«Kein Fernsehrealist, ein Weltfremder»
Michael Maertens, ein moderner Schauspieler
von Thomas Oberender
Michael Maertens als Wladimir in Matthias Hartmanns Inszenierung von Becketts «Warten auf Godot» hat mich verwirrt, denn ich sah, wie anrührend ein erwachsener Mann auf der Bühne wirken kann, und dabei wie völlig schamlos. Mitten im Spiel nahm Michael Maertens plötzlich von Zeit zu Zeit eine Pose ein, eine in sich gebrochene, verdrehte, gekrümmte Haltung, die nicht aus dem Leben der Szene erwuchs, nicht aus dem Zusammenspiel mit anderen, sondern ein Stillleben zeigte, eine artifizielle Haltung und punktuelle Übertreibung hin zu etwas Anderem, das anders nie sichtbar werden könnte. In dieser Selbstskulpturierung sah ich, wie unvermittelt dieser Schauspieler einen Schritt über die Grenze geht, hin in etwas von mir nicht Betretbares – jenseits des «Lebensechten» und doch ganz unmittelbar.
Schauspieler sind vielleicht die einzigen Menschen, die – zumindest in ihrer Bühnenzeit – wissen, was sie tun. Sie müssen sich dafür wiederholen, viele Tage und Wochen, immer das Gleiche wieder und wieder und irgendwann ist klar, dass jede Zeile, jedes Wort, jeder Blick, jedes Lächeln, verlegene Achselzucken oder Beinevertreten einen Grund hat und seine Wirkung tut. Irgendwann wissen sie endlich wirklich, was sie tun und dann wissen sie es plötzlich nicht mehr. Dann reicht ihnen, was sie wissen, es stinkt sie an. Dann wissen sie alles, und halten sich nicht dran und so ist es jeden Abend auf der Bühne. Sie wissen alles und nichts.
Seine Figur entwickelt Michael Maertens als ein autonomes Bühnenwesen, das so nur in der Sphäre des Theaters sichtbar werden kann. Er hängt sich als Schauspieler scheinbar selbst an unsichtbare Marionettenfäden, die ihn in ein Wesen verwandeln, dessen «Natürlichkeit» etwas über die Natürlichkeit erzählt, aber nie nur natürlich ist. Die Maertens’schen Figuren an den unsichtbaren Fäden sind in jeder Dimension beweglich, auch körperlich eigentümlich anders, schlurfend, blitzschnell, in sich verwunden. Bei aller rührenden Naivität zugleich ganz amoralisch ständig zu allem bereit. Was Michael Maertens sich spielend erschafft, ist eine Kunstfigur und, vermittels der Transformation seiner Rolle in etwas Außeralltägliches, am Ende doch ganz unser Kumpan, ganz der Kamerad der Stunde.
Sein «Ach was!» – ein Peitschenhieb, in allen Nuancen – vom Komischen bis zum Verzweifelten, ist eine universell mit Ausdruck aufladbare Formel. So, wie er als Wladimir vor seinen Kollegen stand, im Hohlkreuz, Hände in die Hüften gestemmt, Kopf vorgebeugt und Kinn empor gereckt, schuf er sich eine Ausgangslage, eine undefiniert schillernde Position zwischen Trauer und Ulkigkeit, von der aus seine Figur unberechenbar in alle Richtungen und Exaltationen ausbrechen konnte. Es ist das persönliche Durchwandern des Unpersönlichen, das seine Figuren zu Gestalten einer eigenen Art macht, zu Wesen einer parallelen Welt. Von irgendwoher kennt man diese Haltungen, vielleicht aus Stummfilmen? Animationen? Aus Momenten des blitzhaften Aufscheins von Marotte, Wahn und Manie im Alltag, wenn sich im Leben die echten Krisen ereignen und uns aus der Bahn werfen? Vielleicht wirkt Michael Maertens auch so bannend, weil seine Haltungen, bei aller gesetzten Raffinesse, zugleich mit einer erbarmungswürdigen Unbeholfenheit spielen, die ihn als Gefährdeten, als gehemmten Melancholiker und unpraktischen Menschen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Seine in diesem Sinne sehr nützlich ausgestellte Unbedarftheit sorgt dafür, dass er auf der Bühne der ist, um den sich alle, insbesondere die Zuschauer, sorgen, da ihm scheinbar Arges geschieht, obgleich er alle dominiert.
Theater ist ungerecht - man sieht es auf der Bühne sofort: Es gibt Menschen, die erscheinen, setzen sich, schauen auf nichts Bestimmtes, ohne Absicht, und es kann um sie her passieren, was will, sie stehen oder liegen im letzten Winkel der Bühne und man schaut dennoch nur auf sie, die scheinbar so gar nichts tun und sich selbst genügen. Sie scheinen nichts weiter als zu strahlen, sonnengleich: Ihre Erscheinung ist still und unübersehbar, sich selbst in allem gewiß.
Es sind die unverwechselbaren Manierismen und seelischen Verwirbelungen seiner Figuren, die Michael Maertens zu einem modernen Schauspieler machen. Was unterscheidet ihn von einem Schauspieler der 50er Jahre? Es ist der Schritt über den Realismus der Figur hinaus, aber auch über die Theaterkonvention der Figur – es gibt in Maertens’ Spiel kein theatergeschichtliches Klischee, höchstens anverwandelte Ticks und typische Marotten, die er als der Eigentümliche an sich bindet. Als Schauspieler zeichnet er sich bei der Arbeit an diesen hybriden Figuren durch seine intuitive Suche nach einem Höchstmaß an gestalterischer Vielfalt, an präziser Durchinstrumentalisierung jedes Bühnenmomentes aus, aber eben immer als die Überführung des realistischen Impulses in eine Theatererfindung, die typische Momente der Alltagstheatralität zitiert und in der Rolle weitertreibt. Andere Schauspieler sind in ihrem Spiel gemütvoll bei sich, Michael Maertens hingegen gerät auf eine höchst konzentrierte und faszinierende Weise in seinen Figuren außer sich.
Ich weiß nicht, ob diese Dinge erlernbar sind. Michael Maertens stammt aus einer berühmten Schauspielerfamilie, vieles scheint ihm in die Wiege gelegt – Vater, Großvater und Geschwister sind erfolgreiche Schauspieler. Schon drei Jahre nach seinem Abschluß an der Schauspielschule erhielt er 1990 den Boy Gobert Preis. Er wurde früh zum Star und dennoch oder eben deshalb ist er, oder war er entwicklungshungriger als die meisten seiner Kollegen. Er ist überraschend theaterdemütig, theatergeschichtsbewusst und respektvoll gegenüber den Leistungen anderer. Und er ist der regiehörigste, ja regieergebenste Schauspieler, den ich kenne, was ein Fluch ist und manchmal, zunehmend seltener ein Segen, zumindest für ihn, der ja nie ein «ausführendes Organ» ist einer regieführenden Zentralgestalt ist, sondern selber ein Zentrum hat, selber ein paar Schritte weiter gehen möchte als die meisten Regisseure.
Was ist Talent? Im Theater begeben sich Menschen in einen Zustand, in dem sich andere Menschen, nur befinden, wenn sie in einer ernsten Krise sind. Sie sprechen Texte anderer, verhalten sich, wie sie sich selbst nie verhalten würden und beobachten sich und andere in einer Weise, die fast bedrohlich wirkt. Man gerät außer sich, zweifelt an der Realität und macht Erfahrungen, die «draußen» nur um den Preis der plötzlichen Lebensuntüchtigkeit zu erlangen wären – Menschen schreien sich an, schlagen und verführen sich, nehmen sich das Leben oder verfallen in melancholische Grübeleien: das alles auf eine streng bemessene Zeit, dafür aber mehrmals täglich und in der Regel lebenslang.
Auf den Szenenfotos ist es sofort zu entdecken: Er spielt kein «Theater», zeigt Leidenschaft nicht durch einen stieren Blick, rauft sich nicht die Haare, wenn er staunt oder mimt irgendwelche Gefühle, die nur ein falsches Lächeln oder pausbäckiges Wutgespiele bleiben. Auf den Probenfotos wirkt er wie im Familienkreis, nie übertrieben oder äußerlich und die Aufnahmen zeigen dies in der Regel schonungslos her. Aber bei Michael Maertens zeigen sie nur einen Mann, der mit Spaß tut, was er tut. Und dabei ist nichts artifizieller, als seine Montage der Figur, sein dezentes und dreistes Spiel.
Im Grunde duldet Michael Maertens nichts, was zwischen ihn und das Publikum tritt. Regisseure sollen bei dem Energieaustausch mit dem Saal, wie er sich für ihn allabendlich ereignet, nur die Kabelträger sein. Der Text ist das Medium dieser Begegnung mit dem Publikum, er ist die Software jeder seiner Bewegungen. Vielleicht glaubt Michael Maertens obendrein noch immer, dass der Text noch zu etwas anderem führt als Applaus. Aber es muss schwer für ihn sein, die Erotik der offenen Begegnung, wie sie sich in seinem Spiel auf der Bühne mit den Menschen im Saal ereignet, noch für etwas anderes zu nutzen als die hypnotische Wirkung seines Auftritts, seines Ausstiegs aus der Berechenbarkeit. Er würde so gerne ein anderer sein, einer für die tiefen Texte, so spürt man es manchmal, aber das Publikum ist einfach realer als das Geglaubte, so scheint es. Und so zeigt er das Tiefe als melancholischer Komödiant in der Begegnung mit dem Saal, der ihn nie «erwischt», so dreist er sich ihm auch zeigt und eben darin feiert und versteht.
Wenn Schauspieler spielen, versuchen sie nichts anderes, als Mensch zu sein. Denn worin besteht das Spiel sonst, als im Versuch, im Schutz der Rolle das Maß des Lebens voll zu machen? Schauspieler werden dafür immer andere Leben leben. Bemüht sein, die Figur zu erfassen und darin mit allem, was man hat, aufzugehen, ohne die Figur zu werden. Vielleicht meint das die merkwürdige Schauspielerregel: «Bleibe immer auf neunzig Prozent.» Denn wenn Schauspieler versuchen, ihre Figur zu hundert Prozent zu sein, schlägt die Zugabe merkwürdiger Weise um in Verlust und dieses «Mehr» bringt nicht das «Ganze» der Figur zum Vorschein, sondern nur den Schauspieler selbst - jemanden, der sich privat unglaublich anstrengt und seine Rolle verfehlt.
Michael Maertens bleibt als Künstler immer im Schutzmantel einer offensichtlichen Form. Unverkennbar ist bereits sein Gang: Kopf und Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, die Hände in der Jackett- oder Manteltasche vergraben, so dass der Körper in eine misslaunige Spannung versetzt scheint, läuft er fröstelnd, schlendernd, schleichend und aus diesem Grundtonus seines Körpers, dem unterspannten, mit sich hadernden Gang heraus ist er blitzschnell in Aktion. Dabei staunt er scheinbar immer ein wenig über das, was er zu sagen hat. Manchmal wird das Sprechen auch von einer inneren Regung behindert, die er hinunterschluckt oder weghüstelt, aber wenn es dann doch zu Sprache kommt, das Innerliche, dann indem er einen Ton darüber spannt, der wie ein rissiges Papier das Unglück bedeckt und keinesfalls belastbar ist.
Das in sich verkrümmte, verkrochene Weltentfliehen ist Michael Maertens Finte, um auf die Dinge dreist und direkt zu zugehen. Er ist ein Beau und die feinen, wie nach dem Abwasch feucht nach unten gehaltenen Hände vermitteln den Eindruck, er sei jemand, dem jeder Händedruck schmerzt. Aber er ist ein zäher, von aristokratischem Willen nach Wirkung getriebener Angreifer, der hinlauscht, nachdenkt und dann handelt. Er steht dem Geschehen scheinbar etwas fremd gegenüber, die Hände eben meist in der Tasche, wie jemand, der sich Gedanken macht über etwas, wozu dem er nicht gehört. Und oft wirkt er ein wenig tapsig, fast welpenhaft, geradezu verletzlich – darin aber, in dieser reservierten Unbeholfenheit vor der Gesellschaft, in der er sich bewegt, ist er auch von grenzenloser, da sich unschuldig fühlender Brutalität gegen sie. Und wirkt dennoch wie jemand, der dankbar ist, wenn man ihm nicht zu nahe kommt. Ihn nicht anfasst. Und ist seinerseits ein Schauspieler, der zu den anderen spricht, indem er an die Wand schaut, zur Decke oder zu Boden. Er spielt die Zuwendung als Abwendung. Es spielt auf einem Grundton, leicht über der Tonlosigkeit: Ein wenig genölt, plötzlich scharf, und sich kurz darauf in aller Schwäche dem anderen in die Hand gebend. Wenn er sich dem Gegenüber zuwendet, dann in einem Moment der wortlosen Blicke; zu den Worten aber blickt er weg, als ob es zu viel und zu indiskret wäre, wenn sich beides zugleich an ein Gegenüber richtet. Dieses Gegenüber wird von ihm als Schauspieler immer zart berührt, immer lieber nicht berührt – Nähe ist das ganz Schwierige, das ganz Unmögliche, das ganz Schöne, das aus einem instinktiven Schutz der Intimität heraus nur flüchtig und zart möglich ist. Und in dieser sensiblen, da eigentlich verbotenen Zone des Unausweichlichen, das man lieber nur streift, lieber nur mit abgewendetem Blick zur Kenntnis nimmt, ereignen sich dann die kleinen Notmorde, die Meucheleien, um die man leider nicht umhin kommt, zu bedrängend wirken die Zudringlichkeiten der Nächsten.
Niemand denkt während der Proben: was man tut, das sei ja nur zum Spiel – nein, man spielt mit den Möglichkeiten der Interpretation, aber nicht mit dem Interpretieren. Erst im Spielen hören die Schauspieler auf, zu spielen. Deshalb wird auch so wenig gespielt auf den Proben, und sehr gerne überlegt, gewitzelt, gezankt. Es geht um zwei, drei Momente der Wahrheit in vier, fünf Stunden Probe, was schon sehr viel ist. Dafür wird so viel Ablenkung produziert, Spiel, Posen, Quatsch. Nichts ist staunenswürdiger als die dauernde Ablenkbarkeit vom eigenen Zustand selbst bei den größten Darstellern – was für lebensunsichere Menschen sie sind. Ungewiß über sich selbst leben sie von der Halbwertzeit ihrer persönlichen Behauptungen. Dem einen hilft die Kantinenfamilie, dem anderen Yoga und der Glaube, «sich selbst» durch die täglichen Übungen näher zu kommen. Wie lebensunsicher der Mensch an sich ist, und was für ein Wunder es ist, wenn er, ob Schauspieler oder nicht, überhaupt irgendeine Art Sicherheit herstellen kann im Selbstempfinden, in der Art sein Leben zu führen, das versteht man am Theater besonders gut, wo es in den Proben doch um nichts anderes, als das Glaubwürdige zu finden und zumindest ein Stück lang fest zu halten.
Etwas Unzuverlässiges, über sich selbst sehr Trauriges und zugleich Täterhaftes ist an Michael Maertens: Ein überreizter Dandy mit Ganovenbärtchen. Jemand, der sich zusammennimmt und eine Form gibt, weil es für das Schwerwiegende, das er als Figur zu sagen hat, gar keine persönliche Beglaubigung geben kann. Beglaubigt wird durch eine Form, die Erfindung einer Figur, die der Bewohner einer Sonderwelt, der des Theaters, bleibt und hier ein eigenes Leben führt, nach eigenem Gesetz, in das das Rührende, das Ergreifende und Zerstörerische einbricht wie ein wildes Tier. Dieser Mann kämpft mit seinen Ticks, aber es ist diese vornehme Art, gegen nichts anderes zu kämpfen als sich selbst, mit der er alles gewinnt. Er redet in einer unnachahmlichen Weise manieriert, dehnt einzelne Worte wider den Sinn, pausiert und nörgelt, aber darin sehr zärtlich, vorsichtig, bescheiden und irrsinnig größenwahnsinnig im Bewusstsein, die Hauptrolle zu spielen. Obgleich sie ihm wie immer niemand zugesteht.
Er ist der Überlebende einer Klasse, die es nicht mehr gibt – ein Melancholiker, der weltmeisterlich leidet und liebt, einer, mit dem es als Figur etwas auf sich hat, der etwas plant, worüber er nicht spricht, das undurchschaubar bleibt. Doch plötzlich dreht er unbemerkt die Verhältnisse in seine Richtung und steht für alle staunend da und unschuldig erntet er sein Glück.
Im Interview beschreibt sich Michael Maertens als scheuen Menschen, der nicht gerne beobachtet wird. Auf der Bühne hingegen fühlt er sich nicht beobachtet, da er sich hinter Rollen und Texten verbirgt. Ein merkwürdiger Zustand: Die Öffentlichkeit zu suchen, in sie zu treten und sich auszustellen, um sich zu verbergen. Und dabei dennoch so intensiv zu kommunizieren – mit den Kollegen, mit dem Publikum. Vielleicht ist Michael Maertens auch deshalb dem Theater treu und unternimmt nur folgenlose Seitensprünge in die Film- und Fernsehwelt, da die Kamera ihn dort eben nur beobachtet. Mit ihr lässt sich, anders als mit dem ihn sehenden Publikum, nicht spielen. Das Publikum antwortet. Und wenn es eine Angst gibt, die Michael Maertens als Schauspieler bewegen könnte, dann vielleicht die, dass das Publikum zur Kamera wird, kalt bleibt, nicht antwortet, nimmt und nichts gibt, ihn entblößt, weil es ihn alleine lässt. Dagegen arbeitet er. An seiner Rolle. Und gegen diese Angst.
Vielleicht lassen sich Schauspielerstile unterscheiden in zwei Kategorien: Die Gemütsschauspieler und die Artisten. Auch für den Gemütsschauspieler ist das Spiel das eigentlich Leben – für ihn ist auf der Bühne etwas zu erleben, das draußen nicht zu haben ist. Der Gemütsschauspieler kann nicht anders, als sich in das, was auf der Bühne eingerichtet ist, hinein zu begeben und darin aufzugehen. Er zeigt nichts vor, sondern füllt aus. Er ist engagiert. Aber auch der Artist ist engagiert, auch er empfindet, was er spielt. Doch anders als der Gemütsschauspieler, der sich entgrenzt, indem er bis in die Tabuzonen des Alltags vordringt, ins Hässliche und Peinliche, überschreitet sich der Artist, indem er es ablehnt, gemütvoll zu sein. Seine Kunst will nicht wirken, als ob er nicht spielt. Der Artist geht einen großen Schritt über die Rollen des Lebens hinaus und kreiert eine Figur, die auf Erden nicht zu finden ist. Eine Figur wie Harlekin. Wie den Tramp. Wie den doppelt geknickten Michael Maertens.
Das signifikante Talent Michael Maertens besteht darin, eine Figur erfunden zu haben, die von ihm nicht ablösbar ist und dennoch nicht er selbst. Man erkennt ihn sofort – ihn als Figur, an der merkwürdigen Geknicktheit seines Körpers, der nöligen Stimme, seinem patzig traurigen Lachen und immer fröstelndem Gang. Ihn bestimmt als Figur in jeder Hinsicht die immer vorhandene Gegenregung – er ist der einzige Mensch, der auf einen anderen Menschen zugehen kann, indem er zurücktritt, der Mitleid erregt, indem er angreift, der laut wird, indem er leise spricht. Diese an unsichtbaren Fäden geführte Figur erscheint in all seinen Rollen, so wie der Tramp in allen Rollen Charlie Chaplins.
Und in einer Zeit, in der die Sehnsucht der Kunst scheinbar in Richtung des so genannten «Authentischen» geht, zeigt ein Schauspieler wie Michael Maertens, dass er im artifiziellen Gefüge seiner mit dem Publikum flirtenden Figur zehnmal mehr realistische Details und Lebensmomente eines Menschen erfasst und zum Ausdruck bringt, als die privat entblößten Kleindarsteller ihrer Selbst. In Michael Maertens wirkt eine andere Gabe: Er ist ein Schauspieler, der übersetzt. Nicht ins Private und nicht ins Theaterkonventionelle, sondern in eine fremde Konstruktion.
Wenn die Ökonomisierung unseres sozialen Lebens, wie sich dies gerade mit aller Macht in den sozialen Netzwerken und der Datenernte im Internet durch die großen Lebensplaner zeigt, keine Reserve mehr duldet, keine Sphäre, die im Leben des Einzelnen nicht vom Markt erschließbar wäre, so bedeutet dies auch, dass wir uns durch keine Form mehr wehren und schützen können. Dagegen, gegen den Terror der «Authentizität», setzt Michael Maertens die «Weltfremdheit» seiner Figur, das freie Spiel des Tramps. Er spielte in den besten Jahren seiner Karriere zeitgleich acht Hauptrollen an drei der wichtigsten deutschsprachigen Bühnen. Er ist besessen. Keiner von uns. Er studiert uns. Von der Bühne herab.
Foto © Arno DeclairErnst Stötzner und Michael Maertens in «Warten auf Godot», Bochumer Schauspielhaus