Eros und Tod

Die Alienhaftigkeit des Zirkus.

Von Thomas Oberender

Seit vielen Jahren lausche ich der Stimme von Terence McKenna. Auf YouTube sind zahlreiche Aufzeichnungen seiner Vorträge über seine Erfahrungen mit halluzinogenen Drogen zu finden, mit wissenschaftlichen Querverbindungen zur Kulturgeschichte, Anthropologie und Kunst. Eine besondere Rolle und Betrachtungsweise entwickelt in diesem Zusammenhang McKennas Blick auf den Zirkus. In seiner Lecture «The Secret, that can’t be told» beschreibt er seine Erfahrungen mit DMT als Begegnung mit dem Archetyp des Zirkus. Die quirligen Wesen, denen er auf seinen Trips begegnet ist, erinnern ihn stark an verschiedenste Zirkusfiguren, ihre Verspieltheit, das Magische ihres Wirkens, ihre Andersweltlichkeit.

Zirkus ist für McKenna ein komplexes emotionales Gefüge. Es zieht Kinder magisch an und berührt Erwachsene zugleich auf kindliche Weise. Mich erinnert das an meine erste Begegnung mit einem Wanderzirkus: Auf einer großen Brache in der Nähe eines Freibads in Jena, abseits des Wohngebietes, hatte er sein Lager aufgeschlagen. Umgeben von Wiesen, einem Sportplatz und Nahe der Saale standen hier plötzlich über Nacht altmodische Wohnwagen aus Holz und wurde ein großes Zelt aufgebaut. Als meine Eltern mich mit in eine Nachmittagsaufführung nahmen, betrat ich eine fremde Welt, in der zwischen den Wagen der Artisten in kleineren Zelten für ein kleines Extra-Geld exotische Tiere zu sehen waren. Es roch nach feuchtem Sägemehl und Heu, Zuckerwatte und Schweiß.

Kinder lieben Zirkus, sagt McKenna. Wegen der Clowns, wegen der Kostüme, der Tiere, des bunten Scheinwerferlichts und der vorüberziehenden Sternenlichter des angestrahlten Spiegelballs auf der Innenwand des Zeltes. Der Zirkus ist die zierliche Frau in ihrem glitzernden Kostüm, die sich ohne Netz, nur an ihren Zähnen gehalten, hoch oben in der Kuppel um sich selber dreht. In diesem Bild verdichtet sich für McKenna eine Überlagerung von Tod und Eros, die den Zirkus prägt. In ihrem engen, sternenübersäten Kostüm riskierte diese Akrobatin in der Zirkuskuppel ihr Leben. In ihrer unwirklichen Schönheit, schutzlos und virtuos zugleich, spielt sie für Minuten mit dem Tod.

Gleich neben den Attraktionen im großen Zelt liegen für McKenna die ihn faszinierenden «sideshows», etwas, das ich vor 20 Jahren in einem traditionellen Jahrmarktstheater in Tokio erlebte - diese Präsentation von obskuren Phänomenen: siamesischen Zwillingen, dem kindlichen Zwergengreis, der Wolfsfrau mit Bart und Fellrücken. All diese bizarren Beispiele dessen, was Leben auch sein kann und hier mit großem Spektakel zelebriert wurden, sind Zirkus: die Bruchstellen des Normalen. Die Zirkuskünstler und Figuren des Karneval oder der sideshows sind für McKenna allesamt Aliens: Leben, das neben der Gemeinschaft des «anerkannt» Menschlichen existiert, unsere Vorstellung von Wirklichkeit  und Menschenähnlichem erweitert, übersteigt, in Frage stellt.