«Heimat ist ein inneres Land»
von Thomas Oberender
Heimat ist kein Ort, sondern ein Zustand. Seine Heimat verliert man so, wie man das Gefühl für etwas verliert, z. B. für das freihändige Fahrradfahren, ein Jugendlied oder eine Bekanntschaft von früher. Seine Heimat verliert man nicht, wenn einem der Ort abhanden kommt oder verboten wird. Die Heimat geht mit. Sie ist ein Landstrich, der sich von der Erde löst und als innere Landschaft irgendwo anders wieder Spuren hinterlässt – in Leibgerichten, Liedern oder einer sprachlichen Eigenart wie die alten Worte und Wendungen in der Sprache der Wolgadeutschen oder Siebenbürgen. In deren Ausdrucksweise klingt heute noch eine Heimat der Vorfahren an, die dort längst nicht mehr existiert.
Wenn ich, wie vor wenigen Wochen, aus beruflichen Gründen in einer anderen Stadt ein neues Zuhause suche, geht es zwar zunächst nur darum, ein möglichst angenehmes Quartier zu finden, aber natürlich schwingt auch die Hoffnung auf eine neue Heimat mit. Die Wohnungssuche ist eine Suche nach sich selbst: Man entwirft Lebenspläne, sieht sich U-Bahn oder Radfahren, über einem türkischen Imbiss oder neben dem Japaner wohnen. Man entdeckt, dass es die Stadt, in die man zu ziehen glaubte, so nicht gibt, dafür viele, voneinander extrem unterschiedliche Stadtteile. Jede Wohnungsbesichtigung führt zu einem alternativen Selbstentwurf und mit der Zeit verdichten sich die Erfahrungen zu einem Verlangen, das sich innerhalb einer Stadt relativ exakt verorten kann. Das Gefühl sucht sich eine Adresse und es ist interessant, daß man nicht eigentlich in eine andere Stadt zieht, sondern nur in eine andere Wohnlage, die einem gefällt, gleich wo sie liegt. Es ist die innere Wohnlage, die sich eine äußere Adresse sucht. Die Heimat wechselt nur die Postleitzahl. Und dann wird man «heimisch», die Lebensmittelhändlerin grüßt und die Kollegen geben einem die Nummern ihrer Hausärzte weiter.
Dennoch gibt es eine Ebene, auf der die Entscheidungen für eine Heimat oder gegen sie unbewusst fallen, bzw. keine sind. So kann man einen Dialekt nur bedingt abstellen und es ist schwer, in einer neuen Sprache den Akzent der alten zu vermeiden. Die einzige Heimat, die unverbrüchlich bleibt, ist die der Kindheit. In keine der späteren Wahlheimaten wächst man so hinein wie in jene Welt, in die man hineingeboren wurde. Mit dem Ort der Kindheit verbinden sich Gerüche und die Entdeckung von so vielem, das man zum ersten Mal sah und das so zum Inbild für alles wurde – die Kirche der Kindheit war das, wo jeder verstehen lernte, was «Kirche» heißt. Doch auch dieser Kindheitsort ist irgendwann, nach den unvermeidlichen Todesfällen, Neubauten und Haushaltsauflösungen nicht mehr in der Wirklichkeit zu betreten, sondern nur noch zu erinnern.
Heimisch könnte ich auch in Griechenland oder Florida werden. Zu einer Landschaft habe ich ein eher kontemplatives Verhältnis. Der Reiz einer Landschaft liegt in ihrer Kraft zur Inspiration, also einer geistigen Fruchtbarkeit, keiner agraischen. Denn die Überlieferung, die mich für einen bestimmten Lebensstil, einen Ort oder besondere Werte prädestiniert, ist keine, die unverrückbar an eine Landschaft gebunden ist. Dass es den Juden über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg gelang, ihre innere Heimat unangetastet zu bewahren, ist der Ausdruck dafür, dass ihre Heimat die Schrift war, kein Ort, sondern ein Buch. Heimat hat sich für sie nur bewahren lassen, weil sie sich vom Boden löste. Und mit dem Amerikanismus unserer Tage ist es nichts anderes, denn nach dieser pragmatischen Leitkultur läßt sich überall leben, insofern man seinen politischen und ästhetischen Mythen folgt.
So sind es vor allem die Dichter, die Heimat schaffen. Sie bauen Beziehungen auf - ihre Worte legen Brücken, sensibilisieren, verbinden. Die Gedichte und Romane Peter Handkes hinterlassen bei ihren Lesern eine neu erwachtes Bewußtsein, das sich überall mit Beobachtungen einhakt und das bislang Fremde plötzlich sieht und mitlebt. Peter Handkes Phänomenologie der drängend nah gerückten Flüchtigkeiten schafft Einbezogene und macht aus mir einen Erlebenden, auch wenn das Buch längst ausgelesen ist. Das Buch liest in mir weiter und die Augen entdecken plötzlich Heimat, egal ob in Salzburg oder New York, wo sie vor kurzem bloß Worte und Sätze lasen.
Frankfurter Rundschau, 1. März 2001