«Da begann ich mein geschenktes Leben»

Die Geschichte von Raskolnikows Beil, der Bettlägerigkeit und des «Museums des Bösen» im Werk von Tankred Dorst

Laudatio anläßlich der Verleihung des Schiller Gedächtnispreises, Stuttgart 2010

«Über das Portal meines Theaters», sagte Tankred Dorst, «würde ich schreiben: Wir sind nicht die Ärzte, wir sind der Schmerz.» Was ist es, das einen Menschen zum Schreiben bringt? Und wichtiger noch, dafür sorgt, dass er damit nicht aufhört? Über vierzig, fünfzig, sechzig Jahre seines Lebens? Tankred Dorst schreibt noch immer. Seit jenem Tag, da, wie er sagt, «sein geschenktes Leben» begann.

Mit zehn Jahren schrieb Tankred Dorst, Sohn einer gut situierten Bürgerfamilie aus Oberlind in Thüringen, sein erstes Stück, bei Kriegsbeginn war er dreizehn, mit vierzehn wollte er Dramaturg am Stadttheater Coburg werden. Mit sechzehn nahm er an einem Marinelehrgang der Hitlerjugend teil und prompt nach Hause geschickt, weil er auf der Nachtwache beim Lesen erwischt wurde. Ein Jahr später wurde er einberufen und geriet nach vier Wochen Kriegseinsatz an der Westfront in eine Gefangenschaft, die er für mehrere Jahre in amerikanischen und englischen Lagern verbrachte.

«Ich erinnere mich, wie ich in Amerika ankam. Es hieß: wir dürfen New York sehen, und so schob sich langsam eine Schlange aus den unteren Decks, wo wir viele Tage und Nächte verbracht hatten, über schmale Gänge und eiserne Treppen hinauf und plötzlich war oben die Nacht über mir und die Stadt ringsum erleuchtet, im Friedensglanz, und das Schiff glitt lautlos langsam mitten hinein.» (Der Autor stellt sich vor, S. 51)

Die nun folgenden Lagerjahre waren für Tankred Dorst Lesejahre, Jahre der Arbeit und des Zusammenlebens mit einer bunt gemischten Gesellschaft deutscher Mithäftlinge – es war seine «eigentliche Lehrzeit». Von Amerika führte sein Weg zurück in ein zertrümmertes und traumatisiertes Land. Die Deutschen, die den zweiten Weltkrieg überlebt hatten, waren nicht mit dem Schrecken davongekommen, er saß tief in ihnen.

1947 kommt der Einundzwanzigjährige zurück nach Deutschland, «ohne Abitur, ohne Geld oder Beziehungen». Er hat sich eine Zeitlang herumgetrieben, wusste nicht, was er anfangen soll, und hatte das Gefühl, «dass ich das ganze weitere Leben, das doch, wenn ich es von heute her sehe, erst angefangen hatte, in Kellern verbringen würde. Es war ja alles kaputt.»

In der Gegend von Dortmund war er von einem übervollen Zug gesprungen, suchte das Haus seiner Tante, zwei Zimmer bewohnte sie noch, alle anderen Zimmer und Flure waren mit Flüchtlingen belegt. Er bezog «ein notdürftig eingerichtetes Kämmerchen unterm Dach. Da, wo früher Koffer und kaputte Möbel gelagert waren, da oben verbrachte ich eine konturlose Zeit, hörte das Pausengeschrei der Schulkinder von gegenüber, hörte die mächtige katholische Glocke läuten und das Klappern der Milchkannen von der Molkerei nebenan.

Da begann ich mein geschenktes Leben,

fühlte mich fremd, konnte mit mir nichts anfangen, trieb mich herum, ging in die Ostzone nach Thüringen und wieder zurück, ohne eine Vorstellung von Zukunft. In den Trümmern von Wuppertal suchte ich bei einem Freund Obdach, den ich aus der amerikanischen Gefangenschaft kannte: Wir waren beide gierige Leser, süchtig danach, etwas über die Welt zu erfahren, die uns nicht liebte.» (Noch einmal Öderland, S. 72)

Er trieb sich herum als Schmuggler und Schwarzmarkthändler, und als die Zeiten langsam besser wurden, holte er sein Abitur nach und begann in Bamberg ein Studium der Germanistik und Philosophie. Da er von etwas leben musste und sich als junger Mann nützlich machen wollte, übernahm er eine veraltete Seifenfabrik in Wuppertal aus dem Familienbesitz, allerdings nur, um sie kurz darauf zu schließen. Er besucht bis Mitte der fünfziger Jahre die Universität in München, «fertig studiert habe ich nicht. Ich blieb in meinem kahlen Zimmer, deckte mich mit dem Teppich zu und hatte keine Vorstellung davon, wie ich mein Leben weiterbringen sollte.» (Der Autor stellt sich vor, S. 52)

In seiner Büchner-Preis-Dankesrede zitiert er den Dichter mit dem Satz: ««Manche Menschen sind unglücklich, unheilbar, bloß weil sie sind.» Büchner kennt ihre Melancholie, sie hat ihn selbst mitten im revolutionären Aufbruch befallen.» (Phantasie über ein verloren gegangenes Theaterstück von Georg Büchner, S. 67).

Inmitten des anbrechenden Wirtschaftswunders lag Tankred Dorst wie ein Oberlinder Oblomow auf seiner Bettstatt, zog den Teppich unters Kinn, war besten Willens und zugleich doch unfähig, am praktischen Aufschwung mitzutun. Und in dieser Lage, auf der Matratze unterm Dach liegend, empfing er, wie Jon Fosse es einmal nannte, das Geschenk der Traurigkeit, das auch eines der Fremdheit ist, etwas, das ihn zum wirklichen Autor werden ließ: Draußen, so beschrieb er es später, hörte er die mächtige, katholische Glocke, das Klappern der Milchkannen, und planlos, zum praktischen Handeln außerstande, empfand er die hinweislose Offenheit seiner Lage plötzlich als das Geschenk einer endlich zu ihm dringenden Gegenwart, in all ihren Farben, Klängen und Atmosphären. Vielleicht geschah dies, gerade weil ihm die Zukunft und auch die Vergangenheit so vollkommen abhandengekommen waren. Plötzlich sah er seinen Platz im Gewimmel, das von draußen zu ihm drang - zu einem, der überlebt hat, vorm Nichts stand, oder besser mittendrin lag, liegen blieb auf seiner Matratze, und doch inmitten der Welt. In dieser notdürftig eingerichteten Kammer empfing er den Blick, der sein Sehen mit seinem Dasein kurzschloss.

Von da an war Tankred Dorst nicht mehr Strandgut auf den Wellen der Weltgeschichte, der junge Mann, den es an die Westfront, Arbeitslager und Trümmerstädte verschlug, sondern einer, der sein «geschenktes Leben» annahm, sich in seiner Lage begriff und auf die Welt schauen konnte, wie sie ist, als wären ihm Schleier von den Augen gefallen. Also: Irgendeine besondere Dickköpfigkeit, Trägheit oder Trostlosigkeit sorgte dafür, dass die Welt zu ihm kam.

Das klingt ein wenig nach dem Anbrechen guter Tage, aber es ist auch die Geschichte eines jungen Mannes, der seine Heimat verloren hatte, sein Kapital, seine sozialen Verbindungen und einsam war bis zum Verstummen. Eines Tages bemerkte er, wie sein Mitstudent, der im Krieg ein Bein verloren hatte, sich irgendwann genierte, in die Uni zu gehen, weil die Einbeinigen allmählich aus den Hörsälen verschwunden waren. Er war wie dieser Student begierig darauf, etwas über die Welt zu erfahren, obwohl sie ihm, wie er sagt, gezeigt hatte, dass sie ihn nicht liebt.

Und eben das wurde sein «geschenktes Leben», jenes zweite Leben als Autor, das auf der Empfindung der Fremdheit beruhte, nicht allein der Heimat gegenüber, sondern sie betraf den eigenen Platz in der Welt, die auf einmal so überaus lebendig wurde und zu ihm zu sprechen begann. Denn dieses Gefühl der Fremdheit öffnete ihm die Augen: Er hatte überlebt, keine Pläne, viel Zeit und sah die Dinge plötzlich, wie sie sind.

Nun gibt es zwei große Bettlägerige in der Geschichte der Literatur, mindestens zwei, deren Beispiel sich hier anzuführen lohnt: Der eine war ein hoch begabter und zugleich mittelloser Jurastudent, der in einer Art Bretterverhau dahinvegetierte, bis zur Raserei gedemütigt durch seine Armut und die ihn umgebende Niedertracht der Verhältnisse in Petersburg um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Er hieß Raskolnikow und war der Urheber einer fixen Idee, der zufolge einige auserwählte Menschen sich über das Material der Geschichte, also die folgsamen Ameisen der Gesellschaft, erheben dürfen, ja, erheben müssen, um die Verhältnisse ihrer Einsicht gemäß, und zum Wohl der Allgemeinheit, zu verändern. Woran man diese Auserwählten erkennt? Ihnen sind, ihrem eigenen Verständnis nach, Verbrechen erlaubt, da sie ihr eigenes Recht setzen. Dass er zu diesen Auserwählten zählt, kann sich der Jurastudent Raskolnikow nur beweisen, indem er sich über das Gesetz stellt, zum Verbrecher und so tatsächlich zum Auserwählten wird. Zu diesem Zweck erschlägt er eine von ihm als «Laus» bezeichnete, Pfandleiherin und ihre Schwester mit der Axt und es gelingt ihm, durch zahllose Zufälle begünstigt, ein tatsächlich perfektes Verbrechen. Allerdings erweist sich schon bald, dass Raskolnikow der eigenen Idee seelisch nicht gewachsen ist. Am Ende des Romans begleitet eine russische Heilige ihn nach seinem Geständnis in die Verbannung und ist bei ihm, wenn er als verurteilter Mörder in einem sibirischen Arbeitslager auf einen Fluss schaut, und zum ersten Mal fühlt, dass er einen Menschen liebt, dieses Mädchen, und plötzlich tritt das Leben an die Stelle der für ihn unheilvollen Dialektik und «in seinem Kopf entsteht nun etwas völlig anderes».

Mit ungefähr dieser Erfahrung, die das Ende von Raskolnikows Weg markiert, beginnt Tankred Dorst zu schreiben. Raskolnikow ist der dunkle Bruder des Dostojewski-Lesers Dorst, sein stiller Mitbewohner im trostlosen, mit alten Möbeln verstellten Moskauer Verhau, ihm nah in der Einsamkeit und Zurückgezogenheit, und doch auch sein Gegenteil: Ein Mörder im Namen der Idee, dessen letzte Wandlung und Erfahrung eines sich eigentlich am Anfang des «geschenkten Lebens» von Tankred Dorst stand.

Für Dostojewskis ist Raskolnikow infiziert vom Nihilismus des Westens, in dem sich der Mensch an die Stelle Gottes setzt und sein Recht über das der Natur und Mitmenschen stellt. Es war eine Generation entwurzelter Kriegsheimkehrer oder Kriegsvertriebener wie Tankred Dorst, Wilfried Minks oder Kurt Hübner, die vom Anspruch der Ideen auf Herrschaft über die Welt in der Praxis des Faschismus genug erlebt hatten. Sie prägte eine Generation der Antiideologen, von Künstlern, die nicht im linken oder irgendeinem Jargon sprachen und keine intellektuellen Angriffskriege führten, da sie die wirklichen Kriege noch kannten. Ihnen wurde das Leben «geschenkt», gerade indem es ihre Pläne durchkreuzte und sie in eine hinweislose Stille entließ.

«Sein übersteigt die Einsicht.», zitiert Tankred Dorst einmal Cioran, «Sein macht Angst.» Und diese Angst machte Tankred Dorst produktiv. Seine Generation vermied die Ideologien und hegemonialen Antworten und schrieb über das Portal ihres Theaters: Wir sind nicht die Ärzte, wir sind der Schmerz.

Diese Generation schenkte der jungen Bundesrepublik in Ulm und Bremen ihr erstes, originäres Theatererwachen, vor der Generation der 68er. Tief und vielfach bezeugt ist Tankred Dorsts Abneigung gegen das Ideologische, den Geltungsanspruch von Theorien bis hin zur Idee formaler Konzepte, die ihm als «das Fremdeste und sogar hassenswert» (Brief ans Fernsehen, S. 101) erscheinen. Diese Abneigung ist in seinem Schaffen spürbar als immerwährendes Hadern mit den geschlossenen Dramaturgien von Ursache und Wirkung, der durchschaubaren Folgerichtigkeit und Motivation. Dagegen setzte Tankred Dorst die prekäre Form der offenen, und in sich doch schlüssigen Dichtung, und erfand für sich eine «Dramaturgie des zerbrochenen Spiegels», die durchaus zu geschlossenen Werken und Welten führte, aber fern ab der engen Plausibilität des psychologischen Dramas oder der lehrhaften Parabeln und Modelle. Im Gegensatz hierzu ist Tankred Dorst ein Anti-Raskolnikow, ein Ideenauflöser, Geschichtensammler und Daseinsbezeugender geworden, bettlägerig von Beginn an.

Und deshalb beschäftigte ihn Raskonikows Beil wie kaum einen anderen zeitgenössischen Dramatiker. Mehrfach taucht es auf in seinen Stücken und Reden. In den Notizen zu Wandas Geschichte erinnert er an ein merkwürdiges Tolstoi-Zitat: «Widerstehe nicht dem Bösen.»

Es ist, als ob sich Dorsts Dramatik dieses Böse ausfindig macht, aber ohne es erklären zu können. So beschäftigt ihn das blutige Hausmeisterbeil in seiner Max Frisch-Preisrede, in der Tankred Dorst in einem fiktiven Gespräch mit Max Frisch der Frage nachgeht, was sie beide an Graf Öderland so fasziniert – dem Helden des gleichnamigem Stückes von Frisch, in dem ein Staatsanwalt mit der Axt wahllos mordend seinen Weg in die Freiheit sucht. «Du kamst damals,» nach dem Krieg, so Tankred Dorst zu Max Frisch, «in das Land der Schuldigen, und sicher hat dich dabei auch die Frage beschäftigt, wo das Ungeheuerliche, dessen sich die Bewohner schuldig gemacht hatten, denn eigentlich niste. Die Frage nach dem Bösen also. (…) Mir scheint, das Öderländische im Menschen ist mit einer Dramaturgie, die der Aufklärung dienen will, nicht zu beschreiben. (…) Ich habe immer wieder versucht, damit zu Rande zu kommen, versuche es noch.» (Noch einmal Öderland, S. 78)

Das «unerklärt Böse» wird Dorst‘s «Lebensthema.» Dass es sich nicht restlos ins Gesellschaftliche oder Psychologische auflösen lässt, teilt dieses Phänomen mit jener anderen Kraft, die Menschen zu jenen großen Abenteuern aufbrechen lässt, die zur Entdeckung neuer Kontinente führen oder zu Revolutionen. Auch woher diese Kraft stammt, die über die Gier nach Macht oder Geld, über bloße Neugier oder Missionierungsabsichten hinausgeht, bleibt unerklärt. Ihr reinster Ausdruck sind vielleicht die Werke der Kunst. Und so zieht auch die Begegnung mit anderen Künstlern, berühmten Bildern und Kompositionen eine stete Spur durch das Werk des Dichters - als Kehrseite des Bösen, bisweilen, wie im Falle von D’Annunzio oder Knut Hamsun, mit ihm unlösbar verbunden.

Als der WDR dem Autor 1977 droht, ihm die Realisierung seines Films Klaras Mutter zu entziehen, beharrt er darauf, dass nur er in der Lage ist, «die Geschichte einer kleinen Stadt im Thüringer Wald» zu erzählen – «von bösen Leuten, die anderen Böses tun und denen man Böses antut, die Geschichte von falschen Erkenntnissen. Klaras Mutter war eine Erinnerung an dunkle Dörfer, an das arme böse Leben in diesen schmucklosen Häusern.» (Brief ans Fernsehen, S. 104)

Es ist Tankred Dorsts siebenter Sinn für das arme, böse Leben, wie es sich in schmucklosen Häusern verbirgt, der seinen Figuren und Geschichten eine Art regionaler Mitgift stiftet, auch wenn sie nicht unmittelbar im Thüringer Wald beheimatet sind. Nur von dort kommend, so scheint mir, konnte dieser sture, sensible und eigensinnige Autor dieses Aroma überall in der Welt aufnehmen, und sich derart für die schroffen, weltfremden Welterkenner erwärmen, seine kautzigen, alles auf den Kopf stellenden Mitmachverweigerer, die wie sein «Korbes» lieber zugrunde gehen an ihrem eigenen Jammer und Größenwahn, aber doch im Glanz ihrer querschädeligen Revolte.

Dieser Korbes ist vielleicht die größte Erfindung des Autors Dorst – ein negativer Merlin. Er kann nur aus Franken kommen. Er ist böse, jähzornig, blind und uneinsichtig, egozentrisch wie ein Kind, ein großer Schmerzensmann, einer, an dem die Welt zerbricht. Er tobt und versündigt sich gegen sein Dorf und seine Familie. Und doch wählt seine Tochter am Ende das Leben an seiner Seite. Sie «hat sich für das hässliche Leben entschieden. Sie bleibt bei ihrem Vater, böse wie er. Die Tünche ist weg. Sie ist im Hass auf den Vater, der sie gequält hat, zu sich selbst gekommen.» (Zur Entstehung von Korbes, S. 128)

Diese böse, durchgehend destruktive Figur ist in der deutschen Dramengeschichte für mich beispiellos. Selbst Schillers Kanaille Franz ist im Vergleich zu diesem Korbes nur ein recht herbeikonstruiertes Bösewichtwürstchen. Allenfalls bei Nestroy ließen sich ähnlich asoziale, archaische und anarchische Brüder und Schwestern von Dorsts Korbes finden. Und natürlich im Werk des Dichters selbst.

Als er an Merlin schrieb, hatte er die Idee, «ein Museum des Bösen einzurichten, in dem ich alles sammeln und dokumentieren wollte, was Menschen im Lauf der Jahrtausende an allen Orten der Welt einander Böses angetan haben; und dazu, vielleicht in anderes Museum, in dem die guten Taten gesammelt würden. (Das würde wohl kleiner ausfallen.) Aber da wäre nun doch zu fragen: gibt es «das Böse» überhaupt, und wie ist es, wenn ich mich nicht ideologisch einschränken will, zu erkennen, zu beschreiben?» (Zur Entstehung von Korbes, S. 122)

«In Geschichten.», könnte die Antwort lauten, wenn man das Werk von Tankred Dorst betrachtet. Seine erklärten Vorbilder sind epische Figuren- und Geschichtensammler wie Anton Tschechow, Gerhard Hauptmann oder Leopardi. Auch bei ihnen könnten Figuren wie Mordred aus Merlin oder Fernando Krapp erscheinen, aber Tankred Dorst geht bei der Verkörperung des Böse als sozialer Realität einen Schritt weiter: Es ist nicht das Grauenhafte oder Monströse, das ihn am Bösen fasziniert, sondern ein Moment von gesellschaftlicher Renitenz, das eigentümlicher Weise genau dadurch entsteht, dass diese Figuren die Gesellschaft als Gegenüber gar nicht erst annehmen – vielmehr leben sie in einer Art eigenen Kontinent mit einem altmodischen, schrulligen Trotz, und wirken dabei wahrhaftiger und vitaler als die aufgeklärten Verhältnissen.

Am deutlichsten gelang dies vielleicht in der Geschichte von Herrn Paul, jener Schreckensfigur aus Dorsts eigener Familiengeschichte, ein Mann, der «nicht arbeitet, sich nicht einlässt, keine Verantwortung für irgendetwas übernimmt, nichts tun will, wie ein Riesenbaby sozusagen ausscheidet aus den Kämpfen und Problemen der Welt und damit auch noch eine gewisse Philosophie verbindet. Aber es ist,» so Tankred Dorst, noch «ein tiefer sitzender Schreck,» der sich mit dieser Figur verbindet: «Der Mensch möchte, ganz allgemein gesprochen, nicht schuldig sein. Man möchte nicht schuldig sein. Man möchte eigentlich gar nicht geboren sein. Man möchte an den Schrecken der Welt nicht teilnehmen. Und vor allem nicht schuldig sein. Aber das geht nicht. Mit seiner Geburt fällt man in eine Schreckenswelt hinein und nimmt auch daran teil und hat seinen Teil an Schuld.» (Das Gewicht der Welt, S. 200)

Man möchte nicht an die Westfront geschickt werden. Nach vier Wochen Krieg und drei Jahren Gefangenschaft wie Tankred Dorst schließlich zum eigenen Onkel zurückkehren, der bloß vom Apfelschälen aufblickt und westfälisch-lakonisch sagt: Da bist du ja wieder.

Und das führt nun zu jenem zweiten Bettlägerigen der Literaturgeschichte, obwohl er eigentlich nicht einmal ein eigenes Bett hatte. Sein Lager befand sich hinter einem hohen, grünen Wandschirm in der Kanzlei eines Notars für Grundbesitzübertragungen an der New Yorker Wallstreet. Dieser Notar bemerkte irgendwann, dass der farblos ordentliche, Mitleid erregend anständige und rettungslos verlassene Kopist, den er ein paar Wochen zuvor angestellt hat, seine Kanzlei nicht nur während der Arbeitszeit lieber nicht verlassen möchte, sondern selbst dann nicht, als der Notar, vom passiven Widerstand dieses irgendwann seine Arbeit für immer einstellenden Angestellten enerviert, ihn entlässt.

I would prefer not to lautet die berühmt gewordene Formel des Kopisten Bartleby, mit der er sich, ohne weitere Erklärung, allen Aufforderungen entzieht. Durch den Kanzleiwechsel des Notars längst obdachlos geworden, entgegnete er auf die Angebote seines früheren Arbeitgebers, ihm eine Stelle als Verkäufer, Schankkellner, oder Gesellschafter zu verschaffen, lediglich: «Nein, ich möchte lieber keine Veränderung vornehmen, aber ich bin nicht wählerisch.»

Dies könnte auch die Formel Tankred Dorsts sein, der nach einem kurzen Versuch, sich im Wirtschaftswunder durch die Übernahme der familieneigenen Seifenfabrik nützlich zu machen, lieber mehr oder weniger kampflos die Segel strich, keinen Kredit aufnahm, sondern in seinem kalten Zimmer den Teppich übers Kinn zog, durchs offene Fenster die katholischen Glocken läuten hörte, mit sich haderte, und fortan lebenslang keine Bewerbung schrieb, nur seine Texte.

Und irgendwann erschien, «zuerst von oben gesehen, vom Fenster herunter, ein Dramaturg, er kommt herauf und sagt, mein Entwurf habe gefallen, ob ich Dialoge schreiben könne.» (Der Autor stellt sich vor, S. 52) So begann die lange Laufbahn des Dichters Dorst, der wusste, was er lieber nicht möchte.

Er wurde ein Mann des «Liebermögens», wie man einst Bartleby nannte, an dessen sanfter Verweigerung der Zwang der Verhältnisse zerbrach. Bartleby hatte Geld, hatte Geist und scheinbar alles, was er brauchte und entschied sich für das Verstummen und Sterben, so, wie ihm es selbst gefällt. Tankred Dorst jedoch kam aus der Gefangenschaft, dem Schweigen und Tod entronnen, und er nutzte sein «geschenktes» Leben, um stur zu bleiben und sich schreibend vom Albtraum der Geschichte zu befreien.

Mit seinem Stück Herr Paul setzte er Hermann Melvilles Bartleby, diesem stillen und unbesiegbaren Mitbewohner seiner kalten Kammer, ein Denkmal. «Ich bin ein freier Mensch, ich besitze nichts, man kann mir nichts nehmen!», sagt Herr Paul, als man ihn aus seiner Bleibe vertreiben will. Nachdem er in rasender Wut von einem Investor mit dem Beil, ja, einem Beil zerhackt und in seinen Einzelteilen aus dem Zimmer geworfen wurde, erscheint Herr Paul unversehrt wieder in der Wohnung, aus der er sich durch kein Versprechen herausbringen lässt: Hier haust er eher, als dass er wohnt, in paradiesischer Eintracht mit seiner Schwester – er ist nicht wählerisch, aber eine Veränderung möchte er lieber nicht. Dieser Herr Paul liebt die Idioten dieser Welt, alte Musik und junge Frauen. Und ganz entschieden nicht liebt er die Sauberkeit der Tüchtigen.

Wieder fällt mir nur Nestroy ein, der in einer Zeit des Aufschwungs und neuen Reichtums seine atavistisch fidelen Figuren den Aufstand proben ließ. Oder auch Tankred Dorsts Stück mit dem sprechenden Titel Wegen Reichtum geschlossen. An den Herren Paul und Korbes oder der Familie Sandler scheitert der Kapitalismus, weil er in ihren Seelen gar nicht erst ankommt. Es sind Figuren des Liebermögens, die an den Schrecken der Welt nicht teilnehmen und unschuldig bleiben möchten, wie große Kinder ihr Recht und Befinden über die Welt stellen und darin allesamt wie Künstler agieren.

Es verwundert daher nicht, dass viele Stücke von Tankred Dorst im engeren Sinne Künstlerdramen sind – über Ernst Toller, Heinrich Heine und Heinrich Vogeler, Knut Hamsun und Gabriele D’Annunzio, oder, als Skizze, ein Stück über Pietro Aretino, das er im Geiste Georg Büchners entwarf. «Auch Merlin ist übrigens so eine Art Künstler im Umgang mit der Welt.», sagt Tankred Dorst. «Sein Vater ist der Teufel, seine Mutter, wie es heißt, «eine fromme Frau». Halb Moralist, halb leichtsinniger, frecher Zauberer. «Ich bin ein Künstler,» ruft er, sich vom Albtraum der Geschichte befreiend, aus, «was geht es mich an!» (Heine, möglicherweise S. 170ff)

«Seit Toller,» sagt er, «seit 1968, war ich süchtig auf Menschen.» (Heine, möglicherweise, S. 170) Man könnte auch sagen: süchtig auf das, was kein Modell ist, sondern Einzelfall, keine Parabel, sondern als Geschichte ein Kosmos für sich, ein Kontinent an Erfahrungen, letztlich das, womit sich spielen lässt. Peter Zadek hat ihn ermuntert: «Schreibe mit deiner Person, lieber schlecht als dich hinter Stil versteckend.»

So wurden Dorsts zu Beginn von der Abstraktionen des Marionettentheaters geprägten Stücke im Laufe der Jahre komplexer und konnten sich dem Leben immer welttheaterhafter öffnen. «Wir leben in einer Katastrophenwelt.», sagt Tankred Dorst. «Was hilft da gutes Zureden?» (Zu Die Schattenlinie, S. 201)

Gegen die Schrecken der Welt setzt Tankred Dorst die Suche nach dem Gral, die viele dieser Schrecken überhaupt erst hervorbringt. Seine Figuren sind verirrte Ritter, und da ihnen gutes Zureden nicht hilft, da das Sein ihnen Angst macht, legt er ihnen sehr alte Heilkräfte ins Blut, lässt sie Visionen haben und einen uralten Zorn, gewährt ihnen Asyl in der wunderkräftigen Musikwelt von Henry Purcell, oder macht die Brockes-Passion zum tröstlichen Passepartout der Tragödie von Herrn Korbes. «Seinem Körper hätte ich Almosen geben können, aber sein Körper schmerzte ihn ja nicht;» sagte Herman Melville über Bartleby, denn «seine Seele war es, die litt, und seine Seele konnte ich nicht erreichen.» Tankred Dorsts Stücke versuchen dieses Almosen zu geben und bemühen sich um einen schwebenden Ausgleich zwischen Schrecken und Gral, aktueller Nähe und dem zeitlosen Gewicht der Welt.

Er lernte als Dichter vom Theater- und Lebenssinn Peter Zadeks, wuchs als Autor in der Begegnung mit Künstlern wie Robert Wilson und Wilfried Minks. Während der Arbeit am Fernsehfilm Sand lernte er 1971 Ursula Ehler kennen, mit der er gemeinsam schreibt und lebt. Sie ist nicht die Muse seiner Werke, sondern ihre Co-Autorin, und auch sie ist Fränkin, kennt den Zungenschlag und die verborgenen Herzenswinkel ihrer Leute, und natürlich ihres Mannes. Er ist ein Autor ohne Skandal – der schreibende Bruder Bartlebys. Ein Dichter, der den Bundesdeutschen nach dem Krieg half, zu ihrem eigenen, zeitgenössischen Theater zu finden, und ihnen poetische Beispiele für ein Nachdenken über das Böse stiftete, genauso wie über den heilsamen Gral, der das «Ich» mit der Welt versöhnt.

Von diesem «ich» handelt auch Elfriede Jelineks Geburtstagstext für Tankred Dorst Dieses störende Ding, das lebt. «Ich ist ein Name,» schreibt sie darin, «aber eben kein harmloser. Hinter diesem Namen steht der ganze Schrecken dessen, was ich ermögliche und das Ich ermöglichen kann.» Und bei seinem Nachdenken über das «unerklärbar Böse» stellte sich Tankred Dorst ein paar Jahre zuvor in seiner Züricher Dankesrede die Frage: «Wer okkupiert mich? Mit welchem Recht?», und schon war er wieder mittendrin in einer Geschichte, denn anders lässt sich für ihn die Welt nicht fassen: «Der Kranke ist nun wirklich ängstlich, dass der andere in ihm mehr und mehr Raum einnimmt, sein eigener Körper ist offenbar für den anderen wie ein Anzug, eng, schon am Zerreißen. Und ich? Ich? Ich? schreit er, entschuldigt sich aber zugleich für den Ausbruch und es stürzen Tränen aus seinen Augen. (…) In dieser Nacht, in dieser Finsternis muss wohl der andere erschienen sein: Wie Schweiß aus den Poren ist er aus dem Körper des Kranken herausgetreten und sitzt nun ihm gegenüber auf einem Stuhl: ein plumper, nackter Körper, so bedrohlich groß, dass der Erwachende aufspringt und zur Tür rennt.»  (Noch einmal Öderland, S. 80f)

Dieser Kranke ist sicher auch ein Bild dafür, wie die Figuren aus dem Leib und Geist des Autors geboren werden – bis sie ihm schließlich gegenüberstehen, wie die Schrecken des Krieges und des Fremdseins in der Welt, von denen sich der Autor mit jeder seiner Schöpfungen ein Stück frei macht, in dem er sich ihnen in seinen Stücken annähern kann. Und so, wie sie dann vor ihm stehen, aus seinen Poren und Fieberträumen hervorgeschwitzt, kann er sich umdrehen und ins Freie gehen, während er ruft: «Was solls! Ich bin ein Künstler!»

 

Laudatio von Thomas Oberender anläßlich der Verleihung des Schiller Gedächtnispreises, Stuttgart 2010