«Ich war bereit, ein Oblomow zu werden»
Samuel Beckett und das Warten am Ende der Hoffung
von Thomas Oberender
Erst mit vierzig Jahren vollzog Samuel Beckett die entscheidende Hinwendung zur Berufung des Schriftstellers. Bis dahin hatte er gewartet. Dieses Warten erweist sich als grundlegend für sein gesamtes Werk - Romane, Gedichte und Stücke. Beckett war ein Avantgardist des Wartens.
«Nur der Baum lebt.» Dieser Satz, obgleich in Becketts «Warten auf Godot» leichthin gesprochen, ist nach dem zweiten oder dritten Wiederhören der wohl traurigste Satz der Weltdramatik. «Nur der Baum lebt.» Bodenlos ist die Agonie, das Aufstöhnen dieses Gedankens. Mit diesem Satz wechselt ein Mensch die Welt, in der er lebt, ohne sie zu verlassen. Er nimmt seine Existenz ohne Sinn und Gewicht an, als sein unerlöstes, aber zu lebendes Leben. Statt Trost ein Bewusstsein für Spiele, statt Halt die streng rationalen Zeremonien eines Versuchs, zur Sprache zu kommen. Unterbrochen nur vom Schweigen, von dem langen Atem der Einsamkeit und der Erfahrung der Abwesenheit.
Auf den Ausdruck dieser Erfahrung gründen sich der Reichtum von und die unüberwindliche Nähe zu Becketts Texten. Was den Menschen von sich und der Welt entfremdet, ist nichts, was ihm allein von den «Verhältnissen» zugefügt wurde - er ist, wie es Ionesco im Blick auf Beckett beschrieb, entfremdet geboren. Die Geste, mit der Beckett seine reduzierten Helden aus der horizontalen Dimension des Lebens herauslöst, aus ihrer Einbettung in Gesellschaft, Herkunft und Klasse, lenkt den Blick in die Vertikale, auf das Darüber und Darunter, den Himmel und das Grab.
Verloren und erdrückt
«Nur der Baum lebt» - diesem Satz zu folgen, heisst, die sternengreifende Jugend weit hinter sich zu lassen. Becketts Helden sind keine jungen Männer und Frauen. Sie sind Erinnerer, Loners, klassenlose Randgänger und Gestrandete, wie sie wohl nur in den jüngeren Stücken von Jon Fosse wiederkehren. In einem Gespräch mit Charles Juliet erzählt Beckett von den düsteren Jahren, nachdem er seine Stellung an der Universität Dublin aufgegeben hatte. Er lebte zunächst in London, dann in Paris. Und hatte, so berichtet er Juliet, auf eine glänzend begonnene Hochschullaufbahn verzichtet, ohne deswegen schon Schriftsteller werden zu wollen. Er bewohnte ein kleines Zimmer in einem Hotel am Montparnasse und fühlte sich verloren und erdrückt, wie ein Wrack. «Ich war bereit», so Beckett, «ein Oblomow zu sein (…). Ich hatte immer das Gefühl, als ob in mir ein Ermordeter wäre, ein vor meiner Geburt Ermordeter. Ich musste diesen Ermordeten wieder finden. Versuchen, ihn wiederzubeleben.»
Er lebte anfangs vom schmalen Erbe seines Vaters. Spätere Versuche, als Literaturkritiker zu arbeiten, scheiterten, eine Übersetzung von Rimbauds «Bateau ivre» für einen amerikanischen Verlag hielt ihn über Wasser. Er schrieb drei Romane, auf deren Veröffentlichung er kaum hoffte, bevor er sich nach der deutschen Besetzung von Paris der Résistance anschloss, der Verhaftung durch die Gestapo knapp entging und bis Kriegsende als Landarbeiter im Roussillon lebte. 1946, beim Besuch seiner Mutter in Irland, vollzog sich Becketts Verwandlung zum Schriftsteller. Sie ereignete sich auf einem seiner ausgedehnten Spaziergänge, an der Mole im Hafen von Dun Laoghaire bei Dublin. Plötzlich wusste er, was tun. Er war damals vierzig Jahre alt. In «Das letzte Band» heisst es, mit Blick auf jene denkwürdige Nacht im März, am Ende der Mole, im Sturm: «Endlich war klar, dass die Finsternis, die ich immer verzweifelt zurückzudrängen versucht hatte, in Wirklichkeit mein Bestes ist - unzerstörbare Verknüpfung bis zu meinem letzten Atemzug von Sturm und Nacht mit dem Licht der Erkenntnis und dem Leuchtfeuer …»
In rascher Folge entstanden zwischen 1947 und 1949 seine wichtigsten Werke, «Molloy», «Malone stirbt», «Warten auf Godot» und der «Namenlose». Manuskripte, die ohne nachträgliche Korrektur in Druck gingen. «Ich bin kein Intellektueller», sagte Beckett in einem Gespräch mit Gabriele D’ Aubarede. «Alles, was ich bin, ist Gefühl. Molloy und all die anderen kamen an dem Tag zu mir, als ich mir meiner eigenen Verrücktheit bewusst wurde. Erst dann begann ich, die Dinge zu schreiben, die ich fühle.»
Im ersten Moment überrascht dieser Hinweis auf das Sentiment, sowohl bezüglich der Person des Dichters als auch des Werks. Beckett als Person, das ist der Asket. Man kann ihn sich, so beschrieb es Cioran, ein paar Jahrhunderte früher in einer kahlen Zelle vorstellen, von jeder Dekoration unberührt, nicht einmal ein Kruzifix. Cioran verweist auf den abwesenden, rätselhaften, «unmenschlichen Blick» Becketts auf einigen Fotografien, der an die Augen des drogengegerbten Gesichts von Keith Richards erinnert. Sie halten ihre Zigarette auf die gleiche Weise, wie sie es mit dem Leben halten. Dabei lebte Beckett skandalös einfach, in einer schmucklosen Wohnung im obersten Geschoss eines Hochhauses am Boulevard Saint-Jacques, zwischen einer Garage und einer presbyterianischen Kirche, mit Aussicht auf die Santé, das grosse Pariser Gefängnis.
Avantgarde
Beckett war elegant und höflich, diskret und frei von Neid; er wechselte die Sprachen, um der Gefahr des «Stils» zu entgehen, und verliess die Tischgesellschaften, wenn ihm das Gespräch aufdringlich erschien. Seine Texte brachten einen Ton in die Welt, der bis dahin nie vernommen wurde. Er war die Avantgarde und zugleich ein vollkommener Solitär. Avantgardist, da er am Totpunkt der Literatur laborierte, ebenso wie die Avantgarde der Malerei am Totpunkt des Abbilds arbeitete, die der Musik an ihrem eigenen Verklingen, dem Übergang zum Geräusch. Avantgardist im Sinne einer Reduktion auf das gerade noch Unentbehrliche: Seine Figuren sind Torsi, Namen- und Herkunftslose, leben in einer Mülltonne, einem Schaukelstuhl, sind nur noch ein Mund, das Echo ihrer selbst oder Schritte. Avantgarde - das ist das Fluchtgepäck der Moderne, der Versuch, das Leben in Gestalt der Kunst unter den Minimalbedingungen des drohenden Todes hinüberzuretten in die Zukunft. Und Beckett, so erscheint es immer deutlicher, war der Avantgardist des Wartens, der nicht aufgegebenen Erwartung.
Er schuf sich und seine Welt im Erlebnis und abgrenzenden Studium des Schaffens von James Joyce und Marcel Proust. Becketts erste Veröffentlichung war ein Essay mit dem Titel «Proust», ein Text, der das gesamte spätere uvre des Dichters Beckett vorwegzunehmen scheint, ja dieses letztlich nur als die ungeheuerliche Entfaltung jenes Wissens und Empfindens erscheinen lässt, zu dem ihn die Entdeckungsfahrten «In Swanns Welt» führten: «Prousts Geschöpfe sind Opfer dieser vorherrschenden Bedingung und dieses vorherrschenden Umstands - Zeit; Opfer, wie niedrigere Organismen Opfer sind, die nur zwei Dimensionen kennen und plötzlich mit dem Mysterium der Höhe konfrontiert werden: Opfer und Gefangene.»
Becketts Werk liegt als programmatischer Nukleus in diesem Essay bereits fertig vor. Doch anders als Proust und Joyce nimmt Beckett in seinem Schaffen Abschied von dem Versuch, das «Ganze» in der Umfassung und Gleichsetzung der Gegensätze abzubilden. Die unerhört reiche, «negative Anthropologie», wie sie Klaus Bahners nennt, läuft bei ihm auf den Zweifel hinaus, die grosse Unbewegtheit, die Ununterscheidbarkeit von leerem und vollem Bewusstsein - weder noch, heisst es in seinem Gedicht «neither»: «Hin und her vom innern zum äussern Schatten / vom unergründlichen Selbst zum unergründlichen Nichtselbst / weder so noch so / wie zwischen zwei erleuchteten Zufluchten, deren Türen beim Nähern / sacht sich schliessen, beim Abwenden / sacht wieder sich öffnen / gesandt her und hin und abgewandt / ungeachtet den Weg, bedacht auf den einen Schimmer / oder den anderen / unerhörte Schritte einziger Laut / bis zuletzt einhalten für immer, fort für immer / vom Selbst und dem andern / dann kein Laut / dann sachtes Licht unverlöschlich auf jenem unbedachten / weder noch / unsprechbares Zuhause.»
Beckett ergab sich nicht der Versuchung, ein Oblomow zu werden. Er spürte die Verführung. Aber er ging spazieren, bis hin zur Mole des Hafens von Dun Laoghaire bei Dublin - nicht gelöst, nicht frei schreitend, sondern wohl eher verzweifelt. Er wurde vierzig, bis er wusste, was er, Beckett, fühlt. Doch Becketts existenzielles «Warten», sein «Weder-noch» haben, so scheint es, die nachfolgenden Generationen nicht mehr ausgehalten. Eugène Ionesco nannte Becketts Figuren «Hiobs auf dem Misthaufen». Mit diesem Misthaufen sollte aufgeräumt werden - im Namen der historischen Wahrheit, der Demokratie oder des Sozialismus. Beckett hingegen machte einen grossen Schritt zur Seite. Sein Stöhnen weist in die Höhe, vorsätzlich geäussert aus den niedrigsten Niederungen. Becketts revolutionäre Texte sind Texte nach der Revolution. In ihnen ist der Traum der sozialen Erlösung ausgeträumt.
Die Abwesenheit der Erlösung
Becketts Texte quittieren den Bankrott jeder Revolution, jeder weltlichen Eschatologie. Das auszuhalten und anzunehmen, fällt schwer. Doch Erlösung ist für Beckett kein Angebot. Eher ein leidvolles Aushalten ihrer Abwesenheit, mit Blick auf die Santé. Insofern scheint sich unsere Zeit dem Weltempfinden von Beckett langsam wieder anzunähern - die grossen Erlösungsversprechen, und auch die kleinen, zogen vorüber, Francis Fukuyamas «Ende der Geschichte» scheint erschüttert durch Usama bin Ladin, doch Beckett würde sagen: weder noch. Er setzte an die Stelle von Erlösungshoffnungen seine Bilder des Wartens - im wahrsten Sinne: «Warten auf Godot» ist ursprünglich inspiriert von Caspar David Friedrichs Gemälde «Zwei Wanderer, den Mond betrachtend», das Beckett auf seiner verzweifelten Deutschlandreise 1937 in Berlin sah. Seine Stücke sind allesamt Bilderfindungen für einen Circulus vitiosus des Immergleichen, der Conditio humana.
Es ist, ohne einen generellen Trend beschreiben zu wollen, auffällig, dass im Gegenwartstheater, nach dem Ende der Ära des Konzepttheaters, plötzlich wieder das begriffslose Bild im Vordergrund vieler Inszenierungen steht: Alvis Hermanis, Luk Perceval, Robert Lepage, Simon McBurney, auch Frank Castorf mit Bert Neumann und Jonathan Meese, Peter Sellars mit Bill Viola - sie schaffen begriffslose, aber verständnistiefe Bilder wie einst Beckett mit Baum und Stein in öder Landschaft für Estragon und Vladimir, mit Fenster, Rollstuhl und Leiter für Hamm und Clov, mit Mülltonnen für Nell und Nagg, dem Tonband für Krapp, dem riesigen Himmel über der Einöde von Winnie und Willie. Beckett, inspiriert von der bildenden Kunst, hatte viel Gefühl für Bilder, die mehr und Dauerhafteres erzählen als die Interieurs seiner Tage.
Und man kann sich, so merkwürdig es klingt, auf Becketts Gefühl verlassen: Seine Ausschaltung der Horizontalen, vorgelebt in der noblen und spartanischen Existenz des Dichters, der Intimität und Integrität seines Werkes - sie leitet den Blick auf die Vertikale. Nicht sentimentalisierend, aber gesättigt von Sentiment. Wir scheinen, als Theaterkünstler, in Anbetracht der Radikalität dieses Dichters, immer zu jung. Zu bürgerlich. Zu ergeben der Achtung, der Etikette, dem Einkommen. Diese Distanz bleibt. Wir nähern uns ihm nur ausnahmsweise, wie Shakespeare, wie Kleist. Lebenslang auf der Suche nach einem Sturm und Hafen wie dem bei Dublin. Becketts Satz «Nur der Baum lebt» ist dafür ein Kompass. Er bindet über die Erfahrung von Traurigkeit. Und zugleich formuliert er eine Einsicht, einen Mut zur Distanz: Beckett lebte, wie Cioran es nannte, nicht in der Zeit, sondern neben der Zeit. «Nur der Baum lebt» - dies ist ein Satz, der vor Hunderten von Jahren in einer nackten Zelle hätte gesprochen werden können, von Konfuzius oder Meister Eckhart, Mohammed oder Ibn’Ata Allah, denn ihm wohnt auch Heiterkeit inne. Vielleicht die letzte, die unverkäuflich bleibt.
Thomas Oberender, ab 2007 Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele, arbeitet als Autor, Dramaturg und Co-Direktor am Schauspielhaus Zürich.