«Ein anderes System: Theater aus Belgien und Holland»
Gespräch im Festspiel Magazin
Festspiel Magazin: Geht ein junger Mensch, der mit den Verhältnissen unzufrieden ist, heute eher ans Theater als in die Politik?
Thomas Oberender: Das ist ja eine Unterstellung, von der ich nicht weiß, ob sie zutrifft…
FM: Möglicherweise. Aber ich halte sie nicht für ungerechtfertigt. Im Theater findet man eher als in der Politik die Jungen, die sagen, Aber Hallo, so geht’s nicht weiter!
TO: Theater zeigt uns Vorstellungen vom Leben. Im doppelten Sinne des Wortes. Und ist, in seinem Inneren, zugleich ein Lebensraum, der gerade junge Menschen anzieht, weil dort die Verschmelzung von Idee und Energie, von Geist und Spiel so intensiv zu erleben ist. Jörg Haider hat als junger Mann Nestroy gespielt und ist dann in die Politik gegangen. Sie haben Recht, vielleicht ist das die Ausnahme, und die aktuelle Tendenz genau andersherum – das würde mich freuen.
FM: Welche Nationen sind von ihrem Nachwuchs-Potenzial her besonders interessant?
TO: Ich bin ein großer Bewunderer der belgischen Theaterlandschaft, weil dort in einem Mischbereich aus bildender Kunst, Musik, Tanz und Schauspiel sehr ungewöhnliche Kreationen entstehen. Der Beneluxbereich ist für mich nach wie vor die innovativste Theaterzone Europas.
FM: Was macht das Theater dort so innovativ?
TO: In Holland oder Belgien werden viel stärker die Produzenten gefördert als die Institutionen. Bei uns bekommt das Geld das Haus und das Haus engagiert die Künstler. In diesen Ländern stehen die Häuser als Immobilien leer und werden bespielt von subventionierten Gruppen, die auf Tournee gehen. Das führt zu völlig unterschiedlichen Strukturen, auch seitens des Publikums und hat natürlich auch seine Nachteile. Bei einem Stadttheater in den deutschsprachigen Ländern entstehen über die Jahre sympathische Bindungen zwischen Zuschauern und «ihren» Schauspielern. In Holland oder Belgien müssen die Gruppen an verschiedensten Orten ihr unterschiedliches Publikum immer wieder neu erobern. Und das mit Aufführungen, die in der Regel in weit höherem Maße originale Werke aufführen, also in einem gewissen Sinne Uraufführungen, Projekte, jedenfalls ohne die ein klassisches Repertoire, wie es die Nationalkulturen in Deutschland, Österreich, Spanien oder England hervorgebracht haben. Die Literaturgeschichte hat in diesen Ländern keinen vergleichbaren Kanon klassischer Werke hervorgebracht, und daher ist dort das Theater viel stärker auf Zeitgenossenschaft ausgerichtet und erfindet Stücke, entwickelt grenzgängerische Projekte und bildet ganz nebenher auch tatsächliche Ensembles, wie wir sie kaum noch besitzen. Die Kompanien alle zwei Jahre um neue Förderungen bewerben. Auch das erzeugt und erzwingt geradezu diese Innovationen, auch wenn es keine sonderlich angenehme Situation ist, derart unabgesichert zu arbeiten.
FM: Damit entsteht das Junge, Frische eigentlich aus einer sehr archaischen Situation heraus - nämlich aus der tingelnden Schauspieltruppe?
TO: Tingeltangel gibt es überall. In unserem, also dem deutschsprachigen Theatersystem sind die Spitzenleistungen immer wieder an die Herausbildung von «Truppen» oder Künstlerfamilien um bestimmte Theaterpersönlichkeiten gebunden. Allerdings finden sie eben hierzulande relativ schnell ihr eigenes Haus und eine stabile Infrastruktur. Die Situation ist für die Künstler in den Niederlanden oder Belgien entbehrungsreicher, weil die Gruppen z.B. kein Repertoire aus ihren eigenen Produktionen bilden können. Sie sind auf zyklische Innovationen angewiesen. Wenn die Stücke abgespielt sind, verschwinden sie wieder. Selbst größere Produktionen, die sensationelle Erfolge sind, können von so einer Truppe kaum über einen längeren Zeitraum am Leben gehalten werden. Die Kompanie bekommt nur dann wieder öffentliche Zuwendungen, wenn sie etwas Neues produziert. Daher empfinde ich dieses System, trotz des kreativen Outputs, nicht durchwegs als das bessere Modell.
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