«Die Bühne der Gegenwart»
20 Jahre Theater der Festspiele auf der Perner-Insel in Hallein
von Thomas Oberender
Warum soll sich Kunst an einem Ort ereignen, der dafür nie ein Haus bot? Auf einer Bühne, die in einem Siederaum einer ehemaligen Saline steht, ohne Drehscheibe, Schnürboden, Portal, ohne Seiten- oder Hinterbühne, ohne Versenkungen. Die lediglich ein nacktes Podest beherbergt und eine mächtige Tribüne für mehr als 700 Zuschauer. Statt Logen und Foyers zeigt die Industriehalle ihr Dachgebälk her, die Stützpfeiler und Kassettenwände aus Beton. Es ist kein Ort, der für die Kunst errichtet wurde. Sie hat diesen Raum vielmehr besetzt, weil er die Freiheit bietet, ihren üblichen Präsentations- und Repräsentationsumständen zu entkommen, die mit dem roten Vorhang verbunden sind. In Hallein gibt es keinen.
Warum also soll sich Kunst an einem Ort ereignen, an dem aus Sole Salz wurde? Das Salz, das die Region reich und Salzburg mächtig machte? An dem gearbeitet wurde, statt repräsentiert und regiert? Hier, wo Motorräder gebaut wurden und die Künstler Gilbert und George in ihrer Jugend eine traditionelle Handwerksschule besuchten, aber keine Kunstakademie? Auf einer Insel inmitten eines sich gabelnden Flusses, der eine Papierfabrik mit Wasser versorgte und die lange Zeit nur für die Salinenbeamten als Erholungsfläche reserviert war? Warum hier Kunst? Weil Kunst hier in seiner eigenen Sache so freigestellt und erstaunlich erscheint wie ein Eisbär in der Wüste. Statt Stuck an der Decke und einem weichen Teppich am Boden gibt es hier die karge Realität einer ehemaligen und noch immer spürbaren technischen Produktionsstätte, die jedem Kunstwerk an diesem Ort etwas schenkt, das andernorts nicht zu haben ist: Die Reibung mit einer Wirklichkeit, die ihre eigene Geschichte hat und andere Forderungen stellt.
Die nackte Halle sagt: Hier wurde gearbeitet. Die leere Halle sagt: Hier gab und gibt es eine Wirklichkeit neben der Kunst, eine Geschichte, die sich mit Fragen der Nützlichkeit, des Broterwerbs, der Technologien und Arbeitskämpfe verbindet. Eine Geschichte des Niedergangs der Produktion, in deren Ruinen, wenn man es gründlich betrachtet, sich eine andere Art von Auferstehung oder Produktion ereignet. Aber sie hat hier, als künstlerisches Werk, keinen Schutz – sie muss ihre Notwendigkeit durch den Sinn, die Wärme des Ereignisses selbst erzeugen. Das lockte die Künstler an, denn hier konnte man nicht nur einzelne Aufführungen erfinden, sondern immer wieder auch ein ganzes Theater dazu, andere Wirkungsweisen, andere Zuschauersituationen.
Peter Stein 1997, Bühnenbild «Libussa»
Peter Stein hat, wenn ich das recht entsinne, diesen Ort, durch einen Akt heiliger Schwarzarbeit, von polnischen Gastarbeitern zur Spielstätte ausbauen lassen, indem er den von technischen Apparaturen verstellten Raum zur freien Bühne umschuf. Der Überlieferung nach war die Perner-Insel für ihn, als Schauspieldirektor, die neu geschaffene «Schmuddelecke» für jene Künstler der nächsten Generation, die in der Hofstallgasse des Festspielbezirks noch nicht ‚hoffähig’ waren, Jürgen Kruse zum Beispiel, Künstler, die seinen unbedingten Glauben an ihre Begabung später auch rechtfertigten. Also war die Perner-Insel für die Salzburger Festspiele vor allem ein Labor, eine stadtnahe Alternativspielstätte, die zuvor bereits von der «Szene Salzburg», von Michael Stollhofers freiem Theaterfestival, für Aufführungen überraschender Theaterformen entdeckt und besetzt wurde. Die Segnung des Ortes, erschlossen also ursprünglich von diesem Freie-Szene-Geist, der einer generellen Aufbruchsbewegung der Kunst in jenen Jahren entsprach, mit zahllosen Festivalgründungen und alternativen Spielorten, erfolgte dann der lüsterne Einmarsch der Festspiele an diesen Platz. Die Freie Szene zog weiter und die Festspiele veränderten sich.
Peter Steins «Libussa» zum Beispiel war eine Inszenierung ohne Portal. Schauspieler der berühmtesten Bühnen des Landes erschienen hier plötzlich in einem Bühnenbild, das rohe Bretter zu einer Welle aus Holz bis in die oberen Bereiche der Rückwand schwemmte. Ein Aufatmen setzte ein. Über die Entdeckung eines vergessenen Stückes einerseits und andererseits, sie begünstigend, die Entdeckung eines Raumes, der es ganz freistellte, es dem Kunst- und Theaterbetrieb entzog und an diesem fremden Ort die sich aus sich selbst heraus begründenden Notwendigkeit des Textes bestätigte. Dafür war Hallein plötzlich der Ort! Ein Ort der beglaubigt – nicht durch die Weihen der Tradition, wie sie die Festspielhäuser verkörpern und verströmen, sondern durch eine andere Geschichte, die Geschichte der Anderen, derer, die keine Kunst gemacht haben, sondern Salz. Hier stand die Sache, das Stück, die Schauspielerkunst und das Regiekonzept für sich selbst und wirkte wie befreit.
Die Rettung von Max Reinhardts «Jedermann», vielleicht sogar der Salzburger Festspiele in der Stunde ihrer Gründung, war, dass sich für dieses Initialprojekt, man vergisst das leicht mit dem Abstand der Jahrzehnte, kein wirkliches Theater an diesem Ort fand: Einer notgeborenen Eingebung folgend wurde der Dom zur Kulisse, und somit das geschichtlich Wirkliche zur Grundlage fürs Spiel. Aus dieser Not entstand eine Form von überraschender Wahrheit, die jene erzählerischen und theatralen Momente der Architektur, der Naturkulisse einer Stadt, ihres Doms, ihrer Plätze und Parks aufnahm in die Wirklichkeit einer Inszenierung. Denn kein Bühnenbildner könnte sie wirkungsvoller schaffen oder als Rahmen setzen. Heute nennen wir das site specifi – damals war dies eine unerhörte Sensation: Es wurde nicht geklatscht am Ende der Aufführung, so «anwesend» wurde der heilige Geist Stückes und Ortes. Und das gleiche, in einem anderen Sinne, gilt für Hallein.
Heute gibt es kein großes Festival der Welt, das nicht irgendwo auch einen Raum als Spielstätte etabliert hat, der nie fürs Theater gedacht war. Industrie- und Messehallen oder Kirchen - seit den sechziger Jahren wurden an fast allen Stadttheatern Kinos zu erweiterten Spielstätten, zog es die Ensembles in Räume, die wie in Wien vorher Casinos oder Kasernen waren, Orte mit Eigenleben, Orte der Abstoßung von der Überlieferung, einer Umgebung, die demokratisch wirkt, keine Schwellenängste kennt, nicht elitär und dünkelhaft, sondern dem Zeitgenössischen so selbstverständlich verpflichtet wie das Kino. Es sind zudem Orte, die immer auch eine andere Atmosphäre der künstlerischen Produktion schaffen, an denen die übliche Maschinerie des Theaters nicht vorhanden ist, wo daher der eine mit dem anderen, die Technik mit den Künstlern, weit enger und fließender verbunden ist als in den statischen Strukturen der routinierten Betriebe. Das tut dem Erfindungsgeist gut, dem Nachdenken über allzu selbstverständliches und der Bildung von kreativen Gruppen.
In Hallein waren die Produktionen, die ich in diesen fünf Jahren angeregt habe, immer auch ein wenig evakuiert vom Festspieltrubel. Die tatsächliche Insellage der Spielstätte beförderte ein ganz außergewöhnliches Maß an Konzentration auf die Proben – keine Ablenkung, ungestörte Hingabe an Probieren, keine anderen Vorstellungen unterbrachen die Arbeit, keine weiten Reisen, hier, in Hallein, zählte jede Probenwoche für die Ensembles vor Ort doppelt im Vergleich zu den Bedingungen des üblichen Theaters, denn so ungestört von morgens bis in die Nacht ließ sich nirgends sonst schaffen. Es entstanden hier in einem seltenen Sinne Produktionsfamilien – innerhalb der künstlerischen Gewerke, aber auch im Zusammenspiel der mit ihnen befassten technischen Abteilungen. Was sich regelmäßig in den schönsten Hoffesten zur Halbzeit und Premiere zeigt, für alle war ihre Arbeit an diesem Ort immer auch der fleißige und belebende Urlaub von den Umständen ihrer gewöhnlichen Art des Produzierens – durch alle Krisen hindurch zu einer seltenen Erfahrung von Gemeinschaft, in der höchste Professionalität mit einer seltenen Familiarität auf Zeit verschmolz.
Wie übrigens auch, da der Ort selbst keine spezifischen Vorgaben machte, auf dieser Bühne immer wieder die Gattungen selbst ineinander fließen konnten – Schauspiel, Tanz und Musik: Das Interdisziplinäre ist hier immer das Naheliegende, die Chance. Ich habe mich oft gefragt, warum man, wie diese ja mitunter auch sehr erfolgreich geschah, auf dieser Perner-Insel das Burgtheater mit seinem Portal und seinen technischen Extravaganzen nachbauen soll? Einen Anlass zu schaffen, der die Besucher des Salzburger Festspielbezirks dazu bewegt, in die Busse nach Hallein zu steigen, ist eine große Herausforderung. Dieser Anlass sollte die Besucher zu etwas führen, das sie in den Festspielhäusern und in den üblichen Theatern so nicht finden können. Daher war für mich Hallein immer auch der Ort besonderer Formate – des kompletten Faust I und II, einer Trilogie der Needcompanie oder eines Moliereprojekts, das jene vier Stücke, in denen Moliere selbst spielte, zu einem großen, stellvertretenden Lebenslaufs vereint.
Bisweilen sind die Erwartungen vieler Besucher aus der Stadt Hallein durch die moderne Ästhetik enttäuscht wurden – all zu arm sah das moderne Theater in ihren Augen hier aus. Eine in Hallein ansässige Journalistin fragte mich im Folgejahr der Inszenierung von Luk Perceval, ob denn das Bühnenbild nun wieder nichts kosten dürfte, und spielte damit auf den leeren Raum der «Molierepassion» an, in dem es fünf Stunden lang schneite, fünf LKW-Ladungen Kunstschnee verbrauchend, bis am Ende der Bühnenboden knöcheltief im Weiß versunken war. Immer gab es auf Seiten der Halleiner Bürger auch den Wunsch, dass das große Theater in Hallein so aussehen möge wie das im Festspielbezirk, und eben nicht wie das, was das Eigentümliche an diesem Ort sein kann, der von sich aus keinen Pomp zeigt, sondern Industriegeschichte, keinen Glamour, sondern herausfordernde Sachlichkeit, nackte Spuren der Arbeit, so dass sich die Kunst an diesem Ort anders beglaubigt als in den Tempelbezirken der Festspielhäuser. Aber das Vertrauen in diesen speziellen Reiz der lokalen Spielstätte nahm, so schien mir, unter den Bürgern der Stadt von Jahr zu Jahr zu. Vielleicht auch, weil der Erfolg dem Engagement der Politik und der Gastfreundschaft der Bewohner Recht gab – Hallein ist, was die Aufführungen der Festspiele hier betrifft, oftmals der Ort weitaus zeitgenössischerer Produktionen, offener Formen und klarer Voten für das Neuland der Kunst. Insofern waren diese 20 Jahre in Hallein Ausdruck eines konstanten Aufbruchs der Festspiele ins Feld der ästhetischen Neuerungen und kritischen Reflexion der gesellschaftlichen Gegenwart. Und diese 20 Jahre markieren eine Entwicklung, die, so hoffe ich, gleichermaßen notwendig wie irreversibel ist.
Ich weiß nicht, ob das Vorhandensein der Perner-Insel für die Salzburger Festspiele bedeutet hat, dass hier Aufführungen entstanden, die in ihren Festspielhäusern nicht hätten entstehen können. Jene sehr besonderen Theaterarbeiten, die diese Spielstätte seit zwanzig Jahren prägen, wären hinsichtlich der gegebenen Bedingungen wahrscheinlich sogar unaufwendiger im Salzburger Landestheater oder in der Felsenreitschule realisierbar gewesen. Und doch ist es so gewesen, dass all die Regisseure, denen ich eine Arbeit in Hallein anbot, die besonderen Gegebenheiten dieses Außenpostens der Festspiele als eine Herausforderung im guten Sinne, und mehr noch, als Gewinn für ihre künstlerische Arbeit betrachtet haben. Die große Halle der ehemaligen Solereinigungsanlage ist wirkt beeindruckend als freier Raum ohne Feierlichkeit und Schmuck, alles ist offensichtlich erst in ihn hinein installiert worden, auf ganzer Breite die Bühne ohne Nebenräume und Sichtblenden, vor der Rampe in ganzer Tiefe die imposanten Sitzreihen mit ihren inzwischen wieder durchlaufenden Bänken bis hoch in die Arbeitsplätze der Beleuchter und Tontechniker. Irgendwie geheimnislos, und doch in der aufgeräumten Ruhe und Konzentration des Ortes auf seinen Zweck beinahe schon wieder industriell und pathetisch, so nüchtern, wie hier alles auf seine praktische Funktion und Aufgabe hinweist.
Hallein, so denke ich heute, hat den Festspielen weit mehr moderne Impulse geschenkt als manch große Inszenierung im Festspielbezirk und ist eben so, umwegig, für das, was die Salzburger Festspiele in die Zukunft führt, ein sehr zentraler, aufregender Ort geworden. Dem «Theater der Nacht» wird der Festspielhäuser hier, ebenso wie am Domplatz und in der Felsenreitschule, ein «Theater des Tages» gegenüber gestellt, oft mit interdisziplinären Kreationen und internationalen Akteuren, so dass sich hier, am Rand, über die Jahre hinweg die Bewegung der Geschichte spürbarer vollzieht als im Zentrum des Festspielbezirkes und so schrieb die Freie Szene hier dann doch auch einmal Festspielgeschichte.