«Idol bleiben»
Christina Paulhofer, das Authentische, Pop und Kino.
von Thomas Oberender
«Das Drama der Liebe ist,» so sagte Botho Strauß über das Werk von Hjalmar Söderberg, «dass die Liebe kein Drama mehr ist.» Man könnte diesen Satz auf das Werk der Regisseurin Christina Paulhofer übertragen und würde mit ihm sehr gut jenes Moment erfassen, dem die meisten Inszenierungen dieser Regisseurin ihre entscheidende Energie verdanken. Zudem hätte die Übertragung dieses Zitats eine weitere Berechtigung dadurch, dass Christina Paulhofer ihre Magisterarbeit an der Universität München über «Die Liebeskonzeption im Werk von Botho Strauß» schrieb und somit für ihr akademisches Studium einen Autor wählte, der in den letzten dreißig Jahren der aufmerksamste Chronist der alltäglichen Verwandlung von Liebestragödien in Beziehungsdramen war. Dieses Drama, von dem Strauß mit vertracktem Hintersinn spricht, versucht Christina Paulhofer auf der Bühne allerdings mit jeder Aufführung zu widerlegen, und zwar auf eine inszenatorische Weise, die um das volle Spektrum der menschlichen Leidens- und Glückserfahrungen kämpft.
Im Münchner Filmmuseum sah die Germanistikstudentin während ihrer Studientage das komplette Werk von Regisseuren wie Michelangelo Antonioni, Jean Luc Godard und Rainer Werner Fassbinder, und noch viele Jahre später verbringt sie die Tage zwischen ihren Inszenierungen in Programmkinos, wo sie drei, vier Filme hintereinander sieht. Einen anderen Blick auf das Medium Film eröffneten der Studentin später die kunstgeschichtlichen Seminare von Professor Dr. Crone, in denen der Kunstwissenschaftler Filmstils wie klassische Gemälde analysierte, die Studenten mit moderner Kunst konfrontierte und sie mit Künstlern wie Bruce Naumann oder Andy Warhol bekannt machte. Christina Paulhofer entwickelte so einen anderen, aufmerksameren Blick auf «triviale» Medien und die populäre Kunst und hatte sich nach bestandener Prüfung zu einer Promotion über den Vergleich der Bilder aus den Filmen von Antonioni mit Gemälden von Giorgio de Chirico. Für die Künstlerin blieb diese Beschäftigung von nachhaltiger Wirkung: Antonioni, Godard, Fassbinder – dies waren Paulhofers Kinohelden, sie kannte deren Oeuvre auswendig und im Werk jedes dieser Künstler gab es etwas, das sie schließlich selber hinüberzog in die Welt des Films. So arbeitete Antonioni, bevor er Regisseur wurde, als Architekt und entwarf daher strenge, geometrisch strukturierte Filmbilder, die man wie Gemälde «lesen» konnte. Neben dieser formalen Qualität fühlte sich Christina Paulhofer aber vor allem von der Wahl seiner Filmstoffe angesprochen, d.h. von seinen Geschichten um Liebe und Frauen, die an der Unerfüllbarkeit ihrer Liebesvorstellung verzweifeln. Obgleich dies nicht die naheliegendste Verbindung zu einem Regisseur wie Godard zu sein scheint, sind es doch die Frauen, die attraktiven, sinnlichen Frauen, die Godard «als Regisseur mit den schönsten Frauen der Filmgeschichte» – so Christina Paulhofer – mit Antonioni, aber auch mit Fassbinder verbindet. Während sie bei Godard die Mischung aus großer Intellektualität und Sinnlichkeit beeindruckte, faszinierte sie an Fassbinder dessen Liebe zum Melodram, seine Frauengestalten, die von eigentümlicher Schönheit sind, zäh und von riesiger Kraft, und nicht zuletzt die Filmbilder von Michael Ballhaus. Als Christina Paulhofer sich entschloss, Film zu studieren, war sie in München, «also konnte ich nur in Rom (Antonioni) oder Paris (Godard) studieren» und so ging sie nach – Paris.
Die Wechselwirkung von Bild und Enttäuschung, die sich im Werk dieser Filmemacher studieren lässt, prägt auch die Arbeiten von Christina Paulhofer: Jedes Drama ist die Reaktion auf eine Enttäuschung, die durch die Glorifizierung des geliebten Gegenübers entsteht. Diese Glorifizierung ist nötig, «damit man überhaupt existiert», so die Regisseurin, und dann, «nachdem man alles in den tollsten Bildern sieht», folgt der Absturz aus diesem Extrem, die Zerstörung des Ideals durch das Leben, von dem es eingeholt wird, worauf neuerlich die Glorifizierung beginnt, mit der man sich aus diesem Tief wieder emporzieht, und so fort. In dieser Wechselbeziehung zwischen Verklärung zum absoluten Idol und dessen brutaler Zerstörung ließen sich sowohl die meisten Filme von Rainer Werner Fassbinder beschreiben als auch die meisten Inszenierungen von Christina Paulhofer. Ihr Abschlussfilm an der Pariser Filmakademie hatte denn auch ein wegweisendes Sujet: Liebe und Luxus. Zwei wohlhabende und in ihren Beziehungen glückliche Paare unternehmen eine Reise nach San Remo. Im berühmten Casino schlägt die eine der beiden Frauen eine Wette vor: Wenn sie am Spieltisch gewinnt, geht sie gemeinsam mit dem anderen Paar ins Hotelzimmer und dort schlafen sie miteinander, während ihr Begleiter draußen bleibt. Die Wette gewinnt sie, der Abend verläuft entsprechend der Abmachung, und doch verlieren sie alle miteinander, die Paare zerbrechen, und die Liebe, die sich in dieser Prüfung verjüngen und neu entzünden sollte, wird zerstört. «Aus dem Zündeln», sagt die Regisseurin über die Heldin ihres ersten Films, den sie selber schrieb und inszenierte, «entsteht ein Ereignis, ein Drama.»
Sind die Dinge so groß, wie sie es sein müssten? Über der Probe, die dem Glück misstraut, bricht bei Christina Paulhofer in der Regel alles zusammen. So war die ewige Prüferin Lotte aus Botho Strauß Stück «Groß und klein» zu einem gewissen Teil sicher auch eine alter ego-Figur der Regisseurin, die Lotte anlässlich ihrer Inszenierung des Stückes 1999 am Bochumer Schauspielhaus auf dem Plakat nackt mit Lendenschurz, in Jesuspose abbilden ließ. Und so bekommt auch jene Bemerkung, die Paulhofer die Figur an der Wechselsprechanlage als Ausdruck ihrer seelischen Notwehr sagen ließ, die Dimension eines Leitmotivs: «Idol bleiben». Dieser Satz durchzieht als Motto das Werk jener Autoren, die sie bevorzugt inszeniert, und so verbindet in ihren Aufführungen der Stücke von Bernard-Marie Koltès, von Frank Wedekind, Moritz von Uslar, Sarah Kane oder Botho Strauß die unterschiedlichen Helden wohl auch immer Paulhofers Interesse am Lächeln des Siegers im Untergang. Ohne Verzweiflung keine Schönheit – die Glorifizierung, durch die Menschen und Verhältnisse überhöht und verschönt werden, ist die Kehrseite der Enttäuschung, mit der sich nicht leben lässt.
Christina Paulhofers Aufführungen sprechen in der Sprache der Mode, des Pop und der nouvelle vague und hinter all diesen glamourösen Formen und Gesichtern steckt ein Wille zur perfekten Oberfläche, weil nur hinter ihr das Verhängnis für Augenblicke gebannt scheint. Somit grüßt hinter Christina Paulhofers Inszenierungen von Glanz und Schönheit immer auch eine große Anstrengung, der eigenen Verzweiflung Herr zu werden. Ihre Heldinnen, von Lotte über Franziska bis Phädra, würden sich gerne gehen lassen, hässlich sein, ihre Trauer zeigen, aber man reißt sich sprichwörtlich zusammen und geht raus. Doch es ist nicht nur diese innere Disposition der Figuren, der Werke und auch der Regisseurin, die ihr den Zugriff auf die gestischen ready mades, die Posen und Verhaltensformen aus Kinofilmen, Musikvideos und der Modewelt so zwingend nahe legen, sondern auch eine künstlerische Strategie, die wohl fest davon überzeugt ist, dass man dem Menschen nie näher kommt als dort, wo er extrem «außer sich» ist.
Christina Paulhofers Theater hat in diesem Sinne einen Hang zur Megalomanie und ist aufs engste verbunden mit den Arbeiten ihres Bühnenbildners Alex Harb. Er baute die technischen Verwandlungswunderräume für ihre Inszenierung wie Frank Wedekinds «Franziska» oder Moritz von Uslars «Freunde 2» in Hannover und schuf dort einen versenkbaren Sprungturm nebst riesigem Bassin oder die weiße Revuetreppenlandschaft, auf der zu Beginn des Abends ein ziemlich großer Modellhubschrauber den Star aus dem Himmel des Pop auf seinen Villenhügel fliegt. Alex Harbs Räume spielen wie Schauspieler mit den Leihformen eines öffentlichen Pathos’ – sie zitieren große Setzungen und wirken dabei zunächst kalt, technisch und den Figuren überlegen. In der Aufführung von «Franziska» erschien diese ästhetische Kraftprotzerei seines Spiels mit Spurenelementen des Jugendstils, der Filmästhetik der «schwarzen Serie» und der Ästhetik von Revuen, Clublounges und amerikanischen Bungalows zum Teil so übermächtig, dass die Figuren darin die größte Mühe hatten, «privat» zu wirken. Dies ist der Effekt, auf den die Inszenierung der Räume lange vor der Inszenierung des Stückes und der Schauspieler abzielt: Die hellen, klinischen und abstrakten Räume kreieren jenen Wiederstand, den es braucht, um jene kleinen, dreckigen und reellen Lebensmomente zeigen zu können, die nur durch die Form, in der sie plötzlich erscheinen, sichtbar oder herzeigbar werden.
Und noch etwas drückt sich in dieser Strategie aus: ein tiefes Misstrauen gegen das, was man gemeinhin «Theater» nennt. Dieses Mißtrauen provoziert bei Paulhofer das Zündeln an den Verhältnisse, am Text genauso wie an der Verfassung der Schauspieler oder des Theaters als Institution. Aus Wissen muß ein Ereignis werden, das nicht die «Mitte» ist. Christina Paulhofer polarisiert, spaltet die Menschen um sich herum in konträre Lager, und es scheint so, als würde sie im Rahmen einer Produktion zwischen Kunst und Leben keinen Unterschied machen. Diesem Zündeln verdanken sich kunstsinnige Aufführungen auf der Suche nach dem wahren Gefühl, und wunderbar frische Spielfassungen alter Texte, so die «Franziska»-Bearbeitung von Thea Dorn, die Fassungen aus Euripides und Sarah Kanes «Phädra» oder von «Freunde 2» und «Lulu», die Moritz von Uslar schrieb.
Christina Paulhofers megalomanisches Theater setzt auf Kontraste: Kinder kontra Könner, Sehen kontra Verbergen, Glamour kontra Abgrund. Es ist geprägt vom Willen zur Vielfältigkeit der Formen: «Es gibt nicht eine Form, auch das Leben hat viele Formen», so die Regisseurin. Insofern sind ihre Aufführungen von einer extremen Palette unterschiedlichster Stile und Milieuverweise geprägt – darin ist sie der zeitgenössischen bildenden Kunst sehr verbunden, in der sich das Medium in seiner «Unnatürlichkeit» und Geschichte selbst reflektiert, um noch einmal zu originären, «authentischen» Wirkungen zu gelangen. Ihr kunstgeschichtliches Studium und ihre Ausbildung als Filmregisseurin kommen diesem Bewusstsein für die grundsätzliche Vorgeformtheit menschlicher Kommunikation dabei zugute. Christina Paulhofers Aufführung von «Franziska» führt dies vor als ein Theater der Zitate, der Selbststilisierungen, die Menschen so identisch mit sich machen, weil sie so wohltuend bei anderen klauen dürfen - aus dem großen Fundus der populären Images, den Konventionen des Benimms, der Geschichte der Kunst. Das Einmalige, Unverwechselbare, Originale dieser Figuren ist das Krisenprodukt einer Begegnung von Design und professionell stimuliertem Dilettantismus: Ein kleiner Riß durchzieht plötzlich das Gekonnte, und durch ihn bricht das Leben in die kalten Räume ein wie ein heißes, hungriges Tier.
Das Authentische erweist sich in Christina Paulhofers Arbeiten einmal mehr als Form, die auf originäre Weise verbirgt. Das Erkennen des Authentischen ist hier nicht der Einblick ins greifbar Innerste, sondern der Ausblick aufs Fremde. Die Auffassung, man müsse nur den unverstellten Kern der Sache selbst zum Vorschein bringen, weicht in Paulhofers Inszenierungen eher der Suche nach den diversen Formen der Verstellungen. So überzeugt der Ansatz der Regisseurin, da er versucht, Figuren auf der Bühne nicht «lügen» zu lassen, eben weil sie so viele Leihformen des Unpersönlichen benutzen. Darüber hinaus reflektiert die Regisseurin in ihrer Aufführung die Betrachtersituation des Publikums und zwingt die Zuschauer, punktuell eine Erfahrung mit diesem Zuschauen zu machen. Der Zuschauer als Konsument wird mit dem Medium der Wahrnehmung selbst konfrontiert, und so entstehen in ihren Aufführungen Momente, wo das Herzeigen des Geschehens nicht mehr «natürlich» ist. In ihrer Hannoverschen Aufführung von «Franziska» haben die Schauspieler die bodentiefen Fenster des Bungalows geschlossen, wenn sie über wichtige Dinge gesprochen haben, wodurch sie nur noch von ferne hörbar wurden. Und während Franziska und Veit Kunz miteinander schlafen und die Göttin Aphrodite erscheint, blitzt plötzlich eine Batterie extrem heller Scheinwerfer direkt ins Publikum, so dass der Zuschauer bei weiterhin tagheller Beleuchtung dennoch nichts erkennen kann: So ist das wahrscheinlich, wenn man einem Geheimnis begegnet.
Christina Paulhofer schaut vom Kino aufs Leben: Hier überleben Typen und Genres, werden die Gesten der Männlichkeit und des Weiblichen immer wieder neu erfunden, hier gibt es Helden und im Kinolicht überleben auch die großen Gefühle - diese Kommunion aus Tränen und Lachen. Der Regisseurin wird nachgesagt, sie habe den gleichen Geschmack wie schwule Männer: Glamour, Melodram, Musik. Und wahrscheinlich befähigt sie das zur großen Geste, zu «Poptheater». Geht es doch in ihren Inszenierungen darum, das Reich des Dramas mit ihren Schauspielern, ja, mit allen, die zu dieser Reise zählen, tatsächlich zu betreten. Wer glaubt, man sei dieser Begegnung mit tragischen Stoffen umstandslos gewachsen, wird sie eher verpassen. Christina Paulhofer zählt nicht zu jenem Regie-Typus, der von dem Drama verschont bliebe, das er inszeniert. Ihre Aufführungen wirken so, als seien sie nicht durch Instruktionen entstanden. Darstellungsvirtuosen, die zur Ausübung dieser oder jener Kunstfertigkeit angestellt werden, interessieren sie kaum. Ohne Drama, ohne Gefahr, dies scheinen selbst ihre gescheiterten Aufführungen noch zu beweisen, gibt es auch kein Theater, keine Erfahrung, kein Erlebnis. Jede ihrer Inszenierungen enthält Momente des Risikos. Und eben diese Geste der Freiheit, die auch jene Möglichkeit umschließt, an sich selbst zu verzweifeln, ist es, die es Christina Paulhofer schwer macht zu arbeiten, und dann auch wieder leicht.