt, die man ihrem Vorhandensein vorab errichtet hat, hineinfließen - in die Hauptstadt und das zentrale Kulturministerium zum Beispiel. Vielleicht wird der Umbau der Gesellschaft diese Neue Mitte tatsächlich schaffen, so wie Gerhard Schröder, der selfmade-Mann, sich auf eine zähe und kämpferische Weise auch selbst geschaffen hat. Doch vorerst gilt es, sie als Symbol zu etablieren und alle Umstände, die dieses Mittelfeld markieren, als Rahmen zu moderieren. Der Grundeindruck, den der Redner am Kanzlerpult dabei erweckt, ist so moderat wie das, was er momentan zu sagen hat. Die Gegensätze von oben und unten versöhnt Gerhard Schröder in der Mitte, rechts und links in der Vokabel modern. Risikokapital wird Chancenkapital und das alles passiert »schrittweise - fettgedruckt”.
Als Politiker ist Gerhard Schröder vor allem ein Moderator politischer Gesten, d.h. neuer Schlagworte: neue Gründerzeit und neue Mittelstandspolitik, Neue Mitte und neue Berliner Republik. Es ist eine Symbolpolitik und Gerhard Schröder symbolisiert sie. Seine Gesten sollen ermutigen und Stolz vermitteln. Sie appellieren an die Vernunft und eine neue Aufbruchstimmung. Leidenschaft kann der moderierende Darsteller mit ihnen allerdings nur beschwören, kaum selber entwickeln. Seine Sache ist all zu sehr die des Ausgleichs, denn sein Führungsansprung resultiert aus der Gabe zwischen verschiedenen Kräften zu moderieren. Das ist zeitgemäß, aber ein wenig blutarm. Leidenschaft, die etwas mehr ist als Ernst und Dringlichkeit, kann der Kanzler der Neuen Mitte nur entwickeln, wenn er scheinbar aus der Rolle fällt. Kein noch so nichtiger Anlaß von seiten der Opposition war ihm bei seinem Auftritt daher zu schade, um seine sorgsam ausbalancierten Rolle zu verlassen und sich von seiner »lebhaften” Seite zu zeigen. Auch das sind Momente, die der Redner sehr bewußt gestaltet, aber sie zeigen den Mann (entgegen seiner Absicht) von einer anderen Seite: kleinmütig und selbstgefällig. Wie er die politischen Verlierer verhöhnt und deren Einwürfe demagogisch verkehrt, das paßt so gar nicht in das Bild des fairen Souveräns, das er von sich selbst auch durch seine Gesten des Respekts für Helmut Kohl entwarf. Und doch - um als Moderator wenigstens ein Minimum an Persönlichkeit zu zeigen, muß sich Gerhard Schröder diese Rückfälle in die Person über den Umweg des Zorns und der Späße selber schaffen, und sei es, indem er seinen Parteifreunden lachend zuruft: »Jetzt könnt ihr aber mal klatschen”.
Nichts charakterisiert ihn als politischen Darsteller so deutlich wie solche »Zwischenfälle”. Sie zeigen auch die menschliche Tragik dieser medialen Figur: Ihre Rolle vertraut man so ungern, weil der Mensch dahinter fehlt, und wo der Mensch sich offenbart, sieht man ihn ungern in der Rolle. So lange Gerhard Schröder Moderator bleibt und das heißt, selber moderat, so lange bleibt er der Herr jener politischen Fiktion, die er gemacht hat und die ihn ausmacht. Doch sobald er improvisiert und seine Person die Rolle durchtränkt, enttäuscht er. Da hat der Staatsvater plötzlich etwas von einem Familienvater, der seinem Sohn sagt: Wenn du Probleme hast, komm zu mir - aber ich will sie nicht wissen. Der sagt: Junge, komm in meine Arme - aber Geld hab’ ich keines.
Über Helmut Kohl hat man Witze gemacht. Gerhard Schröder macht sie selber. Auch das gehört zum Image des lockeren und entspannt dynamischen Neuerers. Man kennt das Bild, wenn seine Lippen sich leicht zum Kußmund wölben, dann gibt Papa einen zum besten. Es müssen aber nicht immer die Witze und Anflüge von Zorn sein, mit denen er sich menschlich kenntlich macht. Kurz vor dem Witzchen oder Scherz schlummert das Schmunzeln. In Gerhard Schröders Antrittsrede ließ sich auch eine Spur des Schmunzelns verfolgen. Geschmunzelt hat der neue Kanzler vorm Bundestag bei folgenden Sichworten: lähmender Pessimismus, Standort Deutschland, Eliten, Loveparade und Wolfgang Schäuble. Nun, irgendwas meint der Kanzler da vielleicht nicht ganz im Ernst.
Helmut Kohl war als Kanzler am eindrucksvollsten, wenn er aus der Rolle fiel. So dröge seine Figur im Amt oft wirkte, so erstaunlich war seine Erscheinung da, wo es mit ihm durchging - wenn er einem Mann entgegenstürmte, der ihn mit Eiern bewarf, oder wenn er in Strickjacke mit Garbatschow die deutsche Einheit ausgehandelt hat. Was Kohl an Politik allein schon durch seine Statur verkörpert hat - ein Zentrum durch Masse, kann Gerhard Schröder als Darsteller nur durch die Errichtung einer Oberfläche bedeuten. Die Zeichen, die er setzt, sind tatsächlich verheißungsvoll. Im Plenarsaal war die Opposition hellwach. Geschlafen wurde nur in den Reihen der SPD. Die Anwesenheit des alten Kanzlers wirkte dabei irritierend, aber nicht, weil er noch den politischen Gegner verkörpert. Das Bild des Bundestages zeigte deutlich, daß dieser die SPD selber ist, die als Partei den Aufbruch verschläft, den ihr eigener Kanzler entwirft. Nein, irritierend war die Begegnung zwischen Koloß und Moderator, Verkörperung und Symbol. Beide machen in ihrer Person etwas anwesend. In dem einen Fall wurde das Amt und die Rolle kaum hergezeigt, in dem anderen zum Spiel. Es ist imponiert, wie da einer steht und die Rolle seines Lebens spielt und man spürt, dass er dieses Land und seine Partei verändern will und sich dafür in Positur bringt und loslegt, endlich da, indem er alle mitnimmt durch sein Spiel. Schröder und Kohl, zwei große Darsteller, zwei Welten.
TdZ 1/1999 - Kurzfassung im Tagesspiegel, 12.11.1998