«Faust Quo Vadis?»
Udo Lindenbergs «Faust»-Zeichnungen im Neuen Museum Tübingen
Thomas Oberender
In der Hamburger Szenekneipe «Onkel Poe» hat der Regisseur Peter Zadek zum ersten Mal Udo Lindenberg auf der Bühne gesehen und ihm fiel auf, dass dessen Auftritt «unheimlich viel mit crazy shows» zu tun hatte. Diese Mischung aus «Verrücktheit und Schizophrenie» faszinierte den Regisseur, der mit Tankred Dorst 1972 die Revue «Kleiner Mann, was nun?» in Bochum inszeniert hatte und dringend aus dem «Kulturtheater» ausbrechen wollte. 1976 lud er Udo Lindenberg mit dessen Rockshow «Sister King Kong» in sein Bochumer Schauspielhaus ein und zwei Sommer später kam es zu einem Wiedersehen, bei dem zu abgründiger Stunde Zadek und Lindenberg Texte aus Goethes «Faust» zur Gitarre sangen, darunter eine Improvisation Lindenbergs zu Fausts Monolog «Habe nun ach…»
«Faust Quovadis» heißt eine im Jahr 1997 aquarellierte Zeichnung aus Lindenbergs Faust-Serie, die im Neuen Museum in Tübingen zu sehen ist. Rückblickend wirkt es so, als sei Goethes «Faust», neben Hermann Hesses «Steppenwolf», ein Text, der Udo Lindenberg nie verlassen hat. Und die nächtlichen «Faust»-Sessions von Lindenberg und Zadek führten ein paar Jahre später zu dem sicher größten und verblüffendsten Theaterspektakel der 70er Jahre, Lindenbergs «Dröhnland Symphonie», die Zadek als eine Rock-Revue mit rund 50 Akteuren auf und hinter der Bühne verwandelt hat. Sie tourte auf etlichen Sattelschleppern durch 15 Orte in Deutschland und am Ende sahen sie 100.000 Besucher. Für Zadek war es ein Freistiltheater, von dem er, wie er dem SPIEGEL sagte, hoffte, dass es «dem Showgeschäft und Theater eine belebende Spritze» verpasst und das er schlicht für «zukunftsfähig» hielt. Er war fasziniert von Lindenbergs «Naivität und differenziertem Witz» und wollte eine Show kreieren, die das Gegenteil von technologischer Gigantomanie und gelackter Ästhetik war.
Dazu trug wesentlich auch Lindenbergs eigenes Figurenpandämonium bei, das ihn seit Jahren als seine Bühnen-Familie umgab. Sie bestand aus Figuren, die zu Songs wurden oder Songs, die zu Figuren wurden wie Bodo Ballermann, der Vampir aus «0-Rhesus Negativ», der Astronaut, Bett-Män, das Boogie Woogie-Mädchen, Detective Coolman, Dr. Chicago, Elli Pyrelli, Emanuel Flippmann, Familie Kabeljau, Gene Galaxo, der Glitzerknabe, Lindenbergs Eltern Gustav und Hermine, Helmut Owiewohl, das Mädchen aus Ostberlin, Johnny Boxer, Lady Whisky, Mister Nobody, der Mutant, Øle Pinguin, Rudi Ratlos, Satellit City Fighter, Sister King Kong, der sizilianische Werwolf, Wanderin’ Man, Wotan Wahnwitz, die Klavierlehrerin und natürlich der Panikpräsident himself Udo Lindenberg.
Sie alle sind Lindenbergs frühe Adoptivkinder aus der Unter- und Oberwelt, Musik-, Phantasie- und Szenegeschöpfe und sie waren sein «Paniktheater» auf der Konzertbühne, das ihn und seine Band in eine andere Welt einbettete, in die «Auerbachs-Keller» und «Gretchen-Stuben» von heute. Lindenberg ging es nie nur um gut gemachtes Entertainment. Er stellte lieber Fragen, die wach machen für gesellschaftliche Themen. Mit seiner Figurenwelt zwischen Zirkus und Revue, Rausch und diversen touchpoints mit dem Tod lebte Lindenberg auf der Bühne wie im Leben. Die frivole Power dieser Figuren, der Catcher, Kleinwüchsigen, Diven und Gangster, ihre eigene Schönheit und Wildheit ließen um Lindenberg eine wirklich bunte Republik Deutschland entstehen. Die Tübinger Ausstellung zeigt Lindenbergs Zeichnungen von Elli Pyrelli, Detectiv Carl Coolman, Karl Brutal und Rudi Ratlos, die in den 1990er und 2000er Jahren, als die Bilder entstanden, schon Show-Geschichte waren, doch für Lindenberg noch immer in direkter Nachbarschaft zu seinen «Faust»-Zeichnungen stehen.
Entstanden sind diese Werke in Lindenbergs künstlerischer Krisenzeit und entscheidender Metamorphose. Zu alt, um länger ein Teenie-Star zu sein, war er als Rock ‚N‘ Roller auf der schwierigen Suche nach einer Alterskarriere. Er produzierte erfolgreiche Songs mit Künstlern aus der Generation seiner Enkel, aber was war er jenseits der eigenen Legende? Wie kann er sich verjüngen und das Leben zugleich tiefer verstehen? «Ich mach das wie Faust», beschrieb er diesen Versuch in einem SZ-Interview. «Man braucht seine Kicks, nachdem man alles studiert hat, und noch immer nichts weiß.»
«Knietief im Whisky», heißt es in dem Song «Nasses Gold» seines 35. Studioalbums «Stark wie zwei», «bis zum Nabel im Wodka, so ging er durch sein Leben. Immer wieder runter in den Underground, um die speziellen Weisheiten zu heben. Er war wie so´n Märtyrer, der sich für euch da runter traut, in die gefährlichen Abgründe, mit der mörderischen Whiskybraut. In der Tiefsee der Erkenntnis, ist er durch den Alk geschwommen, auf der Suche nach dem Gin des Lebens, um der Wahrheit auf den Grund zu kommen.»
Mit dem Album «Stark für zwei» gelangte Udo Lindenberg 2008 zum ersten Mal in seiner Karriere auf Platz 1 der deutschen Albumcharts und es war der Neustart seiner Karriere. Seine Beschäftigung mit Goethes «Faust» ist eine der Hintergrundgeschichten dieses Albums, das ein «Interview mit Gott» enthält und die Beschreibung eines Pakts, der zum Deal wurde. Die damals entstandenen Bilder zeigen Szenen, in denen Goethes Studiosus einen Kick bekommt auf seiner Reise in die «Tiefsee der Erkenntnis». Statt der Phiole mit Gift, vor dessen Einnahme ihn das Ertönen der Osterglocken bewahrt, trinkt Faust in der Hexenküche einen Verjüngungstrank, den ihm auf Lindenbergs Zeichnung eine dralle Hexe reicht. Faust wendet sich bei ihm vom Exzess in Auerbachs Keller ab, verliert sich im Hexenflug der Walpurgisnacht und kommt nach dem Rausch in Margaretes Todeszelle zu sich, deren zerfließendes Tusche-Portrait vom weißen Kreuz der Gitterstäbe überdeckt wird.
Lindenbergs Redensart «locker wie ein Rocker» gibt einen Hinweis, wie man auf solch einen heraufziehenden Sturm aus seiner Sicht am besten reagiert. Wer so viel von Panik spricht wie Udo Lindenberg, muss sie oft empfunden haben. Auf Theaterproben sagen Regisseure zu Schauspielern, die mit etwas hadern oder blockiert sind, gerne: «Wenn du ein Problem hast, benutze es.» Und das hat Udo Lindenberg stets getan. «Lady Whisky» oder «Nasses Gold» heißen die entsprechenden Songs, und auch auf seinen «Faust»-Bildern werden so einige bunte Gläser gereicht. Wenn Panik die Angst davor ist, dass plötzlich nichts mehr normal ist und die Welt außer Kontrolle gerät, beschreibt das genau die Reiserichtung von Lindenbergs Faust, um «spezielle Weisheiten» zu heben.
Der angesteuerte Strand ist weniger ein Tresen als die Gegenwelt von Elli Pyrelli, Detectiv Coolman und Rudi Ratlos, Helena und Euphorion, Homunkulus und Gene Galaxo. Und das Hinhören aufs eigene Leben. Die Zeichnung «Faust Quovadis» zeigt einen Mann, auf dessen einer Schulter ein Teufel und auf der anderen ein Engel Platz genommen haben. Vielleicht lässt sich der Song-Titel «Stark wie zwei» auch auf das Album als Ganzes beziehen, in dem es um Begegnungen mit dem Engel und Teufel auf der eigenen Schulter geht.
Lindenberg findet wie Faust immer wieder Partner, Mittelchen und Stimulanzien, die ihm helfen, den Augenblick noch lange nicht verweilen zu lassen. Seine Faust-Serie ist das Zeugnis eines Rastlosen, der in Hotelbars und Suiten angenehm nicht zur Ruhe kommt. Auf diesem ewigen Bahnsteig des Lebens achtet er weiter auf die Passagiere und zeichnet flüchtige Szenen mit dem Likör der Hotelbar. Angefangen hat dies mit «Udogrammen», kleinen Scribbles von Frauchen und Männchen mit Hut, aus denen sich im Laufe der Jahre seine Malerei entwickelte. Seine eigene Metamorphose als Künstler trieb er mit diesen Bildern an, diesem schrägen Blick aufs eigene Faust-Abenteuer.
Goethes Faust trinkt alles Mögliche, aber die tödliche Phiole öffnet er nicht. Jemand war in diesen Momenten dunkler Versuchung bei ihm, wie eine «superstarke Melodie». Diese lebensrettenden Glocken haben Lindenberg begleitet, damit sein Werk nicht abreißt. Wie Faust hat er sich weit hinaus getraut, tauchte in den Underground und blieb Fürst im Palast.
In «Faust II» erscheint Goethes Doktor als Unternehmer und Erfinder, der dem Meer durch Dämme neues Land abzwingt, feindliche Armeen durch Scheinbilder eigener Heere in die Flucht schlägt und für seinen klammen König das Papiergeld erfindet. Udo Lindenberg hält locker wie ein Rocker 18 Markenrechte: Von «Panik-Orchester» über die von ihm erfundene, likörbasierte Maltechnik «Likörell» bis zum Begriff «Atlantic Affairs», seiner Kreuzfahrt-Marke «Rockliner», dem Musical-Titel «Hinterm Horizont» oder dem Namen seines eigenen Museums «Panic-City», wozu natürlich die Markenrechte an seiner Persona «Udo Lindenberg» gehören. Auch das ist ein faustischer Zug an Lindenberg.
Irgendwann verschwinden alle großen Künstler hinter ihrer Persona, einer Figur, die sie erschaffen haben und in die sie sich kleiden. Dann zeigen sie von sich nur noch die Lederhose und den Wildkatzengang, ihren Mikrofonschleudertest und den breiten Hut über der schwarzen Sonnenbrille. Was sie zu sagen haben, können sie nur als diese Figur sagen, in ihrer eigenen Sprache und Welt. Sie spielen diese Figur wie Puppenspieler und natürlich spielt die Puppe auch mit ihnen, hat ihre eigene Schwerkraft und Gelenkigkeit. Zeigen die Faust-Bilder Lindenbergs etwas von diesem Spieler? Ja, sie zeigen die Matrix, in der er sich bewegt, das größere Stück und wie er es für sich deutet.
Lindenberg musste bei all dem vor allem sich selbst überleben. Zuerst seine Ausreißerjahre als Teenager, die ihn in amerikanische Soldatenclubs im Libanon führten. Und später den Umgang mit dem eigenen Ruhm, den Zwang zum nächsten Schritt. Aus dem Libanon ist er in keine Kleinfamilie zurückgekehrt, sondern lebte fortan in Wahlfamilien wie der Künstler-WG-Villa Kunterbunt in Hamburg Winterhude, seiner Panik-Familie oder in der Hotel Atlantic-WG. Seither existiert Udo Lindenberg als Figur, umgeben von seinem eigenen Panik-Orchester, eigenen Musen und «Vize Egos».
Die Suche nach einem Plan für diesen Kosmos ist in seinen Zeichnungen der «Faust»-Serie zu spüren. Offenbar ist er nur auf der Bühne zu finden, im Schema einer Wette, die er nicht verloren gibt. Der Faust seiner Bilder trägt keinen Hut. Sein kahler Schädel und sinnlicher Mund erinnern an Lindenbergs Bruder Erich, der Maler war, oder vielleicht einfach nur an einen Udo backstage. In seiner wandelhaften Kunst-Figuren-Welt bewegt sich Lindenberg selbst als eine relative Konstante: Mit seinem augentiefen Hut und Zigarre wurde er zum Sprecher einer zum Idiom oder Code gewordenen Kunstsprache, die in seinen Texten oft eine volksliedhafte Direktheit ermöglicht, karnevalesk, direkt, und ja, volksliedhaft. «Faust» war ein Volksroman, jahrmarkttauglich lange vor Goethe. Magie statt Luther.
Als ich in den frühen neunziger Jahren eine englische Theatertruppe auf ihrer Tour durch die Universitätstheater begleitete, konnte ich ihnen durch meine Erfahrungen als Bühnentechniker helfen, den Van so zu beladen, dass im Stauraum zum ersten Mal Platz für ein paar Mitreisende war. Auf der langen Fahrt zurück nach London hockten wir zwischen den Requisiten, ein Joint machte die Runde und dann fingen die Schauspieler der Reihe nach an, alte Volkslieder zu singen. Ich sah es auf mich zukommen, sie machten das gut, und als ich an der Reihe war, fiel mir nichts ein. Lachen, ungläubige Ermunterung, aber es gab nur ein Lied, das ich von der letzten bis zur letzten Zeile kannte und das war «Mädchen aus Ostberlin» von Udo Lindenberg. Als ich mich traute, wurde es still, sie verstanden kein Wort, aber lauschten und am Ende sagte Lisa, eine Freundin, die deutsch verstand: «It is a love song about the division of Germany, simpel, sad yet hopeful.»
Er hat sich für uns «da runter getraut». Dieser Faust ohne Hut war es, der diese einfachen Lieder wie «Cello», «Mädchen aus Ostberlin», «Na und?» oder «Stark wie zwei» von da unten mitgebracht hat. Hörbar geworden in einer gar nicht trivialen Populärkultur. Immer noch steht Lindenberg als Teufel am Tresen. Er malt im großen Format. Ich glaube, Zadek hätte diese Haltung gemocht. Auf Zadeks Grabstein unweit von Lucca steht auf Italienisch: «Er hat Mut gemacht.» Und das gleiche gilt für Lindenbergs sardonische Shows und Songs und Bilder. Hinter ihm steht heute eine ausgewachsene Maschinerie seiner Marken-«Authentizität». Doch hinter ihr steht noch immer dieser Mann ohne Hut, dieser Schädel mit Glatze, den seine Zeichnungen zeigen. Seine Ausstellung in Tübingen lässt ihre Besucher unter die Hutkrempe blicken.