«Grenzen zerfließen»
Brief an den Fotografen und Grafiker Christian Riis-Ruggaber
von Thomas Oberender
Zürich, März 2005
Lieber Christian,
hier, als ungeordnete Notizen, einige Gedanken zum Spielzeitheft, dass ja eine Bewegung zwischen Aufführung und Ausstellung vollzeiht - mit der Ausstellung meine ich die Fotostrecke über die Menschen im White Cube, über die wir schon gesprochen haben. Hier also eine Art Zielbeschreibung oder Gedankenvorrat für die gestalterische Arbeit, die vor uns liegt.
Einige Entscheidungen, z.B. das Format und die Bündelung einzelner Hefte zum Buch, haben wir relativ rasch getroffen und, nach ersten Irrwegen, auch eine Grundlinie für die Gestaltung gefunden. Da wir mit der Arbeit an der Fotostrecke und dem Layout der Hefte nun schnell voranschreiten müssen, versuche ich noch einmal, den «Charakter» des Heftes und natürlich auch des Theaterprojekts zu beschreiben. Dies ist allerdings ein kompliziertes Unterfangen, denn der «Charakter» eines Theaters ist das Resultat sehr vieler Perspektiven - man kann ihn natürlich am Spielplan ablesen, an der Kombination von Stoffen, Schauspielern, Regisseuren und Räumen. An der Fähigkeit, in der Arbeit eines Theaters ein hohes Maß an innerer Widersprüchlichkeit zu organisieren und dabei Grenzen zu ziehen, bzw. zu verneinen. Wie fördert und entwickelt ein Haus sein Ensemble, wie beweglich bleibt seine weltanschauliche Haltung, wie reagiert es auf sein Publikum und wo wird es grundsätzlich? Jede Perspektive kann zu ganz unterschiedlichen Beurteilungen der Arbeit ein und desselben Theaters führen und dennoch zutreffend bleiben. Nur aus der Überlagerung dieser Perspektiven entsteht ein Abdruck seiner künstlerischen und gesellschaftlichen Haltungen. Diese Kontur ist, wenn wir in einigen Monaten an den Start gehen, zwar vorab in vielerlei Hinsicht disponiert, bleibt aber grundsätzlich immer ein Versprechen. Ich will also versuchen, stattdessen den Rahmen zu beschreiben, innerhalb dessen wir planen und gestalten.
Die «Leinwand» der Bühne ist längst zerschnitten, ihre Stoffe und Zeigeweisen wurden profan, persönlich, privat, zufallsoffen, intertextuell, roh, medienreflexiv und konzeptionell. «Das» Theater besteht aus einer unübersehbaren Gleichzeitigkeit scheinbar anachronistischster Formen und Interessen – trotz aller Neuerungen halten sich Konventionen hartnäckig und ist bisweilen nicht klar auszumachen, wo die größere Radikalität und Provokation zu verorten ist: ob im Lager der traditionellen Interpreten von szenischer Literatur oder im Lager der visionären Kreateure neuer, originärer Stückformen. Vielleicht ist dieses Lagerdenken selbst eher Ausdruck einer fatalen Kasernierung des Geistes, die der Erfahrung der Freiheit, die durch die Erfahrung eines Kunstwerkes vermittelt werden kann, entgegensteht. Denn diese befreiende Erfahrung hängt ja nicht von Methoden ab sondern beruht darauf, dass Künstler eine «Blickverschiebung» bewirken, die es erlaubte, die Dinge grundsätzlich anders zu sehen.
Bestimmte Konventionen, die früher die grundsätzliche Andersartigkeit des Kunstwerks in den Augen des Zuschauers immer präsent hielten, ein besonderer «Bühnenton» oder die klassischen «Theatergesten» etwa, die noch in der Oper oder im No-Theater lebendig scheinen, sind auf der Theaterbühne nahezu verschwunden. Der Versuch eine «reale» Erfahrung zu stimulieren, beruht heute auf Versuchen, mich, als Kunsterlebenden, in einer ganz anderen Weise über die Schwelle zu ziehen, als ich dies in der Vergangenheit erlebte – ja, ich glaube, dass diese Schwelle der Ort der eigentlichen Radikalisierung ist. Man muss dafür auch gar keine Theateraufführungen im engeren Sinne beschreiben, ich könnte dies wahrscheinlich am anschaulichsten anhand der Bilder von Gerhard Richter, oder der Konzerte von Heiner Goebbels oder Choreografien von William Forsythe. Denn in diesen Aufführungen stellten sich Momente ein, in denen sich beispielsweise ein Orchester scheinbar selbst dirigiert, Geräusche in Musik umschlugen oder auf dem Tanzboden sich die isolierten Körpergesten und das Zusammenspiel der Tänzer wie zufällig fügen und plötzlich zur strengen Konfiguration einer Choreografie verdichten, sich ins Chaos steigern, kulminieren und eine neue Konfiguration hervorbringen. Es ist, so merkwürdig es klingt, eine Kunst ohne sichtbares Dirigat, oder, anders formuliert, wir, die Zuschauer werden zu «Dirigenten», die in den lebendigen Prozess der Kreation plötzlich selbst eine Art von Struktur hineinsehen oder ihm entnehmen können. Das Theater wiederum perforiert die Hermetik seiner Aufführung z.B. durch die Arbeit mit Laien, die bewusste Offenhaltung der Inszenierung für Ungeprobtes, Theaterfremdes, zufällig Wirkendes oder einen Einsatz der Schauspieler, der gerade das einfordert, was nicht mehr «gespielt» werden kann und innerhalb der Theaterverabredung eine Störung provoziert. Schauspieler wirken heute oft eindringlich, weil sie Figuren entwickeln, die sich an den Formen jenseits der Bühne orientieren – sie erscheinen als nonfiction characters. Und zugleich fiktionalisieren Theateraufführungen wie die von Rimini Protokoll oder Steffi Lorey städtische Räume und scheinbar authentisches Material so raffiniert, dass die Grenzen zwischen Artifizellem und Realem zerfliessen.
Dies ist alles schon da gewesen? Und wenn schon. Ich kann nur tastend formulieren, worin diese Radikalisierung eigentlich besteht – etwa im Wegfall der sichtbaren, hegemonialen Steuerung des Kunstwerks selbst, das, ob dies nun in der Malerei, Musik oder im Tanz geschieht, ein Eigenleben hervorbringt, welches uns als Interpreten und Mitwirkende absichtlich in den Kreationsprozess mit einschließt und über die Schwelle zieht in den Bereich der Produktion selbst. Im übrigen habe ich solche Momente auch in Inszenierungen erlebt, deren Schöpfer sich für nichts weniger interessiert haben, als das sogenannte «Private». Gerade die Meister der Konvention, der texthörigen Regisseure, der stückgläubigen Interpreten, haben solche Aufbrüche des Einmaligen, der bewegenden Identität zwischen Darsteller und Darstellung entstehen lassen. Und dies hat, ich kann es nicht anders erklären, in der einen wie in der anderen Form, zu tun mit dem Umschlag einer komplexen Festlegung in etwas, das nichts mehr bloß bedeutet oder repräsentiert, sondern vielmehr «ist». In der Linguistik hat sich für dieses Heraustreten aus dem bloß Bedeutenden das Wort «performativ» durchgesetzt, das in der Sprach- oder Sprechakttheorie eine Kommunikationsform beschreibt, die nichts bedeutet, sondern selbst Tat ist (z.B. das «Ja»-Wort bei der Hochzeit).
«Modellstadt» sollte das Motto unserer ersten Spielzeit sein. In Botho Strauss neuem Stück «Nach der Liebe beginnt ihre Geschichte» betreiben die Hauptfiguren des Stückes ein Architekturbüro, das eine Zukunftsstadt - eine gated community namens «Beaumonde» – plant und vermarktet, die ihnen schließlich selbst zur letzten Rettung wird. In Tschechows Kirschgarten werden, man hört es am Ende des Stückes, die alten Bäume gefällt und das Land parzelliert, um erholungssüchtigen Städtern Platz für eine Datscha im Grünen zu schaffen. In Buero Vallejos Stück «Brennende Finsternis» wird die kleine Gemeinschaft eines Blindeninternats stellvertretend für die Gesellschaft Spaniens gezeigt – eine Modellgemeinschaft, an einem künstlichen, scheinbar weltfremden Ort. Schorsch Kamerun lässt Metropolis auferstehen, diesmals als Tonfilm, um die Stadt der Stadt zu zeigen. Und die «Modellstadt»-Installation von Matthias Hartmann soll mitternächtliche Stadtansichten – Blicke auf die Fassade eines Wohnhauses, die Strassenfront eines Lokals, eine Haltestelle zeigen, für deren stummen Bilder Schweizer Autoren gute oder böse Nacht-Geschichten schreiben.
Aber wir haben gemerkt, dass die Visualisierung dieser Idee unbefriedigend wirkte, weil sie didaktisch blieb, erzwungen, zu eng, zu seminaristisch, zu weit entfernt von dem, was sich als Erfahrung in der Arbeit dieses Theaters grundsätzlich ausdrücken soll. Bei der Ausformulierung der «Modellstadt»-Idee habe ich gespürt, wie unzureichend jeder lebenshypothetische Ansatz bleibt, solange er nichts als eine illustrierte These ist, immer lediglich Alibi oder Ideenersatz, keine Kraft, die uns als Erfahrungssuche antreibt. Dieser Erkenntnisweg kostete uns alle einige Wochen Arbeitszeit. Aber er führte auch zu einer Erkenntnis: Lass’ uns über die Stücke als ideelle Räume sprechen – aber so, dass wir sie aus der Perspektive der Menschen wahrnehmen, d.h. aus der Perspektive der am weitesten am Rand befindlichen Figuren innerhalb dieser Stücke selbst. Sie sollen das Geschehen im Zentrum der Texte als Beobachter beschreiben. Aus dieser exzentrischen Position heraus wird das Zerbrechen der Modelle als das Scheitern von Lebensplänen viel eindringlicher und konkreter formulierbar als durch illustrative Fotostrecken von außen. Und die Fotostrecke wiederum widmen wir nicht dem Theater, sondern seiner Stadt und den Bewohnern – dem spurenübersäte Leben und Gezeichnetsein der Menschen, die nur durch unseren Blick auf sie, durch ihr Wahrgenommensein von uns Mitmenschen anfangen, im doppelten Sinne des Wortes «eine Rolle» zu spielen.
So entstand die Idee der Portraitstrecke mit Bürgern der Stadt - wir stellen einen White Cube auf den Bürkliplatz und fotografieren dort Passanten, und nach einigen Tagen bringen wir dann diese temporäre «Bühne für die Bürger» in die Black Box des Theaters und fotografieren sie dort. Dieser Versuch, den Zürchern selbst einen Autritt zu geben, sollte trotzdem eine Form bilden, nicht auf Schnappschüsse zielen. Eine solche Serie von still gestellten Passanten hätte in meinen Augen viel mit der übergeordneten Sehnsucht des Theaterprojekts Zürich aus meiner Sicht zu tun: Jeder Einzelfall, rücken wir ihm nur nahe genug, spricht von allen. Die Intensivstationen des Lebens, wie Botho Stauss das nannte, Traum, Schmerz, Lust und Schrei, sind absolut. Unsere Ideen arbeiten sich an ihnen ab, auch die des Politischen. Aber es bleibt ein unauflösbarer Rest und er lässt sich, wenn ich genau genug, kalt und empathisch zugleich hinsehe, in den Körperspuren der Einzelnen, ihrer Sprache, ihrem Blick entdecken. Etwas, das über uns, als Einzelne, hinausgeht, etwas mit uns macht. Psychologen beschäftigen sich mit diesem «Rest», Soziologen, Philosophen, Therapeuten und Kriminologen, Literaten natürlich und Theologen. Genauso Architekten, Manager und Werbetexter. Als Ahnende und Technokraten, als Trainer und Trainierte. Wenn ich aus einer Duane Hanson-Ausstellung zurück auf die Strasse komme, sehe ich plötzlich in den Menschen die wandelnde Skulptur einer gelebten Biografie - bewundernswert und unerschöpflich ist der Reichtum an individuellen Zeichen und Spuren, das Geformtsein des Körpers und seiner Kleidung als Reagenz der auf ihn einwirkenden Einflüsse, Selbstbilder, Resignationen und tapfer bewahrte Hoffnungen. Sie machen Menschen dick und stotternd, glamourös und eloquent. Aber – und das interessiert mich im Hinblick auf unser Theater – es gibt ihnen etwas Eigenes, das zugleich das Zeugnis von etwas ist, das nicht nur ihnen eigen ist, sondern sich in ihnen durchsetzt, sie formt, belädt, verstummen macht oder aggressiv. Was ist das? Richard Avedon hat es auf seinen Fotos erfasst, Walker Evens, Thomas Ruff, William Eggleston, die großen Portraitgemälde von Franz Gertsch auch und im Grunde träumt jede Aufführung von diesem AUGENBLICK, in dem es sich zeigt – oft ist ein gesamter Abend nichts anderes als ein langer Anlauf, der sich in diesem einen Moment zu erlösen sucht. Wie fragwürdig ist die Idee, dass uns eine Aufführung einen ganzen Abend lang unterhalten oder bewegen muss, sind doch die meisten Stücke nichts anderes als Wegbeschreibungen hin zu diesen zwei, drei bewegenden Konstellationen, in denen plötzlich etwas umbricht, das uns, so es glückt, erfasst, konsterniert und bewegt. Weil es einen Aufschluss gibt. Einen Schritt über die Grenze hinaus andeutet und anbietet, der von Seiten der Spielenden getan wird oder eben nicht. Wir suchen das, wofür Duane Hanson jahrelang Hände, Brüste, Schenkel und Gesichter sammelte, um sie dann zu Skulpturen zusammenzusetzen, die er in Harz und Bronze goss, weil sie plötzlich das «Ganze» eines Menschen zeigen, den es so, außer in den Augen des Künstlers, nie gab.
Die Fotostrecke wäre eine solche Schule des Blicks – Menschen, denen wir in dieser Stadt zufällig begegnen und die für eine kurze Zeit aus ihrem Tagwerk heraustreten und auf einer Bühne stillstehen, ziehen uns, als Betrachter, in das Leben der Portraitierten hinein. Hansons Skulpturen schauen immer nach innen – sie leiten und führen unseren Blick in ihren Zustand und dieser Zustand ist auch ein gesellschaftlicher, er zeugt davon, was eine Gesellschaft und ein Leben mit diesen Menschen macht. Sie hat etwas zu tun mit der Arbeit auf diesen einen Augenblick hin, der sich zwar seiner planmäßigen Erarbeitung entzieht und immer auf das Kairos des glücklich erfassten Moments angewiesen bleibt, aber eine grundsätzliche Sehnsucht jeder Art von Darstellung beschreibt. Wir suchen dieses Moment in den Gesichtern der Passanten, begreifen den Menschen des Zufalls als einen Darsteller seines Lebens, als Figur, als Medium, dessen Dasein spricht – von etwas, das, in geglückten Momenten, auch ein Schauspieler zum Vorschein bringt. Für unsere Fotostrecke sind die Menschen auf der Strasse die Darsteller, die eigentlichen Erzähler und Verkörperer. Deshalb ist die Fotostrecke auch ein symbolischer Weg: Wir schlagen das Podest mitten in der Stadt auf, und, nachdem es von vielen, vielen Menschen bestiegen wurde, bringen wir es auf seiner letzten Station auf die Bühne des Pfauen – leer, als Geste der Aufforderung und Hoffnung. Die Fotos der Personen im Portfolio deiner Website haben genau die Qualität, von der ich im Hinblick auf die Skulpturen Duane Hansons gesprochen habe und ich bin also voller Vertrauen auf dein Suchen und Sammeln im Passantenstrom der Züricher Strassen.
Soweit also zum Rahmen unserer Hoffnungen und Gedanken. Ich bin nach wie vor bezaubert von der Idee der großen Schiefertafel, die im Foyer des Pfauen und Schiffbaues installiert wird. Sie ist eine Schnittstelle: Besucher können mit Kreide ihre Eindrücke (wie in ein Gästebuch) an die Wand schreiben und wir können auf dieser Tafel auf unsere Arbeit hinweisen: Vorstellungstermine, Veranstaltungen, Neuigkeiten. Diese Fläche ist offen, demokratisch, flüchtig. Ich denke, diese Idee sollte sich auch da, wo wir die Tafel vorab im Heft zitieren, in der Ausschnittshaftigkeit der Abbildung ausdrücken.
Die nächsten Entscheidungen betreffen in meinen Augen Detailfragen: Wie wird das Podest aussehen? Volker Hintermeier wird dir die white box entwerfen und die Werkstätten des Schauspielhauses werden sie bauen. Wie werden die kurzen Interviews (ohne Fragen) den Fotos zugesellt? Wie verteilen wir den Platz innerhalb der sieben Hefte, und, und, und. Darüber diskutieren wir in den kommenden Tagen. Für heute: Frohes Schaffen, mit herzlichem Gruss,
Thomas
(Nachwort - statt eines Vorworts – im Spielzeitheft der Saison 2005/6 am Schauspielhaus Zürich)