«Der Tanz, der aus der Zukunft kommt»
Tanz, digitale Medien und neue Rituale.
von Thomas Oberender
Tanz ist eine Weitergabeform von Wissen, das ohne den Transfer spezifischer Haltungen, Praktiken und Techniken von Körper zu Körper lange Zeit nicht praktizierbar war. Tanz ist eine Körperkunst, die ihr know how im übenden Nachvollziehen vermittelt. Anders als das Sprechtheater, das hierzulande traditionell auf einem Text beruht, hat sich der Tanz im analogen Zeitalter nicht im vergleichbaren Maße literarisiert. Die getanzte Figur und Choreografie ist eine Form des Erbes, das als körperliche Bewegung von Mensch zu Mensch weiter gegeben wird. Text lässt sich weiter sagen, und über viele Jahrhunderte hinweg war dies in oralen Kulturen die einzige Form von Überlieferung. Wenn die Kette der Weitergabe abreißt, verschwindet das spezifische Wissen, so wie es mit jenen Epen geschah, die, anders als die Odyssee oder Ilias, nicht aufgeschrieben wurden. Nur dank der Schriftkultur wurde es möglich, die 2000 Jahre alten Dramen der Griechen heute noch spielen - sie überdauern im Medium der Schrift, das die Grundlage für eine sich stets wandelnde Praxis der Aufführung wurde. Ähnliches gilt für die Kultur der Märchen und Lieder, die irgendwann aufgeschrieben oder aber vergessen wurden.
Der Tanz beruht, ähnlich wie die Artistik, bis heute weit stärker auf Meistern und Schülern und einer weitergebenden Praxis. Dies erschien mir stets als ein «antiwestliches» Moment in der Geschichte des Tanzes, vergleichbar mit der Überlieferungsgeschichte unterschiedlichen Formen der Meditation oder alter Handwerkstechniken. Diese auf einem Wissen der Körper beruhende Tradition ließ sich selbst in ihren modernsten, oft rein konzeptionellen Formen nie vollständig literarisieren und vom Vorgang des lehrenden Teilens, der sozialen Praxis ablösen. Kein Video erfasst die Komplexität von Vorgängen, die inwendig gesteuert den Körper des Tänzers bewohnen und mit einer dynamischen Form bespielen. Wie sich Gruppen bewegen, welche Standards hierbei tradiert wurden, selbst in ihrer Übertretung oder Leugnung, war nie ganz aus der Lage der choreografischen Texte zu erschließen. Ein Drama oder eine Sonate überdauern als literarisches Stück, ein Tanz nur durch den leiblichen Nachvollzug der Formen, wie sie vorgegeben werden. Man muss selber tanzend in die Form eines Stückes, einer Tradition oder Schule eintreten und sich unter Schmerzen umbilden, um die Erzählung ihrer Form selber zu erfahren und zu «sprechen».
Vor diesem Hintergrund hat die Begegnung mit den digitalen Medien für den Tanz eine besondere Bedeutung. Die Macht des tänzerischen Meisters oder der Meisterin wird wahrscheinlich schwinden, wenn die tänzerische Form durch digitale Medien zur «Literatur» werden kann. So wie die klassischen Rhapsoden und ihre soziale Praxis des öffentlichen Erzählens durch das Aufschreiben verschwand und ihre Epen fortan als Bücher überdauerten, haben die modernen Technologien bereits jetzt schon die Weitergabepraxis tänzerischer Formen stark verändert. Zeitgenössische Choreografien lassen sich mit digitalen Technologien nicht nur viel komplexer notieren und auf einer abstrakten Ebene visualisieren, sie können dank der digitalen Notation nun auch ein System entwickeln, das nicht nur die vom Körper vorgegebenen Bewegungen nachträglich festhält, sondern als Entwurf der Praxis selber voraus gehen kann. So lassen sich im Medium dieser Notationssysteme die Grenzen, die unsere momentane tänzerische Imagination und Körperpraxis prägen, weit übersteigen und Formen kreieren, die dieser Praxis plötzlich weit vorauseilen.
Die Software Lifeforms, die Merce Cunningham in den 80ern das erste Mal einsetzte, um neue Bewegungsmöglichkeiten auszuloten und die Einschränkungen des menschlichen Körpers zu umgehen, erscheint mir als eine wichtige Zäsur in der Tanzgeschichte. Diese Software, die Bewegungen generiert, die jenseits der Vorstellungskraft des menschlichen Körpers und, vor allem, des Bewusstseins liegen, hat den Horizont für Tanz und Choreografie und andere Künste maßgeblich erweitert. Die durch diese Software generierten Bewegungsabläufe sollten von Anfang an aus dem digitalen Raum wieder befreit werden; sie wurden zurück in den analogen Raum geholt und dort mit den Tänzer*innen weiterentwickelt.
William Forsythe entwickelte in den 80ern und 90ern, ganz ohne Software, eine neue Bewegungssprache, die ebenfalls das bisher bekannte Bewegungsvokabular sprengte. Die Art und Weise, wie Tänzer*innen an ihre Limits gebracht werden, hat mich an seiner Arbeit sehr beeindruckt und das Cunningham-Vorhaben kongenial erweitert. Forsythe wählte, im Gegensatz zu Cunningham, den Weg hin zur Software und übertrug Bewegungssprache in den digitalen Raum, um Bewegungsabläufe und deren Generierung fassbar und nachvollziehbar zu machen. Als digitales Archiv ist Forsythes Software zugleich auch eines der wichtigsten Tools für Tanzvermittlung und die Überlieferung auch von außereuropäischen, traditionellen Tanzformen, deren Kette der körperlichen Weitergabe von Wissen und Gestaltungsformen in vielen Kulturen abzureißen droht.
Der Umgang mit digitalen Medientechnologien ist längst ästhetisches Prinzip geworden. Künstler arbeiten mit Motion Capture, um Tanz in digitale Räume zu erweitern oder verlegen Tanz komplett in den digitalen Raum wie bei lalala human steps oder DV8. Sie erweitern dabei die eigene Wahrnehmung und Stück um Stück auch die Grenzen des Tanzes und das Konzept des von ihm bespielten Raums. Das meint Prozesse, die über das Vorhandensein von Beamern, Bildschirmen, Computern und Kameras auf der Bühne weit hinaus gehen, weil sie das Vokabular, Weltbild und Setting des Tanzes viel grundsätzlicher verändern – diese Prozesse zeigen sich spannender Weise gerade dort, wo kein technisches Equipment sichtbar wird. Vielleicht sind es solche Entwicklungen, die den Tanz wieder als wegweisende Kunst erscheinen lassen. Denn inzwischen dringen Entwürfe von Menschenbildern in die choreografische Praxis, die ohne digitale Technologien nie entstanden und populär geworden wären, was die Quellbereiche moderner Choreografien und ihr Realitätskonzept und ihren Materialbegriff einschneidend verändert hat.
Im digitalen Zeitalter entstand ein neuer kultureller Schatz, der durch die digitalen Medien erzeugt wird, neue Figuren, Bewegungsmodi in unserer Alltagssprache, neue Referenzsysteme und Affekte, die nun im Tanz aufgehen – all dies wird als «Material» im tanzenden Körper als gestaltet und durchgearbeitet. Längst ist die Verkörperung eine, die nicht mehr nur spirituellen und traditionellen, sondern auch rein virtuellen Gesten und Figuren einen Körper leiht, die in unseren Tagen gleichwohl real sind, die sie also verleiblicht und unsere Vorstellung von dem, was ein Mensch ist, durch das Bewohnt- und Bewegtwerden von ganz anderen Substanzen und Codes erahnbar macht. Nichts kann den neuen Menschen so gut erfassen wie die soziale Kartografie des Tanzes. Selbst im Solo ist der tanzende Körper ein Medium des Zwischen und es absorbiert eben auch sehr intensiv die neuen sozialen Realitäten unserer Zeit und verstärkt diese durch ein eigenes Raumbewußtsein.
In Bezug auf die Herkunft des Tanzes betonte Mircea Eliade, dass alle Tänze ein außermenschliches Vorbild hatten. «Jeder Tanz ist in illo tempore geschaffen worden, durch einen «Ahnen», ein Totemtier, einen Gott oder Heros in der mythischen Zeit.» (in: «Kosmos und Geschichte», 1952, S. 29) Deshalb kann ich mir gut vorstellen, dass die Begegnung des Tanzes mit den Realitäten der digitalen Technologien die Vorstellung von dem, was heute eine öffentliche Vorstellung und ihr Material ist, weiter radikal verändert – das außermenschliche Vorbild kommt heute nicht mehr vom Ursprung, sondern aus der Zukunft. So entsteht ein neues Bewusstsein über das Verhältnis der Körper des Tänzers oder der Tänzerin in der Welt der Objekte, der Phantasien und des Organischen, das eher von Science Fiction geprägt ist als von den Wiederauferstehungs-Exerzitien der Giselle. Die neue Fähigkeit, freie tänzerische Kreationen durch Software zur «Literatur» werden zu lassen, aber auch die Möglichkeiten, neue Substanzen, wie sie durch Software generiert wurden, sich im Leib der Tanzenden verkörpern zu lassen, machen den Tanz zum wahrscheinlich spannendsten Medium unserer Zeit. Er bringt den Körper zurück – er holt das Chimärische aus dem virtuellen Bereich der Berechnungen herunter in die Realität der schwitzenden Biologie und ihrer geteilten Gegenwart. Das traditionelle Sprechtheater kann darüber zunächst nur reden, Musik bleibt spirituell, erst der Tanz ergreift und erfüllt die menschliche Gestalt mit einem ganz neuen Gehalt.
Der Begriff der Immersion meint jenes spezielle Moment, da im Erleben des Kunstwerks die Wahrnehmung des Mediums verschwindet – man ist «drin» im Werk. Wer zehntausend Stunden ein Instrument übt, «wird» das Instrument. Was bedeutet das für einen Tänzer, dessen Körper sein Instrument ist? Womit wird er eins, wenn er ab einem bestimmten Stadium seines Könnens aufhört, sich mit diesem Können weiter zu beschäftigen und stattdessen von einer anderen Begegnung erfüllt ist? Die tiefensensible Seite der Immersion, z.B. der Rolle des Körpers im virtuellen Raum, der Ersetzung des Körpers durch einen Bildkörper, kann insbesondere für die Kunstform Tanz von großem Interesse sein. Hier eröffnen sich Wege, die Sensibilität des Körpers und unserer Wahrnehmung in dem Maße voranzutreiben, in dem sich auch die Neuro-Wissenschaften entwickeln, die sich in Zukunft gut zu einer Zwillingsdisziplin der künstlerischen Forschung entwickeln könnten. Der Tanz tastet im wörtlichen Sinne diesen neuen Wahrnehmungsraum millimetergenau ab und vermisst so eine Landschaft, für die wir bisher nur vage Begriffe gefunden haben.
Am Ende wird Immersion, so meine Vermutung, durch einen ganz anderen, variableren und wärmeren Begriff ersetzt werden, der uns wiederum weiter an eine neue Form der künstlerischen Praxis heranführt. Das digitale Zeitalter als ein janusköpfiger Prozess der Realitätserweiterung und erweiterten Kontrolle hat die Rolle des Zuschauers und auch die Möglichkeiten des Performers bereits stark verändert. Wenn unser Begriff vom Raum und der Realität des Körpers sich durch die neuen Technologien weiterhin so stark verändert, wenn das «Material» der Verkörperung auf ganz neue Quellbereiche der Imagination von Leib und Ausdruck zugreift und der science fiction, den wir leben, zu dance fictions führt, wird sich die Pilotfunktion des Tanzes weiter dynamisieren – hier, an der Schnittstelle zwischen Konzept, Körperkunst, Digitalem und uralter Spiritualität könnten die neuen Rituale entstehen, die im Feld der Ausstellungen und der Aufführungen nur sehr zögerlich in Erscheinung treten.
Vielleicht hat die Zukunft des Tanzes mehr mit den Strukturen von Games zu tun als mit denen von Bühnen, mehr mit Geräuschen als mit Musik, mehr mit der Echtzeit als mit Wiederholung. Die Rituale des Tanzes ändern sich – zwar nicht an der Pariser Oper, wenn sich das corps de ballet präsentiert, doch parallel dazu ändert sich unser Denken über diese Rituale. Die Tiefenwirkung der digitalen Revolution führt bei vielen zeitgenössischen Künstlern zu anderen Formen des Einbezugs des Publikums, macht die Institutionen, die Hardware der Häuser und ihre Geschichte selber zum Material, begreift «Choreografie» also größer, körperübersteigend. Tino Sehgal choreografiert Häuser, komplette Besucherströme und seine Werke beruhen auf einem anderen Verständnis von «innen» und «außen». Der Performer wird bei Sehgal niemand anderer, aber es zeigt sich in ihm viel Anderes; er führt keine Handlungen mehr aus, weder im synchronisierten Chor noch als narrativer Held, sondern erzeugt Situationen – einen aktiv geteilten Stoffwechsel zwischen Besuchern und Künstlern, in dem Distanz reflektiert wird, um zu verschwinden.
«Immersion» ist dafür nur ein grober, immer auch ambivalente Aspekte beschreibender Begriff – immersiv sind ja gleichermaßen penetrierende, uns heimlich heimsuchende Prozesse wie auch die Momente beglückender Vereinigung. Immersiv ist die Gestaltung unserer Shopping Malls und das Funktionieren von Google oder Ikea – all diese Praktiken sehen uns als aktive Teilnehmer vor. Die digitale Realität und ihre verborgen manipulativen Strategien brauchen neue, schlaue Rituale, die offen und situativ sind und ein anderes Verständnis von der «Figur» des Menschen im 21. Jahrhundert entwickeln. Der zeitgenössische Tanz wirkt seit einiger Zeit wieder verändernd in die Bereiche der bildenden Kunst und des Theaters hinüber. Was eben noch kuratiert wurde, wird heute choreografiert. Darin spiegelt ich die große Kraft dieser wandelbaren Kunst, die im Verlaufe von weniger als 50 Jahren neue Schnittstellen des Erlebens und Erfahrens geschaffen hat und von der Biennale in Venedig bis zum Palais de Tokio für die anderen Künsten offensichtlich bei der Kreation neuer Rituale der gesellschaftlichen Selbstbegegnung wegweisend bleibt.
Der Text in der gekürzten Fassung erschien hier.