«Warum Zirkus?»
Reflexionen über ein progressives Medium
von Thomas Oberender
Ein Merkmal des deutschsprachigen Theaters ist in den Augen des australischen Zirkusregisseurs Yaron Lifschitz die permanente Produktion von Neuem, die bei Autorinnen, Schauspielern und Regisseurinnen von der Frage angetrieben wird, wer das Genie war, das gerade vor einem diese Bühnen geprägt hat und zu dem man selbst im Vergleich bestehen will. Das Neue entsteht aus der oft unbewussten Angst, so zu werden wie der bewunderte Vorgänger oder die bewunderte Vorgängerin – Harold Bloom nannte das «Einflussangst». Der Zirkus hat dieses Problem nicht, sagt Lifschitz, denn er ist eine Kunst der wandernden Künstler, der reisenden Truppen.
Die Entwicklung des zeitgenössischen Circus ist eine Reaktion auf die Konventionen des eigenen Mediums und zugleich der Versuch, modernes Theater zu machen ohne «Theater». Es handelt sich um eine bewusste Entscheidung für eine andersartige Erzählweise, die nicht textbasiert ist, kollektiv und interdisziplinär produziert wird und eine Form von Realität kreiert, die nicht dem Gebot der Repräsentation gehorcht, sondern der Andersartigkeit, des Magischen und Riskanten.
Vor einigen Jahrzehnten beschäftigte man sich vonseiten der Theaterwissenschaft mit dem Einfluss des Zirkus auf das progressive Theater. Heute wird der zeitgenössische Circus zunehmend zum gleichberechtigten Studiengegenstand – er entwickelte sich zu einem progressiven Medium, das Techniken des Theaters, Elemente des Tanzes oder der Videokunst in sich aufnahm. Während anfangs vor allem die Spuren des Zirkus in den literarischen Werken von Alfred Jarry, Antonin Artaud, Samuel Beckett, Eugène Ionesco, Jean Genet oder Thomas Bernhard untersucht wurden – oder der Widerhall der Zirkuswelt in den szenischen Werken von Jean Cocteau, Oskar Schlemmer oder Alexander Calder –, wirkt der zeitgenössische Circus heute selbst avantgardistisch und wird intensiv reflektiert. Der zeitgenössische Circus, so John Ellingsworth («What is Circus?», YouTube 2014), hat alles, was der alte Zirkus auch hatte: Menschen fliegen durch die Lüfte, es ist eine Welt voller Schweiß, Risiko und Grazie, geprägt vom Atem-Anhalten und der Echtheit des Aufeinandertreffens von Leben und Tod – «the realness of life meeting death».
Die Zeit vergeht langsamer im Zirkus, sagt Ellingsworth, und auf der Zirkusbühne zeigt sich die Virtuosität des Teufels, jene Leichtigkeit, mit welcher der Virtuose das bloß Erlernte weit hinter sich lässt und sein Können scheinbar weit jenseits aller Limitierungen des Lebens entfaltet. Vor allem hat der Zirkus die Qualität des Unerwarteten, der Überraschung und Verblüffung. Heute hat er sich von einer geschlossenen Kunstform, deren Techniken und Fähigkeiten über Generationen weitergegeben wurden, zu einer offenen, adaptiven und experimentellen Kunstform gewandelt. Nach wie vor geht es um Scheinwerferlicht und Unterhaltung, aber der zeitgenössische Circus wurde ein sehr kreativer Bereich der live art, wo neue Ideen getestet werden und eines ins andere übergeht – Elemente von Tanz und Kampfkunst, Extremsport und devised theatre. Der Zirkus befand sich immer an der Grenze der Gesellschaft. Heute, so John Ellingsworth, befindet er sich an der Grenze der Kunstformen.
Mir scheint, dass von allen Kunstformen Zirkus die transitorischste ist. Keines seiner Werke kann überdauern, das Wissen ausgenommen, das in den Körpern wohnt und zwischen den Künstlern und Generationen weitergegeben wird. Als eine live art ist der Zirkus an die Präsenz der Künstlerinnen und Künstler vor Publikum gebunden – man muss dabei sein, wenn die Vorstellung stattfindet, und seine Zeit als Besucher mit der des Künstlers bzw. der Künstlerin teilen. Nach diesem situativen Stattfinden verschwindet das Werk wieder. Denn die Vorstellungen des Zirkus sind nicht textbasiert und deshalb auch keine Interpretenkunst. Es ist eine Kunst der Kreation, der Entwicklung von Programmen und Formaten, die Originalprodukte bleiben. Dieses Moment ist nicht nur für den Zirkus wesentlich, sondern für die gesamte zeitgenössische Theaterkunst. Man könnte sagen, dass die Herausforderung, der das etablierte Theatersystem in den deutschsprachigen Ländern gegenübersteht, viel mit dem Aufeinandertreffen einer Kultur der Interpretation – für die Sprechtheater in der Regel gebaut worden sind – und einer Praxis der Kreation zu tun hat. Immer seltener basieren Theaterabende auf literarischen Vorlagen und immer öfter auf Stückentwicklungen, also etwas Neuem. Viele Besucher gehen heute ins Sprechtheater wie ins Kino, das heißt, sie wollen etwas Originärem begegnen. Die Filmgeschichte echot im neuen Film stets als Zitat und Konvention, aber als Ganzes wirkt das Kino als ein Medium des Neuen und mit jedem Film aufs Neue voraussetzungslos. Verglichen damit verblasst der Kanon des Theaters, seine Klassiker sind im Publikum weniger präsent und das Originelle ihrer Neuinterpretationen rivalisiert mit originären Eigenkreationen der Ensembles, die aber niemand nachspielt und fast niemals als Text überleben. Im Zirkus war das schon immer so: Die großen Programme des traditionellen, keinesfalls verlebten, sondern vitalen Zirkus werden bleiben Unikate, genauso wie die Erfindungen des neuen Zirkus. Jedes Programm ist die Kreation einer neuen Struktur, obgleich seine einzelnen Elemente, Techniken und Nummern sehr alt sind.
Beim zeitgenössischen Circus handelt es sich aber um Produktionen, die sich nicht mehr so sehr den Traditionen alter Zirkusfamilien verdanken, sondern, wie beim zeitgenössischen Tanz oder der Performance, dem Prozess des stage writing – dem Entstehen des Stücks auf der Probe. Der kollektive Vorgang des Suchens und Findens verfestigt sich gegen Ende zu einem Werk, das in der Regel viele Autorinnen und Autoren hat – statt all der einzelnen Originalgenies der Dramen- oder Regietheatergeschichte. Vielleicht ist auch das ein Grund für die relative Namenlosigkeit der Zirkuskünstler, denn sieht man von wenigen Clowns ab, die weltberühmt wurden, zeichnet sich der Zirkusbetrieb eher durch das Fehlen des Starbetriebs aus – bekannt wurde immer nur die Familie im Sinne der Unternehmer.
Wie zur Stadttheatergeschichte der exklusive Charakter ihrer Produktionen gehört, die für nur ein Haus und ein mit ihm verbundenes Publikum entwickelt werden – was genauso auch an der Oper und im klassischen Ballett passiert –, gehört zur Welt des zeitgenössischen Circus dessen kooperativer Charakter. Die Produktionen des zeitgenössischen Circus entstehen häufig, um zu touren, sie verdanken sich Netzwerken und internationalen Märkten. Anders aber als der zeitgenössische Tanz und die Performancekunst wird der zeitgenössische Circus hierzulande kulturpolitisch nicht als Hochkultur anerkannt, weshalb ihm vergleichbare Infrastrukturen und die Wahrnehmung in der medialen Kritik weitestgehend fehlen. Diese Situation teilen sich der traditionelle Zirkus und der zeitgenössische Circus, und sie haben natürlich noch andere, essenziellere Gemeinsamkeiten.
Allen Zirkusformen sind Elemente einer Logik des Traums eigen: «Menschen erreichen den Zustand der Schwerelosigkeit, Gegenstände wirbeln durch die Luft, wilde Tiere erscheinen zahm, andere Tiere tanzen; der Clown hat seine eigene Logik» (Magda Holbein, «Der Circus und das Theater des 20. Jahrhunderts», in: Jörn Merkert (Hg.), «Zirkus, Circus, Cirque», Berlin 1978, S. 230). Zur Kunst des Zirkus zählt auch die Fähigkeit, aus «nichts» etwas zu erschaffen, das keine Nachahmung ist, sondern durch die Präsenz des Risikos eine eigene Realität schafft.
Der traditionelle Zirkus komponiert Programme aus einzelnen Nummern, die sich oft auf eine überlieferte Technik stützen, auf klassische Typen, Requisiten, Geräte, Kostüme und eine Zirkusarena. Das «Rundspielen» der Zirkuskünstler in der Manege ist hier typisch, ebenso wie die temporäre Durchbrechung der Grenze zwischen Manege und Zuschauerraum. Der neue Zirkus hat diese Arena verlassen – er zog in den Stadtraum, auf Theaterbühnen oder in verlassene Fabrikhallen und entwickelte eine andere Dramaturgie und andere Arbeitsweisen, die weniger auf der Tradition als vielmehr auf theatralen Formaten beruhen, die sich von der Persönlichkeit, Biografie und Körperlichkeit der Performer herleiten. Man spricht auch deshalb inzwischen eher vom zeitgenössischen Circus, weil der neue Zirkus selbst historisch geworden ist. Der Begriff verbindet sich heute eher mit den 1960er Jahren, als sich der Zirkus in vielen europäischen Ländern, allen voran Frankreich, politisiert und langfristig andere Infrastrukturen der Ausbildung und des Austauschs hervorgebracht hat. Vielleicht kann dieser neue Zirkus heute auch mit einem großen «N» geschrieben werden – ein Vergleich mit der Neuen Musik liegt nahe, die im Laufe der Zeit selbst zu einer Ideologieform wurde. Sie ist geprägt von der Aufgabe der Tonalität, einem Misstrauen gegenüber dem unreflektierten Gefühl, einem hohen Stellenwert des Neuen, der Uraufführung und der Suche nach der puren Wirkung des Klangs. Diese Rigorosität führte dazu, dass sich, wie im Zirkus, neben und nach der Neuen Musik eine lebendige und experimentierfreudige Szene der zeitgenössischen Musik herausgebildet hat.
Das Trapez ist 500 Jahre alt. Imitation ist im Zirkus, anders als im Schauspiel, noch immer ein Lehrmittel, auch weil die Sache selbst gefährlich ist. Es gibt ein Wissen, das in den Körpern wohnt und von den Älteren durch eine Form der Praxis auf die Schüler übertragen wird – diese Praxis der Imitation ist für den asiatischen Kulturraum auch heute noch typisch. Im Körper des Meisters bzw. der Meisterin ist das Wissen aufbewahrt, das durch die Praxis der Übung weitergegeben wird. In Europa hingegen überdauert das Wissen in Texten, was für die moderne Theaterstruktur des deutschsprachigen Raums folglich bedeutet, dass hier noch immer vorwiegend Texte studiert und interpretiert werden und auch das Ausbildungssystem auf Modellen der Literarität beruht. Hier führt der Weg zur Figur vom Text in den Raum. Zirkus ist in diesem Sinne eher eine asiatische Kunst, etwas, das durch eine spielerische Praxis weitergegeben wird.
Während Darsteller im zeitgenössischen Theater viel mit der Hinterfragung und Erzeugung einer Figur zu tun haben, bezwingen Zirkuskünstler sich zunächst in einer ganz anderen Weise selbst, was das englische mastering your self etwas besser im Sinne von «sich überwinden und vervollkommnen» fasst. Jeder Zirkuskünstler ist ein Masochist – er muss das Leiden lieben und die Strapazen akzeptieren wie im klassischen Tanz. Er ist zunächst ein physical performer, und ein Großteil seiner Arbeit beruht auf jener Ehrlichkeit, die sich einstellt, wenn er einen Trick perfekt beherrscht und dieses unbezweifelbare Gelingen vor aller Augen stattfindet. Dieses Gelingen kann ihm keiner nehmen. Wie könnte sich ein Schauspieler über das Gelingen seiner Kunst je annähernd sicher sein? Der zeitgenössische Circus nutzt diese Aufrichtigkeit, um, auf ihr aufbauend, eine Geschichte zu erzählen. Sie verschieben ihre Charaktere immer weiter vom traditionellen Typus zur individuell beglaubigten Figur. Grundlage bleibt aber jenes artistische Können, das sich am Zustandekommen des «Wunders» misst, und dieser Hintergrund mag vielleicht erklären, warum im Zirkus das Selbstempfinden der Künstler nach meiner Beobachtung viel stärker vom Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit geprägt ist – man ist nicht einer von zwölf Schwänen in einer langen Reihe von Tänzerinnen auf der Bühne, sondern die einsame Artistin unter der Zirkuskuppel.
Die Dramaturgie des klassischen Zirkusabends ist die Dramaturgie des Herzschlags des Publikums – der traditionelle Zirkus existiert hauptsächlich für das Erleben des Publikums. Viele Zirkusmacher empfinden dies als Stimulanz, Verpflichtung und Herausforderung, andere als eine Art von Prostitution. Nur die Gefühle der Gäste zählen, und die entscheidende Frage lautet: «Wie begeistert seid ihr? Klatscht ihr da, wo wir es wollen?» Wenn man die Dramaturgie des traditionellen Zirkus von der des neuen Zirkus und des zeitgenössischen Circus unterscheiden will, kann man sich vielsagenderweise am Applaus orientieren: Beim traditionellen Zirkus klatscht das Publikum nach jeder Nummer, die jeweils ihre eigene Dramaturgie hat. Wohingegen beim neuen Zirkus und beim zeitgenössischen Circus der Abend so angelegt ist, dass, vom Szenenapplaus abgesehen, erst am Schluss applaudiert wird, wie im Theater.
Zirkus arbeitet kaum mit Worten – nicht nur, weil Worte im Vergleich zur Sprache des Körpers zu abstrakt wirken. Die körperlichen Zustände der Artisten erzeugen ein unmittelbares Gefühl bei den Betrachtern – sie halten die Luft an, wenn es gefährlich wird, und atmen auf, wenn alles gut gegangen ist. Der traditionelle und der neue Zirkus erzeugen seltsame Spiegeleffekte, denn niemand kann die Kunststücke der Artistinnen und Artisten nur kalt beobachten. Die Spiegelneuronen in unseren Köpfen bewirken, dass sich die körperliche Spannung auf das Publikum überträgt – aus Angst. Denn stärker als jedes Theater wirkt der Zirkus affektiv. Vielleicht rührt der Abstand zur Hochkultur hierzulande auch daher. Die Hochkultur verfügt über eine lange Geschichte der Aufklärungsabsichten und Läuterungsvorsätze, die mit einer Haltung der Kritik, Distanz und Analyse verbunden ist. Die Produktion von Magie aber beruht auf der Fähigkeit von Kunst, ihre Betrachter so stark wie möglich zu absorbieren. Ohne diese Immersion gäbe es das Wunderbare nicht. Wenn ein Mensch einen anderen emporhebt, ist das etwas Erhebendes; der physische Beweis des Machbaren wirkt erbaulich. Das Theater erzählt in der Regel vom Scheitern; der Zirkus vom Gelingen. Der «fallende Mensch» ist sowohl im Theater als auch im Zirkus ein omnipräsentes Thema. Im Theater geht es darum, warum er zu Fall kommt und wie er es schafft, eventuell wieder aufzustehen; im Zirkus geht es um das Fallen als Kunst und Fähigkeit. Die Clownstradition wiederum handelt vom andauernden Scheitern und zeigt dessen Komik mit dem weißen Gesicht des Todes.
Während sich das Theater oft um die «Kenntlichmachung» von Lüge, Selbsttäuschung, Gewaltformen oder Machtverhältnissen bemüht und diese als Konflikte zwischen Menschen vornehmlich im Medium der Sprache artikuliert, erzählt der zeitgenössische Circus seine Geschichten mit physical performers – er ist genauso ein Theater der Dinge, wie er Tanztheater und Musiktheater ist, aber vor allem ein Theater des Wunderbaren und des realen Risikos. Die scheinbare Schwerelosigkeit der Artistinnen und Artisten macht sie für Augenblicke über Naturgesetze erhaben und zugleich physisch extrem präsent – man sieht ihre Körper in Anspannung und ihre Abhängigkeit vom Regime des sie rettenden Timings. Die Zirkuskünstler zeigen häufig keine Konflikte zwischen Menschen im Sinne des Sprechtheaters, sondern ihren Kampf mit den Tücken der Objekte sowie der Unlogik einer anderen Welt und die Abhängigkeit von ihrer eigenen Physis. Zirkus lebt von der körperlichen Gefahr, die im Falle des Scheiterns für die Artisten auf der Bühne sehr real besteht. Wie im Tanz, wo der Körper ähnlich direkt das Medium der Erzählung des Stücks ist, wird auch im zeitgenössischen Circus die Geste des eisernen Lächelns eingesetzt – das Schwere wird leicht, ja mühelos präsentiert. Zum Wunderbaren gehört ein anderes Reglement, mit Herausforderungen umzugehen, und es beruht in nicht geringem Maße darauf, den Körper in ein Ding scheinbar ohne Schmerz und Gewicht verwandeln zu können.
Der traditionelle Zirkus zeigt ein Leben, das im Kreis geht – das Leben in der Manege. Er entwickelt Programme, die der Unterhaltung dienen. Federico Fellini feiert in seinem Film «Clowns» diese altmodische Zirkuswelt und die Geschichtlichkeit ihrer Typen und Konventionen. Ihr Zwang zur Unterhaltung ist oft ein Zwang zum Ultimativen: Die Nummern müssen immer höher, schneller, weiter werden. Der zeitgenössische Circus möchte diesen Kreislauf verlassen und entwirft ein finales Geschehen; nichts kommt wieder, alles gelangt an ein Ende, es geht um Individuen und nicht mehr um Typen. Was folgt, wird etwas Neues sein. «Traditioneller Zirkus ist, was man kennt», sagt Tim Roberts, «neuer Zirkus das, was man nicht kennt» («What is Contemporary Circus?», Vimeo 2013). Statt des fünffachen Saltos geht es um künstlerische Inhalte, die andere Narrationen bilden. Hier erzählen die Dinge, die Tiere, der Raum und ein wenig natürlich auch der Mensch, und bisweilen, zum Beispiel in den Inszenierungen von Thom Luz, passiert dies auch auf den Bühnen des zeitgenössischen Theaters; hier aber wirkt es als eine Abweichung, im zeitgenössischen Circus als Regel.
Historisch betrachtet war der Zirkus ein Ort, der Andersartigkeiten nicht versteckt, sondern ausgebildet und in oft auch diskriminierender Weise ausgestellt hat: andere Körper, Freaks, Schlangenmenschen. Die Künstlerinnen und Künstler des zeitgenössischen Circus haben sich diesen Aspekt als politisch-emanzipatorischen Akt angeeignet. Sie nutzen den Zirkus als Medium, in dem sich Fragen nach Geschlecht und Normativität anders erfahrbar machen lassen – der queere «Circus Amok» der New Yorker Performerin Jennifer Miller ist dafür ein Beispiel. Aber auch Fragen des Posthumanismus treffen hier auf das uralte Wissen einer Kunstform, die sich wie keine andere im Übergangsbereich zwischen Mensch, Tier und Dingwelt bewegt.
Zirkus erfordert vom Zuschauer keine Vorbildung oder Kenntnis von Codes. Diese Kunstform beschämt niemanden, sie weiß nichts besser. Ich mag auch die Nüchternheit der Zirkusbühne – alles auf ihr dient der Praxis und nicht der Illustration, was eine angenehme Klarheit des Auftritts erzeugt. Aber ich glaube, sie ist die demokratischste Kunst vor allem deshalb, weil sie nicht komplett verbürgerlicht ist. In Europa ist, zumindest in seinen derzeit noch liberalen Staaten, alles, was Künstlerinnen und Künstler tun, voll akzeptiert. Auch die Figur des Künstlers bzw. der Künstlerin ist Teil der bürgerlichen Welt. Das ist in außereuropäischen Kulturen so nicht immer gegeben. Und auch in unserer Kultur sind Zirkusleute noch fahrendes Volk, in gewisser Weise sind sie als Künstler «draußen» im doppelten Sinne: außerhalb der staatlichen Infrastrukturen und außerhalb im Sinne der Andersartigkeit des von ihnen bearbeiteten Materials und der von ihnen hervorgebrachten Realität. Die Künstler des zeitgenössischen Circus schauen längst sehr aufmerksam auf die Bühnen des zeitgenössischen Tanzes und Theaters, und es lohnt sich sehr, diesen Blick zu erwidern.
Artikel bei theater der zeit