«Es ist nicht gut, was uns gut tut»
Zum Jedermann 2010 in der Regie von Christian Stückl
von Thomas Oberender
Obgleich Regisseuren sonst keine Denkmäler errichtet werden, bemerkte Ernst Lothar, stellt der Jedermann vor dem Domplatz genau solch ein Monument dar, und es steht für seinen Erfinder – Max Reinhardt. Wer immer sich späterhin mit diesem Stück an diesem Ort befasste, Reinhardt blieb der «Überregisseur», mit dessen Schöpfung sich all seine Nachfolger auseinandersetzen mussten. Seine Witwe Helene Thimig kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Domplatz zurück, um als Schauspielerin und Regisseurin sein Erbe zu wahren. Sein Sohn Gottfried erwies sich durch die Einführung eines Totentanzes am Ende des Stückes bereits als zu revolutionär, worauf Ernst Haeussermann in den 1970er Jahren wieder zum Regiebuch des Meisters zurückkehrte. Doch immer blieb: das einfache Spielgerüst, der Dom als Kulisse, die Spezialeffekte der Rufer und das Sichtbarwerden der vergehenden Zeit, die mit dem Stand der Sonne und der Stimmung des Tages in das Stück hineinspielt. Letztlich standen alle nachfolgenden Regisseure vor der Aufgabe, Reinhardts Erfindungen zwar zu modifizieren, aber im Kern zu bewahren.
Diese Aufführung vor dem Dom sollte, so Reinhardt, von Beginn an kein übliches «Theater» sein. Er sprach in Hinblick auf die einfache Bretterbühne von einer «Stilbühne», die erst durch die besondere Manier der Darbietung die nötige Distanz zu der Allerweltsgeschichte des Lehrstücks schaffe. Wenn man das Stück heute aktualisieren wollte – zur Wirklichkeit welcher Erfahrung und geschichtlichen Situation könnte man zurückkehren? Die den historischen Vorlagen abgelauschte Sprache des Jedermann wirkt mittelalterlich, ist aber reiner, künstlicher Stil. Genauso wie das Stück kein Milieu und keine eigene, soziale Welt beschreibt, sondern aus der unverbindlichen Sphäre der Allegorie entstammt. Einen inneren Konflikt, etwa im Sinne eines Liebesabenteuers oder Machtkampfes, hat der Jedermann nicht – sieht man von seinem großen Thema, der Ankunft des Todes, ab. Vielmehr ergreift er seine Zuschauer aufgrund der Einfachheit der Spielanordnung. Es muss gestorben werden – auf diesen Schrecken kann das Stück bauen. 1920, bei der ersten Aufführung vor dem Salzburger Dom, kommt zu diesem noch der Zauber all der Zufälle in einer Naturkulisse hinzu; sie steigerten die Empfindung der Unmittelbarkeit des Geschehens, und Reinhardt bestand darauf, dass all dies so pur wir möglich geschah: nicht als Theater, sondern als reale Präsenz eines Mythos − in einer historischen Kulisse und, vermittelt durch die liturgieartige Form der Aufführung, schließlich in einer «Kommunion» von Publikum und Darstellern mit dem Glockenschlag der Erlösung endend. Dafür verzichtete Reinhardt bewusst auf alle Requisiten und künstliches Licht, denn, wie er sagte: «Symbol ist unser Spiel.»
In den ersten Jahren des Salzburger Jedermann applaudierte man am Schluss der Aufführung ebenso wenig wie am Ende einer Messe. Vielmehr gingen die Besucher schweigend und tief gerührt vom Platz. «Ich glaube,» schreibt Max Reinhardt in einem Festspielkonzept vom Juli 1918, «dass Salzburg, vermöge seiner wundervoll zentralen Lage, seiner landschaftlichen und architektonischen Pracht, seiner historischen Merkwürdigkeiten und Erinnerungen und nicht zuletzt seiner unberührten Jungfräulichkeit wegen, dazu berufen ist, ein Wallfahrtsort zu werden für die zahllosen Menschen, die sich aus dem blutigen Greuel dieser Zeit nach den Erlösungen der Kunst sehnen.» An Aufführungen wie dieser sollten ihre Besucher genesen – Max Reinhardt wollte mit diesem Schauspiel «ganz neuen Schichten» die Kunst vermitteln und übernahm damit Verantwortung für «das Wachstum der kommenden Menschen.»
Wie mag es gewesen sein, frage ich mich beim Betrachten der Fotos jener früheren Aufführungen, wenn die gerade aus dem Krieg nach Hause Gekommenen, die Kriegsgewinnler und Verlierer, 1920 auf der Bühne ein Exempel dafür bestaunten, wie die Reue des Sünders am Ende dann doch alle Schuld tilgt? War das die Antwort auf Verdun, den Zerfall Habsburgs und die bittere Not an allem? Die Künstler probten und spielten ohne Gage und spendeten die Einnahmen guten Zwecken. Ihr Projekt umgab von Anfang an der Hauch eines heiligen Anspruchs. «Professor Reinhardt», wie ihn die Presse gern nannte, stand auf dem Zenit seines Ruhmes, und die Bilder bezeugen die festliche Atmosphäre unter den Künstlern: Man empfand sich als Vorbild und Mitglied der guten Gesellschaft und beantwortete die Kargheit der Nachkriegsumstände mit der Würde der eigenen Person. Damals, 1920 vor dem Salzburger Dom, entstand jener Kurzschluss zwischen Theater und Sakralem, der sich bei der Uraufführung durch Reinhardt 1911 im Circus Schumann nur bedingt eingestellt hatte, bescheinigte doch damals die Kritik dem Regisseur und Impresario, dass er «solche Lehrhaftigkeiten» lieber in kleineren Häusern stattfinden lassen sollte (Siegfried Jacobson).
Doch so ungünstig die Aufnahme des Stückes bei der Kritik in einer Metropole wie Berlin zunächst war, so günstig erwies sich Salzburg als Ort für eine zweite Entdeckung, denn für die Festspielgründer war die Stadt ein bewusst gewählter «Wallfahrtsort», der es den Priestern wie auch den Pilgern der Kunst gestattete, hier der politisierten Atmosphäre der Großstädte und der Nachkriegsordnung zu entkommen. Diese Sakralisierung der Kunst gelang im Salzburger Windschatten der Weltgeschichte derart erfolgreich, dass auch der nächste Weltkrieg es nicht vermochte, die Botschaft des Stückes zu desavouieren. Wahrscheinlich wurde das Märchenhafte seiner Parabel nie nüchterner empfunden als damals vor der Kulisse des zerbombten Doms. Noch immer ging etwas Heilsames von diesem Spiel aus. Aber in ganz neuer Weise: Der Salzburger Jedermann hatte selbst den Status eines Heiligtums angenommen – er war inzwischen Teil einer lokalen Folklore und ein Identitätsmoment geworden, sodass allein die Tatsache der Wiederaufnahme 1946 eine Form von froher Botschaft war. Auf diese Weise ließ sich in Salzburg, das noch nicht entnazifiziert war, verarmt, besetzt und von Flüchtlingen heimgesucht, umgehend an die kulturelle Situation der Vorkriegsjahre anknüpfen.
Konnte dieses Stück überhaupt veralten? Vom Nationalsozialismus oder dem Sowjetregime abgesehen, die sowohl die Besitz-, die Macht- als auch die Glaubensverhältnisse neu definierten, blieben die gesellschaftlichen Verhältnisse, die das pseudomittelalterliche Stück beschrieb, unangetastet. Schon Senta Berger wies Mitte der 1970er Jahre darauf hin, dass es keineswegs die «Systemfrage» stelle: «Es geht gar nicht um das (Gesellschafts-)System, das selbst schon das gerechte Verhältnis von ,Geben‘ und ,Nehmen‘ (oder ,Lieben‘ und ,Geliebt-Werden‘) zu regeln hätte. Es geht nicht um das Verhältnis Herr/Knecht, sondern ,nur‘ um das Verhalten des Herrn zum Knecht.» Nicht eine spezifische Form von Macht wird an den Pranger gestellt, sondern die mangelnde Mildtätigkeit des Jedermann. So klagt der aus seiner Behausung vertriebene Schuldknecht nicht die Ordnung der Welt an, sondern Jedermanns fehlende Nächstenliebe. Er ist die einzige Figur, die im Diesseits, also in ihrem eigenen Leben durch jene Hölle geht, die sonst im Stück schön jenseits bleibt. Und ohne den Auftritt des Todes hätte Hofmannsthals Stück überhaupt keinen Konflikt, denn die Machtfrage stellt nur der Tod – nicht der Autor, wie Senta Berger bemerkt.
Tatsächlich ist Hofmannsthals Welt nicht vergangen. Sie wird regiert vom Geld, und auch die heftigste Krise erschüttert zwar das System, doch stellt sie es nicht in Frage. Die Vermutung, dass er Georg Simmels Philosophie des Geldes dramatisiere, fand Hofmannsthal, einer Erinnerung Graf Kesslers zufolge, gut getroffen: «Ich hatte das Bedürfnis, einmal unserer Zeit näher zu kommen. Nun ist das Besondere unserer Zeit, dass der Besitz eine ganz andere Rolle spielt als jemals früher, nicht nur für den Banker, den Philister, sondern auch für das, was wir einen kultivierten Menschen ansehen. Und wo kommt dieses Verhältnis des Menschen zu seinem Besitz am schärfsten zum Ausdruck? Beim Sterben.» Das Geld ist der wahre Gott. Darauf, dass im Kapitalismus selbst eine Religion zu erblicken sei, hat Walter Benjamin 1921 in seinem berühmt gewordenen Fragment Kapitalismus als Religion hingewiesen, denn «der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.» Die Eigentümlichkeiten der kapitalistischen Religion bestanden für Benjamin unter anderem darin, dass sie eine reine Kultreligion ist, die keiner speziellen Dogmatik oder Theologie bedarf. Vielmehr verbirgt sich der Gott dieses Kults, indem er zur «unsichtbaren Hand» wird und dazu verführt, dass der Mensch sich selbst vergöttert. Dies ist die Tatsachenwelt, von der Hofmannsthals Mysterienspiel kündet und an der es nicht rüttelt.
Dabei war das Beispiel der Entsühnung, das Hofmannsthals Drama anbietet, schon zu Zeiten der mittelalterlichen Vorlage der Ausdruck einer historischen Übergangsepoche, in der das religiöse Zeitalter mit der beginnenden Neuzeit konfrontiert wurde und durch warnende Spiele wie den Everyman auf die de facto sich herausbildende Gesellschaft des Geldes reagierte. Die Höhepunkte der Verbreitung von Mysterien- und Passionsspielen lagen stets in historischen Übergangsphasen. Sie sind theatrale Einübungsformen in den Geist des Neuen, auch wenn er in restaurativer Gestalt daherkommt. In einem mehr oder weniger offen zur Religion gewordenen Kapitalismus, der keine Formen der Entsühnung anbietet, sondern seelisch wie wirtschaftlich zur zunehmenden Verschuldung führt, bot ein Mysterienspiel wie der Jedermann das willkommene Beispiel einer «machbaren» Erlösung. Denn Erlösung muss sein – wenngleich nicht mehr durch die Läuterung der Seele, sondern durch die Beachtung der moralischen Gebote und der des Gewissens. «Ist der Moralismus», fragt Pier Paolo Pasolini in einem Interview zu Teorema, «nicht die Religion des Bürgertums?» Und, so fragt er weiter, hat nicht der Bürger «die Seele durch das Gewissen ersetzt?»
Der Jedermann vor dem Salzburger Dom ist ein Stück der Gewissensprüfung, das uns heute weniger bei der Angst um unsere unsterbliche Seele packt, als bei unserem schlechten Gewissen. Weit mehr als unseren Glauben prüft es unsere Moralität. Widerwärtig und suspekt an Jedermann ist uns weniger seine Gottvergessenheit, als seine frivole Dekadenz, Willkür, Launenhaftigkeit und Egozentrik. Ja, die vom Tod ausgelösten Fragen des Stückes haben noch immer religiöses Gewicht, aber mehr denn je im Sinne dieses Kultus ohne Dogma und Theologie, dem wir alle dienen.
Dieser veränderten Perspektive folgt die Regie von Christian Stückl. Mit einer Aufführung, die, im Gegensatz zu Max Reinhardts Idee einer Kunstreligion, als Theater erscheinen will, nicht als Gottesdienst. Es war die erste, wirklich grundlegende Neuinterpretation von Hofmannsthals Text, die ihre eigene Heiligkeit weitestgehend abstreifte, um das religiöse Spiel als solches zu feiern. Auch in der Nachfolge Reinhardts wurde der Text pur und ohne viel Zutun stets bei Tageslicht aufgeführt, bis sich durch Stückl vieles ins Gegenteil verkehrte – plötzlich gibt es Aufführungen bei Nacht, Requisiten, Pyroeffekte und die barocke Pracht von Kostümen, die nichts mehr rekonstruieren, sondern eine eigene, spektakuläre Welt erschaffen. Wobei viele Erfindungen Max Reinhardts – wie seine Bankettszene, die Rufer auf den Türmen und Dächern der Stadt oder der bestellte Glockenschlag – von Stückl behutsam in die eigene Fassung integriert wurden. Ähnlich wie Reinhardt konnte er den Salzburger Jedermann gerade deshalb so barock und auf seine Art spektakulär inszenieren, weil er, wie es Rolf Hoppe, der Mammon von 1983 bis 1989, formulierte, Santino Solaris’ Dom als «statischen, alterslosen Hauptdarsteller» unangetastet ließ. Doch er interpretierte das Stück neu und unabhängig: Stückl legte Rollen zusammen und schuf somit überraschende Bezüge wie zwischen Gutem Gesell und dem Teufel oder dem Herrgott und Armen Nachbarn. Mit dem Vorspiel der Riederinger Kinder nahm er sogar die seit den 1930er Jahren bestehende Tradition der Kinder-Jedermänner in seine Inszenierung auf, also jene freibeuterischen Straßenspiele der Salzburger Jugend, die bisweilen sogar auf der Jedermannbühne selbst stattfanden. Entscheidend aber ist, dass Christian Stückl all seine Kunst auf die Inszenierung eines religiösen Stückes verwendete, das nun vor allem als ein Morality play ergriff und überzeugte, nicht als Mysterienspiel.
Nicholas Ofczarek ist ein moderner Schauspieler, der in den Stücken von Raimund, Nestroy, Grillparzer oder Schönherr brillierte. Vielleicht könnte man ihn sogar einen Volksschauspieler nennen, aber zugleich verkörpert er eine neue Generation von Theaterkünstlern. Er spielt diese Rollen, ähnlich wie Birgit Minichmayr oder Angelika Richter, als ein Künstler der Großstadt – mit einem direkten Ton und einer verblüffenden Gabe zur Härte und gleichzeitiger Brüchigkeit. Bei aller Kunstfertigkeit entsteht in ihrem Spiel die Ausstrahlung authentischer Menschen im Hier und Jetzt. Es ist das Erschrecken vor sich selbst − vor der eigenen Selbstherrlichkeit, vor der Unumkehrbarkeit der eigenen Fehler und deren Folgen −, das Jedermann in der Begegnung mit der Figur der Werke überkommt, dem eigentlichen Bekehrungs- oder Verwandlungsmotiv des Stückes. Nur hier versteht man Jedermanns Umkehr wirklich. In den Augen der früheren Geliebten, die ihn noch immer mit Liebe betrachtet, entdeckt Jedermann, was er versäumte und wie alles ihn täuschte. Armer reicher Mann – wie viel Genuss von sich selbst und dennoch Unschönes muss man zuvor an ihm erschauen, um das heilige Erschrecken der Figur über sich selbst und die eigene Sterblichkeit empfinden zu können. Christian Stückl hat den Gottesdienst dafür wieder in die Kirche verlegt. Davor aber zeigt er Theater, das sich den Lebenden stellt.