«Das Theater – ein Duell. Das Spiel – eine Situation»
Über das erste Theaterstück von Tim Etchells/Forced Entertainment, 1997
«Quizoola!» ist kein Stück, das sich einem Regisseur empfehlen ließe, es sei denn, er spielt mit, denn seine Idee oder zentralie Intention ist es im Grunde nicht inszeniert zu werden. Tim Etchells hat eher ein Spiel in der Art von TRIVIAL PERSUIT erfunden, oder besser ein Artist Game. Es ist ein Text für Mitspieler, und die siebenundzwanzig Seiten mit nichts als Fragen und den Regeln, die er zu ihrer Beantwortung setzt, schaffen zunächst vor allem eines – eine Situation. Sie führt zwei Darsteller an die Wurzeln der Gattung Drama, denn die Situation schafft einen Konflikt, ein Gefälle zwischen Fragendem und Antwortendem, und sie führt zu den verborgensten Seiten ihres Charakters, denn die Antworten sind in diesem Text nicht enthalten – sie werden improviesiert. Die Verabredung ist denkbar einfach: Zwei Darsteller in der Situation des Duells – der eine hat einen fast endlosen Bogen mit Fragen vor sich, der andere sucht nach Antwort. Vermittels einer knappen Formel können beide Darsteller jederzeit ihre Rolle tauschen, aus dem Fragenden wird der Antwortgeber und vice versa. Der Bereich, dem die Fragen entstammen, oszilliert zwischen Intimität und Sachlichkeit, es sind Wissensfragen ebenso wie Gewissensfragen – der Art nach verwandt den Fragen einer Spielshow, eines Polizeiverhörs oder des vertraulichen Gesprächs. Nur die Fragen stehen fest und die Verabredung, sie zu beantworten. Hinzu kommen ein paar Tricks, die der Autor den Spielern mit auf den Weg gibt, um die Routinen zu durchbrechen, die sich bei einer über viele Stunden fortgesetzten Improvisation schnell einstellen – dem begegnen die Spieler etwa dadurch, dass sie die Fragen einfach wiederholen oder immer wieder neu betonen können. Beide Figuren, der Fragende und der Antwortende, werden sich dabei unvermeidlich selbst inszenieren und so lange als möglich versuchen, sich durch ihr Spiel zu schützen.
Was das angelsächsische Drama traditionell auszeichnet – die gut gebaute Struktur, seine narrative Klarheit, das wortlose Erzählen durch strukturelle Verläufe, die realistische Detailfülle - all das läßt sich auch von Tim Etchells Text «Quizoola!» behaupten. Und doch ist es ein ganz untypisches Stück aus England, wenn man die Erfolgsstücke des Royal Court oder Londoner Westend-Theaters zum Vorbild nimmt. Tim Etchells läß alles weg, was sonst noch zu den genannten Qualitäten hinzu kommt: Es gibt bei ihm im konventionellen Sinne keine Handlung, keine «Figuren», keinen «Konflikt» – er hat weniger ein literarisches Drama geschrieben, als eine dramatische Ordnung geschaffen – eine spielerische Struktur. Sein Text steht in der experimentellen Tradition von Samuel Beckett, dem Living Theatre oder, um ein Beispiel aus dem deutschen Sprachraum zu nennen, in der Nähe der frühesten Stücke von Peter Handke, der ähnlich hermetische Spielwelten schuf.
«Quizoola!» ist ein gut gemachtes Stück und doch macht es alles anders – keine Figuren, nur zwei Rollen; kein Text, nur Fragen; keine Regieanweisungen, nur Spielregeln. «Quizoola!» braucht für seine Aufführung, oder besser – sein Stattfinden kein Theater, sondern, wie die Mitglieder der Performancegruppe Forced Entertainment, deren Autor, wenn man dieses Wort im Zusammenhang solch kollektiver Schaffensprozesse hier unbedacht verwenden mag, am liebsten nur eine Manege, einen Keller. Tim Etchells empfiehlt tellurische Räume, Gewölbe, Umkleideräume, denn sie verstärken die klaustrophobische Grundsituation seines Textes und dessen Versuch, an das hinter dem Gespielten meist Verborgene heranzukommen. Will man das? Soll man das? «Quizoola!» jedenfalls ist kein Theaterstück, das eine Realität «außerhalb» des Theaters wie man so sagt «auf die Bühne bringt», vielmehr schafft es auf der Bühne eine eigene Realität und das heißt, dass die Performer selbst als reale Menschen zu erleben sind.
Tim Etchells spricht im Vorwort seines Textes abwechselnd von «Stück» (piece) oder «Spiel» (game). Als Stück ist es tatsächlich das, was der Wortsinn auch im Deutschen nahelegt - das Stück als Bruchteil eines Ganzen. Das «Ganze» ist in diesem Text aber lediglich die Summe des Vielen, der vielen Sprachen, Räume, Dimensionen, die in diesem Spiel miteinander in Berührung kommen. Das Stück von Tim Etchells ist eine sorgsam ausgearbeitete Anleitung zur Errichtung einer hermetischen Welt. Dafür gibt es, wie bei jedem Spiel, eine lange Folge von Instruktionen, die alle Aspekte seiner Ausübung betreffen. Etchells Stück hat, gerade aufgrund seiner Halbform, seiner unkonventionellen Offenheit, die sowohl aus der Lücke im Text – nämlich auf Seiten des Antwortgebers – wie auch durch das Fehlen herkömmlicher Charaktere entsteht, das Unvorhersehbare und Ereignishafte in die festgelegte Struktur aufgenommen. Die Leerstelle in der Struktur wurde ihr atmender, lebendiger Teil.
«Quizoola!» führt sowohl das Theater als Institution wie auch die Darsteller an ihre Grenzen – hier gibt es keine «Besetzung» im traditionellen Sinne, die Darsteller «sind» die Darsteller, und das Stück ist auch nicht zu Ende, wenn sie am Ende des Textes angelangt sind, weil sie dann einfach wieder von vorne anfangen können, vielmehr ist es zu Ende, wenn sie es beenden. Sie spielen nichts «nach», keine Souflöse kann helfen. Das Stück läßt sich kaum auf herkömmliche Weise aufführen, es legt vielmehr nahe in jene Situation, die es schafft, von Seiten der Spieler einzutreten. Hier wird nichts nichts repräsentiert, sondern ein ums andere Mal neu ein Form von Präsenz geschaffen, die nur spielend entstehen kann, im Agon, zwischen Menschen. Das ist auch im klassichen Thaterstück der Fall, diese seltsame, nur im Theater zu findende Möglichkeit, handelnd in eine andere, vorgeschriebene Welt einzutreten und sie quasi Augenblicklich mit dem eigenen Verhalten zu füllen. In «Quizoola!» allerdings hat diese Struktur eine Lücke - die Antworten fehlen, der Spieler muss sie mit seinen Antworten, seinen wahren Aussagen oder Lügen füllen, und zwar über viele Stunden hinweg. In diesem aktionistischen Sinne ist «Quizoola!» eine Tortur, ein Spiel, wie auch die Jagd ein Spiel ist. Als ein solches Spiel navigiert «Quizoola!» die Spieler unvermeidlich in eine selten betretene Zone der Ängste und Grenzbereiche: Angelegt ist es als Puzzle urbaner und provisorischer Welterfahrungen – es offenbart dabei keine bessere Welt als die, die in uns, also unseren performenden Stellvertretern selbst liegt und sich durch ihre Antworten aus ‘uns’ schafft. Obwohl «Quizoola!» in diesem Sinne transzendenzlos ist, ist es ein metaphysisches Spiel, denn der Text zwingt, Antworten zu geben - zu antworten und an das Beantwortbare der Fragen zu glauben, was immer wieder, neben den vielen Momenten des Witzes und Humors, ein Stück Hoffnung schafft – wir finden Antwort.
Tim Etchells Spielanleitung ist zu großen Teilen auch eine Anleitung zur Grausamkeit und eine Ermunterung, sich inneren und äußeren Kämpfen auszusetzen, wie sie die Spielsituation provoziert. Was in den großen Dramen Subtext war – die Frage: »Wer führt wen?” –, hier wird diese Frage zum Kennzeichen einer Situation, in der sie unbeantwortbar geworden ist. Die Macht, so zeigt dieses Stück, ist nichts endgültiges oder absolutes, nichts Ständiges, keine Größe, sondern ein Prozeß der offen bleibt. Kaum ein Text wurde daher so wenig für die Bühne und so sehr für Darsteller erfunden wie «Quizoola!». Die ‘Macht’ erhält hier zwar, anders als in den alten Königsrollen, kein Gesicht, dafür aber die Darsteller selbst, die sich bei diesem Spiel hinter keiner Figur verbergen können. Was bedeutet es für die Institution des Theaters, wenn sich in seinen Räumen Figuren wie die des Fragestellers und Antwortgebers nur noch so wenig Raum zum Rückzug in die «Rolle» haben, denn ihre Routine wird, so die Spieler den Text wirklich befolgen, von ihnen selbst ständig wieder zerstört – dem dienen die Brüche im Ablauf genauso wie die penetrierenden Wiederholungen einzelner Fragen. Aber nicht nur die Darsteller werden durch die Spielregeln von «Quizoola!» in eine jederzeit veränderbare Situation gebracht, auch die Zuschauer. Es ist gut möglich, diese Performance über die Dauer von Stunden mitzuverfolgen – wie bei jeder Tortur ist die Dauer, die Last und Vergleichgültigung der Zeit ein wesentliches Element. Man kann sie aber auch nach Minuten wieder verlassen und bleibt als Betrachter dennoch affiziert vom Prinzip, erregt von der Idee dessen, was sich da unter dem Regime strenger Regeln an schier grenzenloser, und doch in eine Situation gebannter Verhaltensfreiheit zeigt. «Quizoola!» ist im Brechtischen Lehrstücksinne ein Stück für die Spieler selbst, allerdings wirkt dieses Stück von Forced Entertainment einerseits radikaler, andererseits menschenfreundlicher, denn das Spiel ist hier nicht mehr das Vehikel einer ideologischen Erkenntnis, vielmehr ist es eine Art Passage, die uns tiefer in uns und unsere Gegenwart hinein führt, mit Antworten, die alle ‘Systeme’ sprengen.
Programmheft, DSE Theater Stuttgart, 2005