«Narration heute»
Zur Zukunft des Theaterstücks
von Thomas Oberender
Ich glaube, traditionelle Theaterstücke haben eine sichere Zukunft. Aufzuschreiben, was jemand als jemand sagt, der er nicht ist, aber für den er in Erscheinung tritt, in Räumen, die nicht die Räume sind, von denen aber wiederum gesagt wird, sie seien eben andere Räume, zu einer Zeit, die gar nicht die aktuelle ist – das alles ist ein so wunderbarer Vorgang der Verschiebung und Metamorphose der Realität vor den Augen der Welt, dass diese Anleitungen zur großen Transformation, diese Notationen von Geschichten und Abläufen wohl noch lange Zeit jedem Spaß machen werden, der spielen will, der eine Welt herbeibehaupten möchte und ein Leben ausprobieren will, dass er selten leben kann. Theaterstücke in diesem traditionellen Sinne einer Repräsentation von etwas da draußen irgendwo drinnen und unmittelbar nah sind die Notenschrift einer sehr einzigartigen, komplexen Aufführungspraxis – was in ihnen notiert steht, erzeugt eine durch den Text stets vorkomponierte Verhaltensweise einer Gruppe von Menschen, die zusammen ein Werk erklingen lassen, indem sie es spielen und herzeigen. Die literarische Notation von Dialogen erzeugt im Theater ganz nebenbei gebaute Bühnenarchitekturen, spezielle Kleidungsstücke und Masken, eröffnet Assoziationen die zu Klängen werden, Musik und Lichtstimmungen, sie sind Welterzeugungsmaschinen aus Text, der nachgelebt werden soll durch jene, die uns seine Wörter vorsprechen.
Theaterstücke sind genau für diese Welterzeugung von Interpreten gemacht – sie sind Software für eine über Jahrhunderte gereiften Hardware, also von Ensembles und Infrastrukturen, die auf Grundlage der Texte von Autoren immer wieder neue Welten mit großem Gehalt produzieren können, relativ schnell und sicher oder sagen wir: erprobt. Texte sind der Ausdruck von Erfahrungen, oft denen eines individuellen Autors oder auch einer Hand von Leuten, die in diesen Texten etwas anwenden und ausprobieren, was sie von der Welt verstanden haben. Texte sind Problembearbeitungsprozessoren. Von der Lyrik und der Epik unterscheidet sie, dass sie die Notation von Handlungen und zugleich Handlungsanleitungen sind – sie wollen ausgeführt werden, aufgeführt und gespielt. Warum sollte das aus der Mode kommen? Kompakter kann literarisch nicht formuliert werden, was zwischen Menschen geschieht und wieder Geschehen werden soll. Diese Software war vor einigen Jahrhunderten so kostbar, dass Stücke selten als ganzes, sondern nur die Kopien einzelner Rollen weitergereicht wurden.
Theaterstücke werden sinnvolle Textformen bleiben, denn sie sind ein genialer Code um das Diffuse, das die menschliche Existenz umgibt, in ein handliches, darstellbares Format zu bringen, das sich wieder in ein Spiel zwischen Menschen auflösen kann. In deren Darstellung entwickelt das Leben als Bühnengeschehen beinahe unvermeidlich so etwas wie eine Teleologie, offenbart also Motive, Zwecke und Typen. Es gibt keine andere literarische Technologie, die so auf die öffentliche Aussprache von Ideen und Konflikten hin orientiert ist. Man spricht hierzulande nicht mehr laut Gedichte in Gesellschaft, wie dies in arabischen Ländern üblich ist. Lyrik bleibt privat, Prosa auch, nur Stücke richten sich noch an die Öffentlichkeit, an eine Gruppe von Menschen, die von den Sprechenden her wahrgenommen werden, die also anwesend sind für die Künstler. Das behält seinen Reiz – für Autoren wie für die Schauspieler.
Nachahmung ist ein ganz besonderes Geschäft. Zwar kennt die Natur die Mimikry im Sinne der Anpassung, der evolutionsgeschichtlichen belohnten Täuschung der Angreifer durch einen Schwächeren, der die Formen der Stärkeren benutzt. Aber nur der Mensch kann nachahmen im Sinne der Wiederholung von etwas Fremden, das dann sich aber von der Vorlage aufgrund der Eigenart des Nachahmenden unterscheidet und als das Andere erscheint – mit dem sich der Mensch auseinandersetzt. Dieses Andere zu artikulieren, haben Autoren unternommen seit es das Abendland gibt. Die Erfindungen großer Figuren, Geschichten und Thesen durch Theaterautoren, ihre dramaturgischen Konstruktionen und geistvoller Sentenzen haben einen Schatz an Erfahrungen geschaffen, den inwendig zu erfahren und herzuzeigen eine der intensivsten Möglichkeiten ist, unser Leben kennen zu lernen und zu genießen. Es ist der Blick und Sprung in eine andere Welt.
Die Wiederholung des Fremden, das die Texte enthalten und zur Nachahmung anbieten, bewirkt zugleich ein Verbrennen des Textes: Während jeder Aufführung verbrennen die Worte im Verhalten einer Gruppe von Menschen. Was Autoren also indirekt bewirken, ist das Kenntlichwerden der spielenden Menschen, die unweigerlich in ihrer spezifischen Eigenart hervortreten, wenn wir sie andere nachahmen sehen. Wirkliche Theaterliebhaber verfallen den Schauspielern, mehr ihnen als den Texten, d.h. mehr ihrer vom Text freigesetzten Eigenart als den ein ums andere mal anderen Figuren. In jedem Fall wirkt das Theater entlarvend im Hinblick auf den darstellenden Künstler selbst – dem Wortsinne von larva gemäß – das Gespenstische, die Maske vorzeigend. Was dann zu Tage tritt, ist in der Regel nie das, wovon das Kunstwerk scheinbar handelt, sondern der Handelnde selbst. Ein Theatertext unterscheidet sich von der Bedienungsanleitung einer Waschmaschine – unter anderem – eben darin, daß er fühlbar werden lässt, wer sein Schöpfer ist. Eine Aufführung zeigt den, der sie realisiert und erst darin, in zweiter Linie, das, was er zeigt.
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