«Das prophetische Werk des ‹guten Amerika›»
Zu Robert Wilsons «Einstein on the Beach»
Bert Rebhandl: In den 1980er-Jahren konnte man in vielen Plattensammlungen die Vier-LP-Box von «Einstein on the Beach» sehen. Wo kamen Sie zum ersten Mal in Kontakt mit «Einstein on the Beach»?
Thomas Oberender: Auf der Bühne habe ich es erst kürzlich zum ersten Mal in Paris gesehen. Der erste Kontakt ging über die Musik. Die «Knee Plays» waren einmal meine Lieblingsstücke von Philipp Glass.
Bert Rebhandl: Einen vergleichbaren Fall gibt es im Musiktheater eigentlich kaum: «Einstein on the Beach» wird im Grunde bis heute von seinen Urhebern verwaltet.
Thomas Oberender: Dabei ist es eine der wenigen Opern in der Minimal Music, die ein Publikumserfolg wurde. Fünf Mal hat Wilson inzwischen Wiederaufnahmen dieser frühen Arbeit inszeniert. Man kann es vielleicht vergleichen mit der Compagnie von Pina Bausch. Die Choreografien bleiben künstlerisches Eigentum dieser Truppe. Einstein on the Beach ist eine so eindrucksvolle Kreation durch ihre Erfinder oder Autoren geworden, dass es bislang keine andere, maßgebliche Inszenierung gibt.
Bert Rebhandl: Die Musik von Glass war eine Weile so populär, dass sie latent unter Kitschverdacht geriet.
Thomas Oberender: Ich finde andere Kompositionen von ihm vielleicht sogar noch eingänger. Diese ist nicht ranschmeißerisch. Ich mag zum Beispiel auch Glass’ Klavierkompositionen, «Circles», es sind strenge, fast tranceerzeugende Werke, ähnlich wie die Songs for «Liquid Days». «Einstein on the Beach» war vielleicht das Durchbruchswerk, da hat Philipp Glass eine große Form gefunden.
Bert Rebhandl: Könnte man von einem Gesamtkunstwerk sprechen?
Thomas Oberender: In einem gewissen Sinn vielleicht noch berechtigter als bei Wagner, denn hier wird ja auch der Tanz einbezogen. Die Parallele liegt in der totalen polysensorischen Bearbeitung des Publikums. Die Autonomie der Elemente ist das qualitativ Neue an Einstein on the Beach – Text, Musik und Bewegung – jede dieser Werkebenen wurde parallel und unabhängig von der anderen, aber sozusagen im gleichen Timecode geschaffen. Aber die Ebenen behielten ihre Autonomie und ihre spezifischen Hintergründe. Die beteiligte Choreografin Lucinda Childs etwa hat bei Merce Cunningham studiert. Philip Glass und Robert Wilson haben also voneinander unabhängig, zwar in enger Zusammenarbeit, aber doch jeder für sich, eine Kreation erfunden, die Wagner diametral entgegensteht: Das Ziel ihrer Arbeit war es, keine Handlung zu illustrieren, sondern eine Reihe von Elementen in immer wieder anderen Anordnungen auszuprobieren. Die Musik ist reiner Klang, keine Stimmungsillustration. Von Christopher Knowles kam die abstrakte Textpartitur. Und all diese Künstler vereinen ihre Arbeit in einer vielgestaltigen Kreation, die die Eigengesetzlichkeit der Elemente feiert und aus ihrem Zusammenspiel eine ganz neue Art von Oper und Spiel geschaffen hat.
Bert Rebhandl: Robert Rauschenberg und John Cage werden als Bezugsfiguren genannt. Das alles verweist eher auf Hochmoderne als auf frühe Postmoderne.
Thomas Oberender: Das geschah zu einer Zeit, da Amerika die Weltmacht Nummer eins und New York der Nabel der Welt war. Viele Praktiken, die in diesem Werk zur Anwendung kommen, sind in den frühen 1960ern ausprobiert worden. Die Entkoppelung des Mediums von den Aufträgen, etwas zu «nachzubilden» oder zu repräsentieren, das alles trat damals aus einer der Laborsituation einer New Yorker Boheme-Szene seinen langsamen aber unaufhaltsamen Siegeszug durch die Spielstätten der modernen Kunst in aller Welt an. Einstein on the Beach ist für mich ein Werk des guten Amerika. Ein prophetisches Werk. Man spricht ja auch vom ersten Kunstwerk des digitalen Zeitalters.
Bert Rebhandl: Worin bestünde diese Digitalität?
Thomas Oberender: Minimal Music lebt sehr stark von der Idee eines Codes oder ablaufenden Programms, und das überträgt sich hier auf das gesamte Werk. Die Geschichte unserer Verwurzelung in Traditionen wird beiseitegewischt und ersetzt durch etwas, das zunächst wie ein Code erklärungslos funktioniert und eine Stunde Null setzt. Es geht plötzlich um Strukturen, um das Programmieren von Geschehnissen. Es geht darum, in eine Konstruktion einzutreten, die das Spielwerk von Zeremonien ist. Das Zeremoniell von Musik, Bild, Bewegung hält sich durch die Zeit durch und ist dabei vollkommen demokratisch, jeder kann es verstehen, es braucht keine Vorbildung, und zugleich ist das Geschehen wie ein Computerprogramm als regelgesteuerter Prozess vollkommen determiniert und scheinbar unpsychologisch.
Bert Rebhandl: Dem steht die Aufführungspraxis entgegen, die von der Aura der Originalprotagonisten lebt.
Thomas Oberender: Das ist das Glückliche an der Präsentation, dass sich das noch einmal herstellen ließ. Lucinda Childs arbeitet gerade auf der Probebühne, während wir hier sprechen. Von der Dimension her ist die Aufführung ein Festival für sich.