«Nach dem Spiel»
von Thomas Oberender
Die Schauspielerportraits von Margarita Broich sind keine, wie man sie kennt. Weder zeigt sie Darsteller in Ihren Rollen, bei der Arbeit auf der Bühne oder vor der Kamera, noch folgt sie ihnen in ihr Privatleben, in ihr Zuhause – dorthin, wo sie wie jeder Mensch wiederum eine Rolle zu spielen haben. Margarita Broich, selber Schauspielerin, hat den flüchtigen Moment der Pause zwischen den Drehs und Proben oder den nach dem Ende der Vorstellung gewählt. Der Beruf steht den Spielern ins Gesicht geschrieben oder umgibt sie als Welt der Kulissen und Spiegel, aber sie spielen nicht mehr. Sie sind bloß da. Müde und schön.
In der nüchternen Welt der Schminktische, Sets und Wohnmobile erscheinen sie plötzlich als Wesen im Zustand scheinbar intentionsloser Gesammeltheit und von einer milden Gleichgültigkeit gegen den sie Betrachtenden. Als gliche das Ende der Vorstellung einer Erlösung für sie. Aber einer Erlösung, die auf nichts hinführt, zu nichts anstachelt und nichts hinter sich lasst, sondern eine Art von Ankunft bedeutet. Beim Blick in diese Gesichter entsteht eine Ahnung davon, wie es wohl sein könnte, wenn man dem Dasein begegnet, wie es ist – befreit von den eigenen Einbildungen und Absichten, für Augenblicke einer Welt überlassen und mit ihr im Einklang, die nichts anderes ist und sein braucht, als sie ist.
In jener Gruppe von Bildern, die dem Titel der Ausstellung am unmittelbarsten entspricht, sind die Schauspieler meist in der Nähe eines Spiegels fotografiert. Sie befinden sich in ihrer Garderobe, in den Theaterfluren oder beim Maskenbildner, schminken sich ab oder sind umgeben von den Utensilien ihrer Verwandlung wie Makeup und ihrem Kostüm. Der Spiegel erinnert daran, dass jeder Vorstellung vor Publikum eine Verwandlung der eigenen Erscheinung vorausgeht. Was auf der Bühne späterhin natürlich und selbstverständlich wirkt, ist das Ergebnis einer Gestaltung, einer Veränderung am Körper des Schauspielers – der Erscheinung seiner Hautfarbe, Frisur, selbst seines Lebensalters und Charaktertyps, die mit dem Blick in den Spiegel beginnt.
Die Welt des Theaters lebt vom Sehen und Gesehen- werden, und jede Vorstellung beruht auf einem Moment der Ausstellung, Repräsentation und offenbarenden Täuschung. Der Beruf des Schauspielers bedarf dieser narzisstischen Spiegelung, eines suchenden Blicks in den Spiegel der Garderobe, der Rolle, der Publikumsreaktion. Wobei der Spiegel nicht nur das Medium der Widerspiegelung ist, sondern das Bild in gewisser Weise selbst erst hervorbringt und objektiviert. Auch Maler betrachten ihre Arbeit im Atelier daher oft auf jene seltsame Weise, indem sie dem Werk den Rücken zukehren und die Leinwand durch ihren Blick in einen Handspiegel studieren. Und so dient auch der Spiegel in den Arbeitsräumen des Theaters sowohl der sachlichen Beschäftigung mit Schminke und Kamm, als auch der analytischen Betrachtung und Anfreundung mit jenem Fremden, der den Schauspielern da entgegenblickt und den sie herzeigen gehen.
Auf vielen dieser Portraits wirken Maske und Kostümierung überraschend äußerlich – wie leblose Accessoires, die in diesem Moment mehr verbergen als offenbaren und mit dem Zustand, in dem sich die Künstler befinden, kaum etwas gemein haben. Die angeklebten Bärte, aufgesetzten Perücken, angemalten Brauen und bunten Kleider sind wenig mehr als ein bergender Kokon und Schleier über einer sich für Augenblicke ganz enthüllenden Person. Nie wirkten derlei auffrischende Dinge unbelebter als hier. So lassen auch die Hände der Helfer; die Lappen, Pinsel und Tücher um den Kopf von Christiane Hörbiger, während ihr die Gummimaske vom Gesicht entfernt wird, etwas von dem befremdlich technischen Vorgang sichtbar werden, aus dessen Hülle-auf diesen Bildern ein ganz anderes, diesen Vorgängen gegenüber lediglich duldsames und mit ihnen spielendes Wesen schlüpft.
Die gelöste Heiterkeit, die ich am Ende vieler Vorstellungen erlebt habe, erfasst am deutlichsten das Gruppenbild der sich abschminkenden Schauspieler aus Robert Wilsons Berliner Inszenierung der «Dreigroschenoper». Auf beiden Seiten des Spiegels sitzen sie an ihren Schminktischen, einige tragennoch ihr Mikroport von der Bühne, und während ihnen die Haartracht abgenommen wird, reiben sie sich die weiße Farbe vom Gesicht. Dafür steht vor ihnen in großen Dosen das Lösungsmittel bereit, das auch in Clemens Schicks Portrait als steinfarbener Tod im Spiegel der Salzburger Festspielgarderobe wieder auftaucht. Inmitten des bunten Durcheinanders der-, Schminkutensilien und Wattebäusche ergibt sich innerhalb dieses Gruppenbildes wie zufällig ein geheimes Tableau der blauen Dinge – der blauen Schachteln, Körbe, Tücher, Tabletts und Bademäntel -, aus dem heraus einige Schauspieler dem Betrachter wie ertappt entgegenlachen.Inmitten dieses spontanen und doch symmetrischen und verspielten Arrangements der Dinge und Personen blickt Stefan Kurt in Korsett und neben blonder Perücke unvermittelt aus solcher Ferne herüber zur Fotografin, dass plötzlich auch jener andere Zustand am Ende der Vorstellung spürbar wird: die Leere. Für einen Moment fallt alles ab von deıı Künstlern. Die Leere dieses Moments scheint bodenlos zu sein, ihr Antlitz ist pur. Kein Schauspieler wird in jenem gelösten Zustand nach dem Ende der Vorstellung von der Maskenbildnerin gefragt, wie die Vorstellung war. Sie ist vorbei; etwas anderes, Flüchtiges, die Künstler Erfüllendes ist da – es mit dem Zustand der Leere zu beschreiben, umreißt dies nur ungefähr, denn diese Empfindung liegt fernab der reinen Erschöpfung oder gar Traurigkeit. Zumindest nicht in diesem Moment. Die Erschöpfung, die man diesen Schauspielern ansieht, ist zugleich ein Ausdruck von Entspanntheit: Eigentlich sind Schauspieler in diesem Moment sehr schön. Ihre Muskeln sind weich, auch die Gesichtsmuskeln, ihr Körper ist durchblutet und geschmeidig, und selbst wenn sie sich vor der Aufführung krank und erschöpft gefühlt haben, fühlen sie sich nach ihr nie schlechter, nie noch kranker oder noch müder. Sie waren kurz in Berührung mit einem anderen Kosmos, wie im Liebesakt, und diese Verbindung ist noch latent in ihnen, und die Lust könnte. so die Umstände sie erwecken, sofort erneut in ihnen aufsteigen. für Momente sind sie unschuldig, ein wenig kindlich und völlig sorglos. Die Sorge ist vorüber. Und auch wenn sie erschöpft sind und von fern herüber schauen wie Stefan Kurt inmitten der lärmenden Gruppe oder aus der Stille ihrer Zurückgezogenheit wie jürgen Holtz, Sophie von Kessel, Martin Wuttke oder Peter Simonischek, lächeln sie im Innern. Die Aufnahmen zeigen ihr elementares, physisches Entspannen, das mit der Erleichterung einsetzt. Alle Setzungen sind gemacht, liegen hinter ihnen, und nun flutet es noch einmal zurück, von dort, wo eben noch so viel los war, aber jetzt ist alles getan. Es lässt ab von ihnen, und die Sorglosigkeit strömt in sie -für eine kostbar kurze Zeit, bis die Erschöpfung einsetzt, die jeden Läufer in der Nacht ereilt.
Margarita Broich, die Fotodesign in Dortmund studierte und Theaterfotografie am Bochumer Schauspielhaus war, bevor sie selbst eine überaus bewundernswürdige Schauspielerin wurde, portraitiert die in diesem Buch versammelten Künstler mit deın Instinkt einer Kollegin. Sie entdeckt Schönheit gerade dort, wohin eigentlich niemand blickt – in jenen Zonen der Trivialität und Öffentlichkeitsferne, die ausgespart bleiben in der Betrachtung dieses sich ständig darbietenden Metiers. Es ist eine Schönheit der Empathie und Herzensnähe, bei aller Distanz. So schäbig oder nüchtern die äußere Situation dieser Aufnahmen bisweilen auch erscheint, besitzt doch jede dieser Fotografien einen eigenen Glamour. Er strahlt von den Personen aus, weit mehr als von den Dekorationen. Und es ist nicht nur der Instinkt der Kollegin, der ihr diesen Blick schenkt, sondern scheinbar ein aus eigener Erfahrung erwachsenes Wertschätzen jener Augenblicke, da der Druck, der Ehrgeiz und die Angst für eine kurze Zeit vom Menschen abfällt. Da der Mensch, in einem übergreifenden Sinne, von sich selbst erlöst ist.