«Sein Werk ist Verhalten»
Thomas Oberender spricht mit und über Tino Sehgal anläßlich der Eröffnung seiner Werkschau im Martin Gropius Bau
Thomas Oberender: […] In Tino Sehgals Arbeiten lässt sich eine für unsere Zeit markante Bewegung beobachten, die Zeitkunst zu Raumkunst werden lässt und Raumkünste zu einer Zeitkunst. Dank dieser Transformationsbewegung, die die Infrastrukturen, die Erzählformen, aber auch die Substanz der Werke entscheidend verändert, ist Tino Sehgal einer der auffälligsten und bedeutendsten zeitgenössischen Künstler geworden. Seine Arbeit beruht in hohem Maße darauf, immaterielle, unstoffliche Werke herzustellen, obgleich sie natürlich an den Körper der Menschen gebunden ist. Im Grunde steht sie in einer sehr langen Geschichte – ich würde sagen, es ist die Geschichte eines Museums der Gefühle, das es vielleicht 2000 Jahre gibt, und das seltsamerweise auf der Idee beruht, dass es Wege geben muss, wie bestimmte Erlebnisformen zwischen Menschen, die ihrer Natur nach flüchtig und vergänglich sind, aufbewahrt werden können: Wie kann man von dem, was das Leben zutiefst prägt und das auf eine ganz essentielle Weise mit dem sozialen Charakter des Lebens zu tun hat, eines Lebens, das niemand für sich alleine leben kann, weil der Mensch scheinbar erst in der Begegnung mit anderen zu sich selbst wird und sich dabei unvermeidlich anderen vermittelt, wie kann man also genau das festhalten, was doch eigentlich mit jedem Leben und jedem Lebensmoment verschwindet? Wenn ich sage, dass man das seit 2000 Jahren versucht, dann hat das eigentlich auf den ersten Blick wenig zu tun mit den Arbeiten von Tino Sehgal, auf einen zweiten aber schon: denn dieses «Museum der Gefühle», in dem wir sozusagen die großen Leidenschaften, die großen Gedanken, die Kämpfe, die Niederlagen, die Begierden und die Tricks aufgehoben sehen, ist natürlich das Theater. Man nennt seine Objekte Stücke. Und diese Art, festzuhalten, was eigentlich eine Form von Austausch ist, das ist eine Situation, die eine soziale Technologie hervorgebracht hat, welche es uns erlaubt, Zeit, die vergeht, zu wiederholen, und das heißt auch: wieder zu holen.
Wenn man sich die Arbeiten von Tino Sehgal anschaut, hat sein Schaffen zunächst überhaupt nichts damit zu tun, weil er im Grunde alles tut, was dieser alten Idee der «Repräsentation» von Leben entgegensteht – es gibt bei ihm keine Notation, es gibt keine Vorstellung von Figur und Rolle, seine Kreationen sind eigentlich das ganze Gegenteil, insofern sie keine Welt abbilden. Vielmehr vermag es die Arbeit von Tino Sehgal, dass der Besucher hier in eine eigene Realität eintritt, die eine «Situation» ist – «Situation» ist das Wort, das Tino Sehgal an die Stelle der Idee und Praxis der Repräsentation oder Performance gesetzt hat. Und diese Situation ist immer eine multilaterale, der man nicht gegenübersteht, es geht nicht um die Abbildung von Situationen, sondern es geht um die Herbeiführung einer geteilten Realität, so erlebe ich das zumindest, und diese geteilte Realität ist eine, die auf Begegnung beruht.
Nun ist das Merkwürdige und für mich Faszinierende an dem Werk von Tino Sehgal, dass seine Arbeiten zum einen eine sehr raffinierte und strenge Form von Ausschließlichkeit entwickeln, das heißt, da gibt es immer ein Moment der Unberührbarkeit, das durch eine sehr starke Form entwickelt wird und diese Form grenzt das, was das Kunstwerk ist, ab von dem, worin wir eintreten, wenn wir dem Kunstwerk begegnen. Die andere sozusagen paradoxe Gegenseite dazu ist eben die Öffnung, das Immersiv-Werden der Arbeit, das Abstreiten des Zwangs, das in der Begegnung mit dem Kunstwerk eine besondere, für mich auch tatsächlich freudvolle Form von Freiheit in der Begegnung mit dem Werk erzeugt.
Es ist fast immer so, dass ich lächeln muss oder in eine Art von sympathischer Beziehung zu dem Werk trete, auch wenn es sehr oft einen hohen Grad von Unheimlichkeit entwickelt. Unheimlichkeit, die etwas in der strengen Form Begründetes hat, aber eben auch weil sie darauf beharrt, zunächst einmal eine eigene, fremde Form von Realität zu sein. Wenn man sich näher damit beschäftigt, was Tino Sehgal macht, so entdeckt man sein Schaffen als einen höchst eigenwilligen Praxis der Weitergabe von Verhalten. Die Werke, die Tino Sehgal herstellt und die ja auch von Galerien als Kunstwerk im Raum der Bildenden Kunst gehandelt, vertrieben, repräsentiert werden, beruhen darauf, dass sie Verhalten stiften und bei denen, die ihnen begegnen, eine bestimmte Form von Verhalten bewirken können. Wenn ich sage, dass diese Arbeiten im Zentrum auf ihrer Unstofflichkeit beruhen, nicht auf ihrer Unkörperlichkeit, dann haben sie natürlich doch durch diese besondere Art schon ein großes Thema und einen großen Stoff, der sie umtreibt und ich würde sagen, dass es in unserer Zeit auch ein sehr politscher Stoff ist, denn das «Verhalten» ist ja längst kein Unschuldiges mehr in dem Moment, wo es zum Gegenstand, zur Handelsware wird. Die sozialen Netzwerke der digitalen Welt sind ja nicht nur harmlose Freundeskreise, so hilfreich und verbindungsstiftend sie auch wirken, sie sind im Grunde Datengärten, die von den Eigentümern der Plattformen, auf denen sie wachsen, regelmäßig geerntet werden. Und dieses «Materialwerden» des Verhaltens in der sozialen Realität unserer Gesellschaft wird unsere Lebenszeit immer stärker prägen und in unserem Alltag immer häufiger Momente installieren, die eine Begegnung mit der Verwertung unseres Verhaltens, mit einer letztlich auf kapitalistischen Regeln beruhenden Handhabung dieser Verhaltenssphären beruht, welche durch ökonomische Prozesse und eine ihr folgende Logik bestimmt sind. Dieser merkantilen Dynamik selbst innerhalb der intimsten Sphären unserer sozialen Welt, da, wo es um Freundschaft und Familie, geht, gilt es sich zu entziehen, und darum nach Möglichkeiten zu suchen, wie man sich anders verhalten kann und sich der Ökonomisierung unseres Verhaltens entzieht, es als Sphäre der Freiheit erlebbar zu halten.
Genau das, und noch vieles andere mehr, leistet jedes Kunstwerk von Tino Sehgal. Er versucht in seiner Arbeit, so wenig wie möglich an neuen «Dingen» in die Welt zu bringen. Sein Werk ist Verhalten. Es ist ein anderes Verhältnis zum Environment, zu dem, was wir als Ressourcen, als materielle Dinge des Lebens herstellen und verbrauchen. Auch das ist ein für mich in der Kunstwelt ein sehr seltener und bewusster Umgang genau mit dieser sozialen und politischen Dimension von Kunst, was sich in diese Ausstellung deutlich zeigt. Sie sehen leere Räume – unser Haus ist in einer Weise purifiziert von dieser Werkschau Tino Sehgals, wie sich das zuvor wohl noch nie in der Geschichte des Martin-Gropius-Bau ereignet hat, denn normalerweise bringt ja jede Ausstellung eine große Menge eindrucksvoller Objekte rein in dieses Haus – wir haben ganz viel rausgebracht. Natürlich haben wir auch etwas hereingebracht, aber das sind eben keine Dinge sondern es sind Menschen, es handelt sich hier tatsächlich um eine Menschenausstellung, und dank dieser Menschen werden es also Begegnungen sein, die sich um diese menschlichen Situationen herum ereignen, welche wir ausstellen und ihnen steht man als Betrachter nicht mehr gegenüber, sondern man ist stets mitten drin.
Ich bin sehr froh, dass wir einen großen Baum in unsrem Lichthof pflanzen konnten. Die Galerie Johnen/Schipper hat vor einigen Wochen «This is you» gezeigt, eine wunderschöne neue Arbeit von Tino Sehgal und ihr Echo weht durch die Zweige dieser Pflanze unter unserem Glasdach. Tino Sehgal ist selbst eine Art Berliner Pflanze – die Ostberliner Volksbühne, das Podewil, die Erlebnisse der Arbeiten Einar Schleefs, all die künstlerischen Erfahrungen, die man in dieser Stadt sammeln konnte, haben sein Schaffen entscheidend geprägt. Insofern ist es höchst an der Zeit gewesen, dass wir Tino Sehgal gewinnen konnten, für und mit uns diese große Werkschau zu realisieren. Und diese Ausstellung ohne Objekte zeigt dennoch eine Vielzahl von weltberühmten Bildern. Viele der «Situationen» von Tino Sehgal vollziehen einen Transfer von Referenzsystemen – sie bedienen sich in raffinerter Weise an der Produktionen von Bildern des menschlichen Lebens, wie sie in der langen Geschichte der Malerei, aber der Photographie stattfand und läßt diese ikonografischen Bilder dann als Zitate oder als Formationen in den «Situationen» der Akteure auftauchen. In einer gewissen Weise, so möchte man jedem Besucher dieser Ausstellung gerne sagen, sind hier so viele Meisterwerke in einer Ausstellung gesehen wie selten sonst. In der Zusammenführung verschiedenster Werke von Tino Sehgal, wie sie die große Werkschau im Gropius Bau leistet, erscheinen diese Bilder allerdings in einer anderen Form – verlebendigt, wieder in lebende Körper zurück geführt. Und ich glaube, dass die meisten Besucher, wenn sie in eine solche «Situation» eintreten, sofort das Gefühl haben, die dort agierenden Menschen sind Skulpturen. Man erspürt die Bildreferenz als Zauber.
Ich würde gerne zum Schluss mit Tino Sehgal über eine Arbeit noch etwas eingehender sprechen wollen, und zwar «Ann Lee». Dieses Werk hat Philippe Parreno gekauft. Kannst du etwas zum Hintergrund dieser Figur erzählen? Ich habe «Ann Lee», allerdings von einer anderen Darstellerin performt, gerade in New York in Philippe Parrenos großer Show in der Armory Hall gesehen. Es war auch dort beeindruckend dieses junge Mädchen in ihrer Begegnung mit den Besuchern zu erleben. Wie ist die Arbeit entstanden und wie reist sie durch die Welt?
Tino Sehgal: Es war ein Projekt im Jahr 2000 – Pierre Huyghe und Philippe Parreno hatten kurz zuvor diesen Manga Charakter eines Mädchen, die dann zu «Ann Lee» wurde, in Japan gekauft, daraus ein Video gemacht und das an verschiedene Künstler weitergegeben. Es war ein Projekt, das ein bisschen die Nuller Jahre einläutete. Ich war nicht eingeladen, es hat mich aber sehr interessiert – so ähnlich wie so Momente an der Volksbühne oder bei Einar Schleef: Wow, was ist das? Jahre später, die beiden hatten das Projekt längst beerdigt, es lief nicht mehr mit der Ann Lee, kam ich auf diese Figur zurück. Mich interessierte bei Huyghe, Parreno oder auch James Coleman, dass in der Bildenden Kunst auf einmal Leute agierten, die Szenarien und Dialoge schreiben – James Coleman war glaube ich der erste. Diese Tradition wollte ich irgendwie aufgreifen, und auch so ein bisschen sagen, das ist auch meine Tradition und also versuchen, mich mit diesen Künstlern zu verbinden. Gefragt habe ich sie allerdings nicht, ob ich mit Ann Lee, diesem Charakter, den sie einmal frei gekauft hatten, weiter arbeiten darf, weil das Projekt offiziell beendet war. Der Abschluss bestand darin, dass sie Ann Lee – sehr französisch – sich selbst übereignet haben, sie besitzt das Zeichen für sich selbst, das habe ich nie verstanden. Mein Ansatz war: Sie möchte halt verkörpert werden, so geht die Geschichte. Sowohl Pierre Huyghe als auch Philippe Parreno haben sich sehr darüber gefreut – Philippe Parreno ist ja ein sehr großzügiger Mann und wollte meine Arbeit dann auch gleich kaufen. Und beide wollten diese Arbeit dann auch in ihren Ausstellungen zeigen.
Thomas Oberender:: Diese Arbeit zeigt vielleicht exemplarisch, in wie vielen Realitätsebenen aber auch Materialvorstellungen die Arbeiten von dir angelegt sind.
Tino Sehgal: Sie wurde auch schon abwechselnd mit dem Dialog gezeigt.
Thomas Oberender:: Es gab eine große Ann Lee Ausstellung in Zürich, ich glaube, das war 2007, kuratiert von Beatrix Ruff. Ich finde die Idee in mehrfacher Hinsicht faszinierend. Einerseits, weil sie einen virtuellen Charakter mit virtueller Realität extra dafür gekauft hat und ihm dann in verschiedenen Medien eine neue Existenz geben konnte. Das andere ist, dass tatsächlich eine Gruppensituation der Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Thema war. Es war diese Künstlergruppe, von der du eben gesprochen hast, die jene «relational art», wie Nicholas Borreaud sie genannt hat, geprägt haben und die eine Kultur der Kooperation, gegenseitiger Wertschätzung und Kollaboration entwickelt haben, die ich auch im Zusammenhang mit deiner Arbeit sehr bemerkenswert und wohltuend erlebe.
Tino Sehgal: Ich bin ja eine Generation jünger als die genannten Künstler. Und sie haben tatsächlich ziemlich früh angefangen, Anri Sala, mich, Trisha Donnelly, also eine jüngere Generation als sie, einzuladen. Das erste Mal gab es diese Form von Zusammenarbeit glaube ich in «Il Tempo del postino», einem Projekt in Manchester von Philippe Parreno.
Als Folgeprojekt wollten dann der Hans Ulrich Obrist und Klaus Biesenbach ein Projekt machen, mehr zu meiner Generation. Aber das ist Quatsch – das Interessante an dieser Generation der 90er Jahre ist ja, dass sie dieses Avantgardespiel nicht mehr mitmachen wollten und sich abgrenzten vom «Vatermord». Das war einer der Gründe, aus denen ich eine Ann Lee entwickelt habe und am Interessantesten ist für mich nach wie vor, dass diese Künstler damals damit aufgehört haben, dieses Spiel weiter zu spielen. […]