Erjagte Augenblicke. Wir schenken Ihnen Zeit.
Gedanken über Fotografie und Zeit. Gespräch mit Michael Köhler.
Michael Köhler: «Die Zeit ist ein sonderbares Ding, und wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie: Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen, in Gesichtern rieselt sie, im Spiegel rieselt sie, in meinem Schläfen fließt sie, und zwischen mir und dir fließt sie wieder – lautlos wie eine Sanduhr.» Hugo von Hofmannsthal dichtete dies im «Rosenkavalier» vor über 100 Jahren. Über Zeit und Dauer sprechen wir hier in dieser Neujahrsserie ein wenig mit Künstlern oder Theatermachern und auch Intellektuellen, und mit dem 45-jährigen Dramaturgen und Autor Thomas Oberender – er war Schauspieldirektor in Salzburg bei den Festspielen, ist jetzt neuer Chef der Berliner Festspiele – habe ich auch über Zeit und Dauer gesprochen, und ihn nach einer Art Hobby zuerst gefragt. Ist eines der erfolgreichsten technischen Medien, nämlich die Fotografie, eines Ihrer Hobbys? Stimmt es, dass Sie Fotografien des 19. Jahrhunderts sammeln?
TO: Ich kaufe gelegentlich Bilder aus dem 19. Jahrhundert, aber ohne das sonderlich systematisch zu betreiben.
MK: Was reizt Sie daran? Es ist ja eines der erfolgreichsten technischen Medien und eines der bedeutsamsten nach der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg, weil es so etwas Abgründiges verspricht wie Dauer.
TO: Ja, es ist auch das Trivialste. Wir können uns heute gar nicht mehr vorstellen, welche pferdewagengroßen Apparaturen zu Beginn der Fotografie durch die Landschaft bewegt wurden, um Naturaufnahmen zu machen oder architektonische Aufnahmen. Aber die Geschichte der Fotografie ist auch eine der Demokratisierung dieser Technologie. Die riesige Mehrzahl aller Aufnahmen entsteht ja, ohne dass irgendjemand Kunst machen möchte. Das hat etwas mit diesem Aufbewahren, mit diesem Festhalten zu tun - einer Zeit, die sozusagen alles, was da im Moment erblickt wird, sofort zur Vergangenheit macht. Und das ist irgendwo auch magisch.
MK: Sie ist unbestechlich, sie ist vorurteilsfrei – manche haben in der Frühzeit auch gesagt, sie sei seelenlos, weil sie so ein technisches Medium ist. «Die Seele in der Silberschicht» heißt ein berühmtes Buch der Fototheorie. Ein Foto enthält was, was man später vielleicht mal vermisst. Ein Foto ist immer auch ein Stück Vermisstenanzeige und hat deshalb was Gespenstisches. Wir kennen das, wenn wir Bilder sehen von uns selber als Kindern, auf so Schwarz-Weiß-Fotos, die noch so einen Wellenrand haben, so aus den 60ern vielleicht, oder von Angehörigen, die schon nicht mehr leben. Will sagen, das Foto ist noch dann, wenn wir nicht mehr sind, und es ist auch schon dann, wenn wir noch nicht sind, also Ultraschallfotos sind so das andere Ende der Kette. Wir haben ganz verlernt, dass das auch was Gespenstisches hat, dieses Medium der Aufbewahrung, ne?
TO: Ja, ja. Es gibt Erinnerungen an die Reaktionen der sogenannten Naturvölker, die am fotografischen Bild die Beraubung ihrer Seele durch die Aufnahme befürchten, und das Wort «aufnehmen» ist ja von einer unglaublich schönen Plastizität. Es ist, als würde man der Wirklichkeit ein Denkmal im Abbild errichten, das die Qualitäten des Originals nahezu unverfälscht in die Zeitlosigkeit überführt, nicht? Das ist eine Suggestion, die von der Fotografie ausgeht. Der Maler – das fand ich immer faszinierend in der Beschäftigung mit Malerei – ist letztlich für uns als Bildbetrachter spürbar, wenn wir uns ungefähr in Armlänge vor das Gemälde stellen, und das Bild dann so sehen, wie er es im Malen gesehen hat, beim Akt des Malens. Man kann also in die Wahrnehmungssituation des Schöpfers eines Gemäldes eintreten - wir sehen es auf Armeslänge so wie er, und teilen exakt diese Situation, wenn wir wollen, beim Betrachten. Und in dieser Situation erschließt sich der Blick und die Technik des Malers, also wie er mit der Farbe, mit der Perspektive, mit den Kontrasten umgeht. Man kann tatsächlich seine Position einnehmen. Das kann man beim Foto nicht. Beim Foto haben Sie keine Chance auf eine unmittelbare Begegnung mit der Situation des Fotografen - obwohl das fotografische Bild so unmittelbar wirkt, zeigt es uns vom Fotografen viel weniger als die Leinwand eines Malers vom Maler.
MK: Ich greife dieses Wortfeld jetzt der Kunst und Malerei gerne auf aus zwei Gründen. Erstens: Die frühen Fotografen waren – das ist auch in Vergessenheit geraten – alles ursprünglich mal Dekorationsmaler. Also der Daguerre, der Marais, der Ottomar von Anschütz – alles gelernte Dekorationsmaler, und die fangen dann an, die Reihenfotografie und so was zu entwickeln. Ich spreche mit Thomas Oberender, langjähriger Chef der Salzburger Festspiele, jetzt Chef der Berliner Festspiele, also einem Kunst- und Theatermann, wenn ich so salopp sagen darf. Weil wir bei unserem eigenen Anfang irgendwie nicht selber dabei sind, müssen wir davon erzählen. Das ist so die Idee des Mythos, also Ursprungserzählung, Geburt, Anfangserzählung. Ist Kunst, und damit auch das, was Sie machen, Theater, nicht auch so eine Art nachträglicher Fotografie von kulturellen Zeitabschnitten, also auch eine Erzählungsform?
TO: Es ist nicht möglich, mit Kunst nichts zu sagen, ja? Selbst wenn etwas als nichtssagend empfunden wird, können wir bekanntlich nicht nicht kommunizieren. Und das heißt, wir werden – ob wir eine Fotografie betrachten oder eine Aufführung – wir werden immer mit einer Form von Botschaft, Aussage, Erzählung konfrontiert, und schreiben diese in unserer eigenen Wahrnehmung weiter und fort. Was mich so an der Fotografie fasziniert, und das trifft in einem anderen Sinne auch für das Theater zu, ist ihre vage Zeitlosigkeit. Ein großes Kunstwerk funktioniert über die eigene Epoche hinaus auch noch Hunderte von Jahren später. Ich …
MK: Darum gucken wir uns Shakespeare und die antiken Dramatiker an.
TO: Zum Beispiel, oder schauen Sie sich die antiken Plastiken an. Und gleichzeitig, wenn wir jetzt an die Fotografie denken, ist es natürlich ein absolut zeitliches Medium, nicht? Es geht immer um die «Aufnahme», um den Schnappschuss, um diesen erjagten Augenblick. Und diese verrückte Ambivalenz, dass in dieser hochverdichteten Augenblickhaftigkeit dann doch ein Inbild entstehen kann, etwas Bleibendes, das neben der Zeit in seiner eigenen Zeit oder in Form einer ganz anderen Zeitrechnung existiert, das ist im Fall der Fotografie, die ja das schnellste Medium ist, etwas sehr Faszinierendes und im Übrigen dann auch verwandt mit dem Theater, nicht? Das Theater ist ja sozusagen auch eine Präsenzkunst. Sie werden Aufführungen eben immer nur im Hier und Heute, nur im Augenblick verfertigt erleben – so alt das Stück auch ist, Sie können es nur im Jetzt erleben und auch darin offenbart sich ein tief im Medium selbst begründetes, ganz eigentümliches Verhältnis zur Zeit.
MK: Der erjagte Augenblick bringt mich zu einer Formulierung, um ein Gottfried-Benn-Wort spontan abzuwandeln: Wer Theater macht, ist nicht tot.
TO: Ja, aber er spielt sozusagen dauernd Tote, das ist das Verrückte. Wer Theater macht, hat sich entschieden – zumindest in der traditionellen Form von Interpretentheater –, dass er den Leichnam der literarischen Figur mit seiner Stimme und seinem Körper belebt. Im Grunde sind dramatische Figuren, also solche, die nicht still gelesen, sondern aufgeführt werden sollen, eine der größten Erfindungen des menschlichen Geistes. Wie das Rad oder Alphabet. Wie kann so etwas Verrücktes wie die Figur »Hamlet» überhaupt über Jahrhunderte etwas von der Melancholie des Lebens und einer existenziellen Tragik vermitteln? Gretchen oder Faust – wir leben, wir erkennen uns in diesen herbeibeschworenen, diesen auch irgendwo festgehaltenen, aufgenommen großen Charakteren, und wer sie spielt, zeigt im Grunde – das ist vielleicht die Wurzel des Theaters –, dass die Toten wiederkehren. Wir kennen die großen Sterbeszenen von Gretchen und Faust. Und gleichzeitig ist es so, dass nur im Theater nicht wirklich gestorben wird.
MK: Sagt Thomas Oberender, Dramaturg, Autor, Chef der Berliner Festspiele in unserer Serie «Wir schenken Ihnen Zeit» über erjagte Augenblicke, Dauer und lebende Leichen auf der Bühne.