«Die Anthroposphäre verlassen»
Geht es nur um uns? Theater im Anthropozän.
Das ideal gedachte Drama, so der Literaturwissenschaftler Peter Szondi, realisiert all seine Abläufe ausschließlich in der Sphäre des Zwischenmenschlichen. Szondis Theorie des modernen Dramas von 1959 abstrahiert dabei die Vielfalt der damals praktizierten Theaterformen und entwickelt ein Idealbild des Dramas, das in seiner Reinheit so zwar kaum in der Literatur und Praxis zu finden ist, es aber erlaubt, Sonderfälle und Spielarten des autoren- und regiegeprägten Theaters in kohärente Muster zu bringen.
All den diversen Theaterformen ist gemein, dass sie die Vielfalt der Welt seit der Epoche der Aufklärung fest und ausschließlich an das Wirkungsfeld des Menschen koppeln. Für den Literaturwissenschaftler ist die Idee, sich primär auf die szenische Sphäre des Zwischenmenschlichen zu beziehen, daher der entscheidende Schlüssel. So kann auf der Bühne des idealen Dramas nur geschehen, was sich zwischen Menschen, also den Darsteller·innen der Figuren, ereignet. Es gibt keine Instanz, die von «außen» in diese Sphäre hineinsprechen darf – sei dies der·die Autor·in selbst, dessen·deren Statement eingespielt oder beiseite ge- sprochen wird, seien es Gött·innen oder Tiere. Zudem muss sich das gesamte Bühnengeschehen im Hier und Jetzt des Dialogs ereignen, also im Präsens, weshalb fast alle Theaterstücke in der Gegenwartsform der Aussprache zwischen Menschen aufgeschrieben sind.
Faszinierend an Peter Szondis Gedanken ist, dass in seiner literaturwissenschaftlichen Theorie die Rolle des Menschen auf der Bühne derart markant analysiert wird, dass man nicht umhinkommt, dieses Szenario auch außerhalb des Theaters als unsere «Normalität» zu begreifen. Durch Kant und Hegel wurde die Sphäre des sozialen «Zwischen» auch zur philosophisch dominanten Bühne, auf der, wie Szondi schreibt, Freiheit und Bindung, Wille und Entscheidung die wesentlichen Bestimmungen des Menschen darstellen. «Der Mensch», schrieb der Medientheoretiker Friedrich Kittler 1996 in Platz der Luftbrücke, «hat sich ja eigentlich erst seit der Kant-Hegel-Zeit in diese Position gebracht, an der früher Gott gestanden hat, und alles gehörte fortan ihm, die Sprache hatte er erfunden, die Arbeit, die Kunst, alles war sein Werk.» Bedeutung erlangt also seither nur, was sich im Verhalten zwischen Menschen abbildet, hier zur Sprache kommt und Konsequenzen hat.
Die europäische Guckkastenbühne zeigt seit der Eröffnung des Teatro Olimpico 1585 in seinem Inneren einen Lebens- raum, der immer ein «draußen» darstellt, einen vorgestell- ten und nachgebauten Platz anderswo in der Welt. Dieser Schauplatz ist nicht mehr die natürliche Senke in einer Landschaft, die zum griechischen Naturtheater wurde, es sind auch nicht mehr die Plätze vor mittelalterlichen Kir- chen, sondern künstlich geschaffene Höhlen. Seit 1585 ist in den autonomen Theatergebäuden der Neuzeit alles von Menschen gefertigt, und kaum zwei Jahrhunderte später werden hier nur noch Menschen auftreten. Alle sich abspie- lenden Prozesse werden allein mit seinem Handeln, seiner Perspektive und seiner Narration des Geschehens verbun- den sein – die Anthroposphäre der Bühne ist der Trainingsraum des modernen Weltgefühls, das Welten synthetisiert und entsprechend der rein menschlichen Sichtweise ordnet und verwaltet.
Kein Geist, kein Tier, kein·e Gott·Göttin oder Ding treibt die Handlung voran, nur das, was Menschen mit Men- schen tun. Diese szenische Anthroposphäre wirkt bis in unsere Zeit so selbstverständlich und normal, dass all das, was sie ausspart, kaum auffällt – weder werden auf ihr Maschinen zu Akteur·innen noch verbinden wir mit den Schauspieler·innen auf der Bühne die Präsenz anderer We- sen, wie unserer Ahn·innen oder Dämon·innen. Erst wenn wir den Blick zurückwenden – auf die Welt der populären Künste, auf die karnevaleske Bühne des Wiener Volkstheaters, auf der Harlekin seine Späße trieb und Menschen zerstückelt, gekocht und neu geboren wurden, auf die Osterspiele mit ihren Heiligen und Tieren oder auf das skulpturale «Theater der Dinge» des Bauhauses –, entdecken wir handlungsbestimmende Kräfte, die sich nicht im Zwischenmenschlichen auflösen und auch nicht der eigentlichen Anthroposphäre angehören.
Dem Drama der Aufklärung von Lessing oder Schiller folgten auf der Bühne bald gegenaufklärerische Romantiker wie Kleist oder Tieck, die die Macht des Menschen magisch oder ironisch brechen sollten und die Gestirne oder den Apparat des Theaters selbst wieder zu Mitspielenden werden ließen. Aber auch ihre literarische Gegenaufklärung blieb bei der Verkörperung all dessen, was die Handlung auf der Bühne prägt, auf den Menschen angewiesen. Theatrale Formen wie Seespiele und weltliche Feuerwerke, die ihr Spiel mit den Elementen treiben, das Pferdetheater oder der Zirkus wurden von der sich verbürgerlichenden Gesellschaft erfolgreich marginalisiert, auch wenn sie in mancher Hinsicht noch das echte «Welttheater» zeigten – all das, was auf der Bühne der Welt jenseits des Menschen mitspielt.
Zur Welt als Menschenort, wie sie vom Theater vorgestellt wurde, sind in der Kunst des 19. Jahrhunderts Maschinen- systeme und außerirdische Lebewesen in den spekulativen Welten der Science-Fiction hinzugekommen, die Fabelwesen aus der Mystik der Fantasy-Literatur oder Tiere und Pflanzen durch die innere Perspektive, die ihnen in der green literature zuteilwurde. Statt der Urheber·innen-Rolle des Menschen beschrieb Friedrich Nietzsche die formatierende Rolle der Sprache und Martin Heidegger im 20. Jahrhundert die neue Rolle der Technik, die bei Friedrich Kittler in Gestalt von Aufzeichnungs- und Sendemedien den Ausgangspunkt einer neuen Mediengeschichte bildet – einer Wissenschaft von der Wirkung der Codes und Pro- gramme, die nun, anstelle des Menschen, «selber schreiben und lesen» und sich in die materielle Welt einprägen. (…)
Aus: Thomas Oberender (Hg.): «Die Anthroposphäre verlassen», In: «Down to Earth», Spector Books, Leipzig 2021, S. 7-10