«Kunst als Transfer von Zeit in Stoff»
Über schnelle und langsame Medien und Genres
von Thomas Oberender
Vielleicht verweist die Frage nach dem essentiell «Künstlerischen» am Kunstwerk auf sein besonderes Verhältnis zum Phänomen der Zeit. Ein Blick in die Geschichte der bildenden Kunst zeigt, dass über Jahrhunderte hinweg die Herstellung von Gemälden und Skulpturen ein äußerst aufwendiges und mühsames Verfahren war. Dies führte zu einem in mehrfacher Hinsicht komplizierten Verhältnis des Kunstwerks zur Aktualität seines Gegenstandes. Zum einen ist die augenblicksnahe und unmittelbare Wirkung seiner Darstellung nie das direkte, objektive Abbild dieses gezeigten Augenblicks, denn die Umstände der Bilderzeugung sind dafür viel zu «langsam» – die anfänglichen Skizzen, Vorstudien und schließlich langwierige Ausführung eines Gemäldes sind Teil langwierigen Prozedur. Ihr entgegen steht die Spontaneität und Bewegtheit des dargestellten Augenblicks, der somit der Ausdruck einer malerischen Paradoxie ist, denn das im Bild festgehaltene Moment verhält sich zur Methodik und Technologie der Darstellung genau entgegengesetzt. Der amerikanische Künstler Mark Tansey illustrierte diese Paradoxie eindringlich, wenn er einen Maler vor seiner Staffelei in Sichtweite eines Weltraumflughafens zeigt, der den Augenblick des Starts einer Rakete auf der Leinwand festhält. Es ist ein ironischer Triumph der Malerei, deren Werke in der Regel das Spannungsverhältnis zwischen der zeitintensiven, sukzessiven Realität des Verfahrens in der ganzheitlichen und momenthaften Anmutung seines Ergebnisses vergessen macht. Es ist vor allem diese spezifische, man könnte sagen: herstellungsbedingte Langsamkeit, die vielen Gemälden schließlich ihre Klassizität, ihre komponierte Anmut und auratische Gegenwart verleiht. Sie verdankt sich dem mühsamen, reflektierten und zugleich riskanten Vorgang, eine weiße Fläche durch den Auftrag von Farbe Punkt für Punkt in ein Bild zu verwandeln, das am Ende ein Ganzes erzeugt – es zeigt die Welt und schafft zugleich eine eigene Welt, eine Welt neben der Welt, deren Gültigkeit durch Jahrhunderte hindurch bestehen bleibt.
Aufgrund dieser spezifischen Langsamkeit des der so aufwendigen Herstellung von Gemälden war es zudem notwendig, dass sie eine übergeordnete Aktualität bezeugen sollten, damit das entstehende Werk nicht vom neuesten Geschehen sofort wieder entwertet wird. So entstand ein besonderes Verhältnis zu den Stoffen, die dargestellt wurden, denn der Bildgegenstand sollte von bleibender Bedeutung und auf diese Weise die lange Dauer ihrer Herstellung mit der Dauer ihrer Wirkung verbunden werden. Erstaunlich ist, dass die Zahl und Variation der Bildmotive daher über Jahrhunderte hinweg überschaubar blieb. Zur Haltbarkeit der Gemälde trug neben der handwerklichen Qualität des Prozesses und der intellektuellen Reflexion des Gegenstands vor allem die besondere Quelle der Motive bei. Sie entstammten vornehmlich den Mythen, der biblischen Überlieferung und antiken Literatur und Geschichtsschreibung – sie waren von klassischer Gültigkeit und ein allgemeines Bildungsgut, das gleichsam neben und über dem Wissen der eigenen Zeit stand. Die Individualität des Malers zeigte sich weniger in der Wahl der aus diesen Quellen stammenden Motive, als in deren stilistischer und intellektueller Interpretation.
Dies sicherte den Bildern, zumindest vom Gegenstand her, eine langfristigere Haltbarkeit, da diese Motive von vorneherein eine Art Beständigkeitsgarantie gewährleisteten und dem Künstler auf durch die Dignität seiner Gegenstände einen gewissen Schutz für die Wahl seiner Mittel gaben. «Aktuell» waren in diesem Sinne die Deutungen des Motivs und die Manier seiner Durchführung. Und zur historischen «Aktualität» zählte auch der Anlass, der zum Bildauftrag und der damit verbundenen Rückspiegelung des Geschehens in die Geschichte seiner Vorbilder oder Inbilder führte. Dass die alten Quellen für diese doch stets auch zeitgenössischen Arbeiten so unverzichtbar waren, hat sicher nicht nur mit ihrer Dignität zu tun. Schließlich adelten sich die Auftraggeber der Kunstwerke auch selbst, indem sie Bildwerke in Auftrag gaben, die somit ihr Leben in einen Zusammenhang brachten mit den noblen Ursprüngen und Bezügen, die sie dergestalt für sich in Anspruch nahmen. Für den Künstler allerdings war die Sprache dieser Überlieferung immer auch eine, die weniger log als die Sprache der Gegenwart, die einem Raum der beständigen Gewissheit entstammte, der, ganz gleich ob er sich auf mythische oder biblische oder legendäre Geschichte berief, ein anderes Wissen und Reglement zum Ausdruck bringt, als jenes, das die Gegenwart ihrer Zeit bestimmt. Somit waren diese Quellen auch Quellen besseren Wissens, ein Freiraum, der Distanz ermöglichte, hermetisch blieb und in gewisser Weise weniger log, zumindest war das die kulturelle Übereinkunft über viele Epochen der Menschheitsgeschichte hinweg. Sie vertraute in dieser Hinsicht den Zeugnissen der Vergangenheit, und sei sie auch eine durch Mythen und Legenden moderierte und überlieferte Vorgeschichte, mehr als ihrer Gegenwart.
Gemälde in Auftrag zu geben, ist das Privileg Weniger und in der Regel sind es die Mächtigen, die sich durch die Mittel der Kunst ein Denkmal setzen wollen, das der Zeit widersteht. Insofern ist die Geschichte der Malerei eine Geschichte ihrer Auftraggeber und ihres Verhältnisses und ihrer Auffassung vom Phänomen Zeit. Zeit und Raum sind in der Erfahrung des Menschen Dimensionen absoluter Herrschaft. Den Raum hat der Mensch zu überwinden gelernt. Die Zeit nicht. Sie überwindet ihn – außer in den Werken der Kunst. Weshalb die Mächtigen, gleich ob Könige, Päpste oder Vermögende, zu ihr stets ein besonderes Verhältnis hatten. Die Zeitmessung zu beherrschen, machte es den Seefahrern möglich, den Raum zu beherrschen. Und so ist es aufschlussreich, mit welchem Verständnis die Mächtigen das Phänomen der Zeit betrachten. Ihr Vergehen wurde von Anbeginn durch die Vergegenwärtigung eines unvergänglichen Ursprungs oder Musters gemildert: Gegenwart bedeutete in diesem Sinne lange Zeit vor allem zunächst nur Vergegenwärtigung. Die außerzeitliche Herrlichkeit eines Königs zeigte sich z.B. in der Kontinuität und Präsenz seines mythischen Urbildes, das er in seinem Verhalten und seinen Bildnissen vergegenwärtigte. Diese Form von Gegenwart ist das genaue Gegenteil von Aktualität. Sie allein würde nicht reichen. Sie könnte ihr eigenes Vorhandensein nicht begründen. Aber auch sie kann, wenn die Geschichte der Mythen und Legenden unverbindlich wird, zum Ausdruck einer überzeitlichen Präsenz werden, denn wer den ephemeren Augenblick selbst zu bannen versteht, entreißt ihn auf vergleichbare Weise dem Fluss der Zeit.
Vielleicht ist dieser Versuch typisch für die Moderne – er zeigt den bildenden Künstler nun endlich auch als Autor seiner Motive und sein emphatisches Verhältnis zum Augenblick der Jetztzeit ist der Ausdruck seiner Macht: Sie setzt sein Konzept von Macht durch und dieser Macht bedienen sich die Mächtigen, die in der Regel nur Geld und Gesetze produzieren, nie aber Sinn, Schönheit oder einen Begriff von Wahrheit. Der moderne Künstler macht also sich zur Quelle, die selbstbewusst mit ihren verborgenen Zuflüssen spielt, und daher inszeniert sein Werk den Augenblick ihrer eigenen Erscheinung. Er provoziert den Augenblick, den er wiedergibt und zugleich durchdringt er ihn mit seinem, die Welt ordnenden, Konzept. Es ist ein anderer Ausdruck für «Legende», für «Mythos» oder «Lehre». Die Beständigkeit dieses Konzepts wird zur Garantie für die Beständigkeit der Schönheit. Insofern kauft die Macht im Werk des Künstlers noch immer seine Gabe, der Schöpfer einer Sprache zu sein, die nicht lügt, weil sie eine Sprache neben der Sprache spricht, in der gelogen wird.
Dass ein emphatisches Verhältnis zur Aktualität zu relevanter Kunst führen könnte, galt über weite Strecken der Geschichte als sehr unwahrscheinlich. Die eigentliche Kunst der Künstler sah man in ihrem Vermögen, die Gegenwart zu transzendieren, indem sie in ihren Werken eine Form von Ursprung reinszenierten, dessen Quellen in gewisser Weise heilig waren. Diese Quellen säkularisierten sich genauso wie die Gesellschaft, bzw. wechselten die Gestalt ihrer Religion bis in ihre Unbemerkbarkeit. Aus ihrer Religion wurde, wie Walter Benjamin es beschrieb, eine Kultreligion und daher kann der zeitgenössische Kunstmarkt auch als solche betrachtet werden. In ihrem Zentrum steht plötzlich der moderne Künstler. Aus dieser Perspektive wird deutlich, wie anfechtbar plötzlich das Moment der «Kunst» im Künstlerischen wurde, als sich dieses alte Bemühen, der Welt ein beständiges, eine andere «Gegenwart» – sei es die Präsenz des Numinosen oder eines mythologischen Ursprungs bezeugendes Bild von sich zu geben – nun plötzlich der Idee der «Aktualität» im heutigen Sinne öffnete, und damit der totalen Autorenschaft des Zeitgenossen.
Wenn man die Fotografie von Yves Kleins «Anthropometrie»-Performance von 1960 betrachtet, erscheint dieses Dokument, das einen Augenblick emphatischer Augenblickskunst zeigt, frappierend historisch. Es zeigt zwei nackte Damen, die im Zusammenhang der Performance als «Körperpersonal» fungieren und im Hintergrund ein Kammerorchester neben den seitlichen Sitzreihen der in noble Abendrobe gekleideten Besucher. Die beiden nackten Frauen stehen auf einer am Boden ausgebreiteten Leinwand, auf der sie ein Bild erzeugen, indem sie ihre mit Farbe übergossenen Leiber zur Musik wenig später auf den Stoff pressen. Malerei ist hier kein langwieriger, abgeschiedener Prozess, sondern das Stempelbild eines Zustands, der sich vor den Augen der Zuschauer in ein Bild verwandelt – der Prozess selbst ist Teil des Werks, die Veröffentlichung und Echtzeit des Vorgangs sein Clou. Die adrett gekleideten Orchestermusiker, die höflich aufmerksamen Vernissagebesucher und auch die Toupetfrisuren der Performerinnen – all diese von Hingebung geprägten Details dokumentieren einen sozialen Rahmen, der das Konzept, dem dieser herbeigeführte Augenblick sich verdankt, würdigt und dem Geschehen den Charakter von «Kunst» bestätigt.
Mit dem Abstand der Jahre betrachtet, wirkt diese Perfomance heute vergleichsweise zahm und bürgernah, die blaue Frottage, die an ihrem Ende entstand, hängt inzwischen in einem der großen Museen dieser Welt und ihr Betrachter kann sich die Musik, die bei ihrer Entstehung erklang, vielleicht noch imaginieren. «Klassisch» an diesen Frottage-Bildern von Yves Klein, insbesondere wenn man ihre Entstehungszusammenhänge betrachtet, ist ihr Sprung aus der Zeit. Sie repräsentieren einen Sprung aus der Langsamkeit ihre Gattung in die Plötzlichkeit ihres sich wandelnden Verfahrens. Die Veröffentlichung des Herstellungsprozesses bietet sich selbst als Kunstwerk dar und tritt an die Stelle des Objekts, oder zumindest gleichberechtigt an seine Seite. Das Objekt des Gemäldes begreift sich vor allem als Dokument dieses Prozesses und des ihm zugrunde liegenden künstlerischen und weltanschaulichen Konzepts. Es ist das Konzept eines herbeigeführten Augenblicks, der auf die subjektive Sprache des Künstlers und der in ihr erfassten oder fokussierten Wirklichkeit beharrt. Die Weihen der Legenden, Mythen, Historien und biblischen Bücher bemüht diese Sprache nicht mehr, um sich Haltbarkeit zu verschaffen – vielmehr ist es der konzeptionell provozierte Augenblick eines realen Jetzt, der als Dokument seiner temporären Autonomie plötzlich Dauer beansprucht.
Jackson Pollocks Gemälde bannen einen rapiden Prozess, der im Bild zum Zustand wird – zur Schrift der unmittelbaren Zeit, in diesem Sinne stehen sie der Idee der «Zeitschrift» nahe, der Chronik eines Verlaufs von Zeit in bildnerischen Formen, die sich durch nichts absichern als den Mut, ihre Schönheit, Wahrheit und formale Schlüssigkeit als Spiegelung dieses Moments ihrer Hervorbringung zu leisten, der zur Emanation der Lebenswahrheit des Künstlers wird – seiner Haltung zur Kunst, ihrer Geschichte und den Zumutungen einer Welt, auf die er mit der Geste des Malers antwortet. Er will den Betrachter in den Augenblick der solcherart aufgeladenen Bildentstehung binden und in ihn eintreten lassen, da in diesem Augenblick der Rezeption ein Kurzschluss zwischen dem Modus des Daseins, wie es der Künstler erlebt, und dem Betrachter entsteht. Die großen «Subjektivierer» in der Geschichte der bildenden Kunst waren nicht nur die Erfinder prägender Stile und Technologien, sich diesem emphatischen Augenblick zu nähern, sondern zunächst und vor allem, ob Impressionisten oder Abstrakte, Erfinder neuer Motive und das im doppelten Sinne des Wortes: Was nie «bildwürdig» wurde, war es plötzlich, und das aus Gründen, die bislang keine waren. Diese Revolution in der Geschichte der bildenden Kunst ist eng verbunden mit der Geschichte der Revolutionen innerhalb der technischen Möglichkeiten, sich ein Bild von der Welt zu machen.
Je «schneller» die technischen Bildgebungsverfahren neben der Malerei wurden, desto reflektierter und konzeptioneller wurde auch der Versuch der Malerei, entweder bewusst als ein «langsames» Medium zu arbeiten, oder eben «schnell» zu werden – die eigene Aktualität impressionistisch, futuristisch, dadaistisch, abstakt, rein oder wild in der Auslotung und Neudefinierung der Möglichkeiten des traditionellen Mediums selbst zu überprüfen. Daher ist es wichtig, diesen Kontext, der die Malerei zwang, sich mit der Eigenart ihres Metiers zu beschäftigen, näher zu betrachten und er offenbart, das die großen Neuerungen im Bereich der beschleunigten Bilderzeugung, die sich jenseits der Malerei ereigneten, zunächst immer die Erfindung von Technologien betrifft, die anfänglich nicht als «Kunst» betrachtet wurden, gleichwohl aber in den Leistungsbereich klassischen Malerei einfielen, sie darin überboten und bewirkten, dass sich die bildende Kunst, wo sie sich, derart gezwungen, für neue Wege entschied, nun selbst in den Verdacht geriet, nicht mehr «Kunst» zu sein, sondern subjektiver Spleen, bzw. haltlose Mode.
Goyas grafische Moralreportagen können für diese neue Autorenschaft des bildenden Künstlers ein Ausgangspunkt sein. Er korreliert mit vom Bedürfnis nach Information und Aktualität geprägten Bildinteresse, von dem der Kunsthistoriker Michael Diers sagt, dass ihm erstmals kein Kunstinteresse zugrunde lag, sondern die für das beginnenden Medienzeitalter typische Neugier, an den Erschütterungen der Gegenwart unmittelbar Teil zu haben. Die in dieser Zeit entstandenen, vergleichsweise «schnellen» Verfahren der Lithografie und wenig später auch der Fotografie schufen eine parallele Welt der Bilder, die als «seismographische Bildwelt» der illustrierten Nationalkalender oder Almanach-Mode zunächst nicht als «Kunst» betrachtete wurden. Die Strömungen der klassischen Avantgarden sind Reaktionen auf diese Veränderungen – durch sie werden Bildgegenstände kunstwürdig, die vorher im Bereich der bloßen Neugier, des Sensationellen oder Manie lagen. Sie beschleunigten die Verfahren der bildenden Kunst und konzeptionalisierten sie – Duchamps Erfindung des ready made ist ihr radikalster Wendepunkt, Jackson Pollocks Actionpainting, Warhols Kultbilder des Kapitalismus als Religion oder Beuys Idee vom sozialen Kunstwerk sind andere: In ihrem Zentrum stand der Künstler als Ursprungsheros. Sein emphatisches Verhältnis zum Jetzt stellte neue Ansprüche an das Maß der nun privat verantworteten Eingebung und Intelligenz seines Schaffens, das er nur als überzeugender Autor seiner Motive legitimieren konnte. Der Stil kommt seither hinzu. Ob es Kunst ist? Immer stand der Verdacht des Dilettantismus im Raum, der Verdacht des Wahns, wo sich die Sprache der Kunst so vehement subjektiv gestaltete und die Künstler das stellvertretende Abenteuer übernahmen, ihrer Zeit die großen Erzählungen in einem umfassenden Sinne als Autoren zu stiften. Die Sprache, die sie dafür erfanden und erfinden, will gelernt werden wie eine Fremdsprache. Ihr Wörterbuch ist nur mehr das Werk des Autors und der aus ihm sprechenden Quellen. Nichts wirkt so schnell historisch, wie die Avantgarden von gestern. Das Gesetz der schöpferischen Zerstörung ist das des Kunstbetriebs – er erinnert sich im Grunde nur noch an sich selbst, die Augenblicke zuvor bilden die Kette der Referenzen, nicht mehr die Autorität der außer ihr liegenden Quellen.
Das Theater erscheint, wenn man es als hochkulturelles Phänomen betrachtet, zunächst von seinem griechischen Beginn an als ein langsames Medium, das bis heute auf der Interpretation literarischer Texte beruht. Ein Stück zu schreiben ist eine langwierige, relativ abgeschiedene Angelegenheit, selbst wenn das eigentliche Entstehen des Textes mitunter recht rasch geschehen kann. Jedes Stück ist der Entwurf eines überschaubaren, gegliederten Geschehens, der unserer diffusen Erfahrung von Welt eine Ordnung abringt. Selbst das noch so schnell verfasste Familienstück eines jungen Autors enthält doch seine Idee von dem, was «Familie» in einem übergeordneten Sinne für ihn, in seiner Zeit, bedeutet oder sich in ihr als Gesellschaftsbild offenbart. Insofern inkludiert und überliefert es Erkenntnisprozesse, die, bewusst oder unbewusst, meist über längere Zeit gewonnen wurden und die Übersetzung in einen bestimmten Stoff und eine artifizielle Form, die, im Akt der Aufführung, diese Erkenntnis zumindest teilweise wieder zur Sprache bringen. Und das geschieht, indem sie in der Regel eine andere Form von Sprache sprechen – von der dramaturgischen Struktur des Werkes bis zur gestalteten oder gebundenen Form der Sprache selbst.
Die meisten griechischen Stücke waren Familienstücke, deren Vorlage aus dem Fundus der Mythen und Legenden stammt. Sie sind in einer Struktur verfasst, deren überaus artifizielle Aufführungspraxis zwischen Gesang und vielgestaltigster Rede uns heute kaum noch rekonstruierbar ist. Die «Entfaltung» dieses eingeschriebenen Wissens erforderte bereits damals eine intensive Zeit der Einstudierung, des Erwerbs von technischem und künstlerischem Know-how, und gleiches gilt für die moderne Aufführungspraxis von Stücken. Wie in der Malerei knüpften sich die Gegenstände und Motive, von denen sie berichten, in der Antike und in den klassisch gewordenen Epochen der Theatergeschichte stets an die Quellen einer Überlieferung, die sich als haltbar erwiesen haben. Lange Zeit waren es allein die überzeitlichen Gestalten der Götter und Heroen, die als bühnenwürdig betrachtet wurden. Die «Ständeklausel» besetzte das Repertoire des gespielten Herrschaftswissens mit der Aristokratie, das der Ohnmächtigen und ihres komischen Kampfs mit dem Schicksal mit den niederen Ständen. Ihre niedere Wirklichkeit erschien nicht kunstwürdig und war Gegenstand des straffreien Amüsements.
So entstand im Theater eine höchst interessante Koexistenz zwischen hoher und niederer Kunst: Keine Kunst waren in der Antike die Satyrspiele, die zwischen den Tragödien aufgeführt wurden. Von ihnen sind nur Fragmente überliefert – Szenen derber Unmittelbarkeit eines komischen Typentheaters, über das gelacht, aber nicht offiziell nachgedacht werden sollte. Sie dienten auf andere Weise der Entlastung vom Schicksal. Diese inoffizielle Tradition des populären Theaters war immer auf die Aktualität bezogen, auf die Lebensunmittelbarkeit, die Schicht der Ohnmächtigen, derer, die das Schicksal ertrugen und verstanden, und nur im Lachen bewältigen konnten. Die Commedia del’ Arte war ein Theater der Typen und Improvisation, genauso das Jahrmarktstheater oder Wiener Volkstheater zwischen Joseph Alois Gleich, Raimund und Nestroy. Es produzierte im Vergleich zur klassischen Dramatik «schnell», und bezeichnender Weise war es die Aufgabe der Nestroy-Schauspieler, ihre Couplets tagesaktuell zu gestalten und gerade daran wurde die Qualität ihrer Kunst gemessen: Autor zu sein, ohne Texte zur Verfügung zu haben oder zu hinterlassen. Den gesellschaftlichen Eliten galt dies nie als «Kunst», eben weil diese Kunstformen auch einen Angriff auf das Herrschaftswissen ihrer Zeit darstellten – die Verlachung der Autoritäten, die Leugnung der Ursprünge und Gesetze.
Nestroy persiflierte die hohen Stoffe und ihr Erziehungsgebot. Paradox ist, dass wir heute staunend vor der Ahnengeschichte der Typen des populären Theaters stehen, seinen komischen Skeptizismus und die technische Virtuosität bewundern und dabei begreifen, wie viel Kunst diese «Nichtkunst» repräsentiert, welche Stammbäume des Metiers und der freien Geistesgegenwart hier überlebten und die aktuelle Gegenwart mithilfe sehr alter Muster konzeptionalisieren konnten und so der Autorenschaft des Künstlers freien Raum gaben für seine Deutung und eine autonome Sprache. In diesem Sinne sind die Erscheinungsformen des populären Theaters viel «traditioneller» als jene der Hochkultur, die immer Schöpfungen der Mächtigen oder sich Ermächtigenden waren. Die Erfindung aller klassischen Theaterformen, waren der emphatischen, improvisationsoffenen Aktualität des populären Theaters entgegen gesetzte Erfindungen der Langsamkeit: Sie sind geprägt von der Rückspiegelung der aktuellen Motive an mythologische, biblische oder historische Quellen, deren Autorität zunächst anerkannter Maßen über dem Wissen der eigenen Zeit stand.
Von der klassischen Antike über das gegenreformatorische Theater Spaniens, der französischen und Weimarer Klassik bis zur Klassik Brechts und Heiner Müllers handelt es sich stets um Erfindungen des Artifiziellen, die dem populären Reim den Vers, der Aktualität die Gegenwart im Rückspiegel der Geschichte entgegen setzen und uns nötigen, diese Fremdsprache einer umwegigen Betrachtung zu lernen, einer alltagsfernen Diktion und Begegnung mit dem Heroischen. Dies erzeugt Pathos – das künstlerische Überredungsmittel, das Leiden oder Erdulden des Schicksals als Teil unseres Lebens zu ertragen. Die Populärkultur des Theaters war in diesem Sinne immer antipathetisch, vital und an der Überlebensfähigkeit des Menschen in der Begegnung mit dem Schicksal interessiert. Die Kunstfertigkeit, die sich im populären Theater bewies, war daher stets mit seiner aktuellen Geschicklichkeit verbunden. Sie war angewiesen auf eine spontane Intelligenz, der ein altes Wissen und Vermögen beiseite stand, dafür die schlüssigen Muster parat zu haben. Sie ist Konstruktion eines Herrschaftswissens, wie es jede Klassik betreibt, entgegen gesetzt, denn, wie Joseph Brodsky schreibt: «In der echten Tragödie stirbt nicht der Held, sondern der Chor.»
Es ist nicht ungewöhnlich, einer Kunstform, die sich, ob in der bildenden oder darstellenden Kunst, auf emphatische Weise den Einströmungen der unmittelbaren Aktualität öffnet, ihren Kunstcharakter zu bestreiten. Ihr «Kunststoff» aber resultiert aus unterschiedlichen Verfahren, das eigene Verhältnis zur Zeit in Stoff zu verwandeln. Ihm stehen dabei auf je eigene Weise überlieferte Quellen des Wissens und der Zeigetechniken zur Seite, an denen sich der Künstler bewährt. Im Happening und der Performance verschwimmen die Grenzen zwischen darstellender und bildender Kunst – der Augenblick kennt nur Experten des Augenblicks, die an ihrem intellektuellen und ästhetischen Rüstzeug für diese Begegnung gemessen werden. Augenblickskünste versprechen und scheuen sich nicht, populär zu sein. Weniger artifiziell sind sie nicht, im Gegenteil. Das Abenteuer der Weltbeschreibung verantworten sie subjektiv, ohne rückspiegelnde Absicherung, und auch dies bringt «Klassiker» hervor, wie Nestroy, Marina Abramović oder Beckett. Ich erinnere mich an einen alten Verleger, der mit als Student gestand, dass es ihm noch heute Schweißperlen auf die Stirn treibt, wenn er sich vorstellt, dass ihm als erstem Becketts Manuskript von «Warten auf Godot»angeboten worden wäre, denn er hätte es sicher abgelehnt, weil es kein «Stück» sei.
John Berger hat in einem Essay über den Maler Jean-Michel Basquiat geschrieben, dass die verborgenen Wahrheiten der Kunst nicht mit Hilfe einer Sprache beschrieben werden können, die «gleichzeitig der Verbreitung von Lügen dient.» Wie Susan Sontag bedrückt und beschäftigt ihn das Geschäft der Interpretation, das die Kunst kommod macht und ihrer eigentlichen Kraft beraubt: eine Sprache neben der Sprache zu sprechen. Ohn Berger rückt den amerikanischen Maler in die Nachfolge von Künstlern und Aktivisten wie James Baldwin und Angela Davis, die als Schwarze teilweise gegen dieselben Lügen ankämpften, aber die Not hatten, ihre Sprache zu teilen. Basquiat schuf sich ein «eigenes Alphabet» und Berger vergleicht seine Andersartigkeit mit jener Form der Information und Orientierung in der Welt, die Blindgeborene entwickeln – ihre Wahrnehmung ergeben eine «Sprache» und vieles, was für uns «vorhanden» ist, bleibt ihnen unbeschreibbar – schlicht, weil sie es nicht sehen. Dieses für sie Unsichtbare ist für Berger nur eine Metapher für die Unsichtbarkeit dessen, was uns Sehende umgibt und zu dem die Kunst Basquiats eine Verbindung herstellt, indem sie ein eigenes Zeichensystem erschafft und im wahrsten Sinne eine Sprache schafft, die «neben» unserer Sprache existiert, nicht ihren semantischen Codes unterliegt, keine mimetische Verdoppelung von Welt vornimmt, sondern auf sie mit einem eigenen «extensiven Alphabet», wie Berger es nennt, reagiert – als eine ästhetische Form der Illegalität, die sich dem offiziellen Diskurs entzieht, Ereignisse schafft, als Bild den Dingen neue Namen gibt und Freiheit demonstriert, bzw., wie Berger dies nennt, zu ihr geradezu aufstachelt.
«Wenn die Kunst den Künstler – in erster Linie – überhaupt etwas lehrt,» so Joseph Brodsky, «dann ist es die Privatheit der menschlichen Existenz.» Ob sich die Kunst dafür «schneller» oder «langsamer» Verfahren bedient, ist gleichgültig, da sie, und das verwandelt ihren Stoff vielleicht im eigentlichen Sinne zur Kunst, nach einer Sprache sucht, die nicht jene Sprache ist, in der man lügt. Am Gelingen dieses Abenteuers muss sie sich messen. Die Literatur, und man kann sie hier durchaus als ein Synonym für die Sprache der Kunst betrachten, ist für Joseph Brodsky daher ein Wörterbuch, «ein Sinnkompendium für dieses oder jenes Los, diese oder jene Erfahrung, ein Wörterbuch der Sprache, in der das Leben zum Menschen spricht. Seine Funktion ist, den nächsten Menschen, einen Neuankömmling, davor zu bewahren, in die alte Falle zu tappen, oder, sollte er doch in die Falle geraten sein, ihm zu erkennen helfen, dass er von einer Tautologie getroffen wurde. Auf diese Weise wird er weniger beeindruckt sein – und auf gewisse Art freier.» (Der Zustand, den wir Exil nennen, oder: Leinen Los) Vielleicht haben wir uns sehr auf die marktbestimmenden Vokabeln des «Authentischen», des «Lebens» und der «Gegenwart» kapriziert, um uns daran zu erinnern, dass die Kunst grundsätzlich lügen muss, um die Wahrheit zu sagen. Alles, was sie zeigt, ist gemacht, auch wenn sie uns das durch die Aura des Gelingens vergessen macht. Ohne rebellisches Konzept, ohne Bezug zu einer Idee des Wahren, Guten oder Schönen bleibt sie privater Hokuspokus, Rausch, Wahn oder Extase einer Chimäre von «Leben», die niemals Kunst werden.